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5. Ein Fährmann in Geerenfurt
ОглавлениеWieder stieg Georg Milden bei Ingrid Hansson in der Goldenen Fackel ab, wo sein Zimmer bereits auf ihn wartete. Eigentlich hatte er erwartet, schnell einzuschlafen und bis zum Morgen durchzuschlafen. Aber der Schlaf wollte sich nicht einfinden. Zu viele Gedanken gingen in seinem Kopf umher. Es waren nicht eigentlich Nervosität oder gar dunkle Vorahnungen, es war vielmehr die Erregung, einen Schritt in ein völlig neues Leben zu wagen.
Bis jetzt waren die Tage in Sequitanien eigentlich so etwas wie ein unerwarteter Urlaub gewesen, aber dieser ging jetzt seinem Ende entgegen. Georg Milden würde sein Leben wieder selber in die Hand nehmen und war aufgeregt. Das letzte Mal hatte er so eine Aufregung gefühlt, als er seinen gegenwärtigen Job in Köln drüben in Anderland angetreten hatte. (Gegenwärtig? - Hatte er die Stelle überhaupt noch?) Mit großen Erwartungen und einiger Unsicherheit war er damals gestartet. Am Anfang hatte er sich dort auch wohl gefühlt, aber später hatte er nur noch das Gefühl gehabt, in Treibsand zu joggen. So sehr er sich auch angestrengt hatte, er kam kaum vorwärts und versank immer tiefer im Alltagsstress. Jetzt hatte er mit einem Mal ganz unerwartet eine neue Chance erhalten, und die wollte er auch nutzen.
Am nächsten Tag informierte er Ingrid Hansson von seiner Absicht, bald abzureisen. Sie war nicht besonders überrascht, schließlich war er nicht der erste Anderländer, der durch Wassenpol nach Sequitanien gekommen war. Aber etwas traurig schien sie schon zu sein. Zunächst waren aber noch einige Vorbereitungen zu tätigen. Georg Milders erbat von Lord Firrenbrock noch einmal die Erlaubnis, für einen Tag in der Mine zu arbeiten, um auch wirklich genug Silber für eine längere Reise in der Tasche zu haben. Diese Erlaubnis wurde selbstverständlich gewährt.
Er kaufte auch noch eine Garnitur Kleidung beim Schneider. Und abends in der Gaststube geizten seine neuen Freunde nicht mit allen möglichen guten oder zumindest gut gemeinten Ratschlägen. Seine erste Station würde Geerenfurt sein, die Hauptstadt der Provinz. Von Ingrid Hansson erfuhr er, dass dort ein Schwede namens Thorwald als Waffenschmied arbeitete.
Außerdem arrangierte Ingrid Hansson für ihn eine Mitfahrgelegenheit auf einem Transport nach Geerenfurt. Ein befreundeter Fuhrmann brachte eine Fuhre Leder in die Provinzhauptstadt. Die Reise würde drei Tage dauern, und er war gerne bereit, Georg Milden mitzunehmen. Und so brach dieser dann vier Tage nach seiner Rückkehr aus dem Deimon-Wald auf, um sich eine neue Welt zu erschließen. Der Abschied von Ingrid Hansson war nicht ganz einfach, denn sie hatte ihn in diesen ersten Tagen unter ihre Fittiche genommen und ihm die Eingewöhnung in Sequitanien erheblich erleichtert.
Am ersten Tag fuhren sie in Richtung Süden bis Netstad, einer kleinen Stadt am Fuße der Sarkens-Berge, Jenseits dieser Berge lag das Furbar-Tal, das zum Großen Westlichen Ozean hinführte. Netstad besaß tatsächlich eine Stadtmauer, auch wenn der Fuhrmann nicht genau sagen konnte, warum das so war. Es war nun einmal so, dass Städte eine Mauer hatten.
Es war Nachmittag, als sie die Stadt erreichten, und am nächsten Morgen wollten sie schon wieder früh aufbrechen. Dies war die erste Nacht, die Georg Milden in einem Haus verbrachte, das nicht von Anderländern geführt wurde. Hier wurde er mit voller Wucht mit der sequitanischen Küche konfrontiert, was kein uneingeschränktes Vergnügen war. (Zurtenfleisch in saurer Gemmelmilch mochte eine sequitanische Delikatesse sein, doch für anderländische Zungen war dieses Gericht eher gewöhnungsbedürftig.) Am nächsten Tag ging die Reise weiter. Aber wenn Georg Milden erwartet hatte, dass die Sarkens-Berge genauso wild sein würden wie die Deimon-Berge, so wurde er enttäuscht.
Die Berge waren eigentlich nur sanfte Hügel und auch nicht flächendeckend bewaldet. Immer wieder sahen die Reisenden Höfe und Weiden mit Gemmel und Zurten. Abends erreichten sie ein kleines Dorf, das zwischen zwei niedrigen Hügelketten lag. Dort verbrachten sie eine weitere Nacht in einem sequitanischen Gasthaus.
Georg Milden fühlte sich dort ziemlich verloren. Weit und breit war er der einzige Anderländer unter Sequitaniern, die ihn nicht kannten und sich auch nicht weiter um ihn kümmerten. Der Fuhrmann war geduldig und rücksichtsvoll und beantwortete alle Fragen, die sein Fahrgast hatte, so gut er konnte. Aber für auch ihn war so eine lange Fahrt anstrengend, und morgens und abends benötigten die Sassols seine Aufmerksamkeit. Für seinen Gast blieb da abends nicht mehr so viel Zeit.
Am Mittag des dritten Tages verließen sie die Sarkens-Berge und sahen den Furbar, der schon hier an seinem Oberlauf ein stattlicher Fluss war. Auf der anderen Seite des Furbars erhoben sich die Höhenzüge des Jonos-Gebirges, das weit beeindruckender war als die Sarkos-Berge. Das Flusstal war ziemlich dicht besiedelt und Sassol-Karren, schwer beladen, waren auf der Straße in beiden Richtungen unterwegs. Auf dem Fluss sah man Kähne und Flöße. Dieser Teil Sequitaniens mochte nicht so hektisch sein wie das Köln des 21. Jahrhunderts, aber verglichen mit der Ruhe und Gelassenheit in Wassenpol war hier doch schon eine Menge los.
Am späten Nachmittag trafen sie an der Brücke ein, die über den Furbar nach Geerenfurt hineinführte. Der Fuhrmann, dem das Unbehagen seines Fahrgastes in den sequitanischen Herbergen am Weg nicht verborgen geblieben war, empfahl ihm, im 'Flinken Hasen' abzusteigen, das von einem Anderländer geleitet wurde. Georg Milden stimmte dem Vorschlag erleichtert zu. Und es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis sie vor der Tür der Herberge anhielten, wo er das Bronzeschild mit einem rennenden Hasen sah. Da dämmerte es ihm, dass ein Hase den Sequitaniern nicht weniger fremdartig und seltsam erscheinen musste, als es ein Gemmel oder ein Sassol für ihn war. Und der Flinke Hase erwies sich dann auch als so etwas wie ein 'anderländisches Spezialitätenlokal'.
Das Haus lag am Furbar, und der Wirt gab Georg Milden ein Zimmer mit Blick auf den Fluss. Der Besitzer des Gasthauses nannte sich Frederico und kam aus der Schweiz. Den Nachnamen erfuhr Georg Milden nicht an dem Tag seiner Ankunft und auch nicht an den Folgetagen. Frederico ließ durchblicken, dass er ein großes Hotel in der Schweiz gemanagt hatte. Im Laufe seines Aufenthalts entstand bei Georg Milden aber auch der Eindruck, dass Frederico in der Schweiz möglicherweise keine ganz reine Weste gehabt haben mochte.
Aber mit dem Gasthaus hatte der Reisende es jedenfalls gut getroffen. Die Zimmer und überhaupt das ganze Haus waren reinlich, ganz so wie man es von einem Schweizer Gasthof erwartete. Und Frederico hatte seinem Koch tatsächlich beigebracht, aus Sagos-Knollen ein anständiges Rösti herzustellen. Und das Raclette aus Gemmelkäse war auch nicht schlecht.
An jenem ersten Tag unternahm Georg Milden, nachdem er sein Zimmer bezogen hatte, noch einen Spaziergang durch die Stadt. Im Vergleich zu Köln war Geerenfurt nun wirklich keine besonders beeindruckende Stadt, zumal es auch hier keine Anzeichen von moderner Technik gab. Die Straßen waren gepflastert, einige waren breit genug für die Sassol-Wagen, andere waren enge, verwinkelte Gassen. Die Häuser waren immerhin zwei- oder dreistöckig. Verglichen mit Wassenpol war Geerenfurt eine Metropole.
Die Stadt lag auf einer Insel, ein schmalerer Flussarm umschloss die Innenstadt von Geerenfurt auf der anderen Seite. Jenseits dieses Flussarms erhob sich ein Hang, an dem auf einer Anhöhe noch einige Häuser standen. Dahinter erstreckte sich ein dichter Wald, dessen Ausläufer bis ans obere Ende der Stadt reichten. Aus dem Wald ragten steile Felszinnen heraus.
Der andere Flussarm war zwar schmaler, aber hier gab es keine Brücke, nur eine Fähre. Der Fährmann winkte Georg Milden zu, und dieser winkte zurück, ging aber weiter. Am oberen, flussaufwärts gelegenen Ende der Insel sah er einen kleinen Hügel, auf dem eine Burg stand. Diese lehnte an einer Felsnase, die in den Bau integriert war und auf deren Gipfel ein Turm stand. Die Stadt selbst hatte keine Stadtmauer, brauchte allerdings auch keine wegen des Furbars, der um sie herum floss. Für seinen ersten Tag in der Stadt hatte der Anderländer genug gesehen, die Dunkelheit war angebrochen, und überall wurden Fackeln entzündet. Müde aber auch zufrieden darüber, dass der erste Abschnitt seiner Reise beendet war, kehrte Georg Milden in sein Gasthaus zurück.
Am nächsten Tag schlief er lange und nahm ein spätes, aber reichliches Frühstück zu sich, mit Rösti, Käse, Speck und Eiern, aber ohne Flappich, weder gekocht noch eingelegt.
Gesättigt, gestärkt und mit sich und der Welt zufrieden, fragte er nach der Werkstatt des Schmieds Thorwald. Frederico zögerte spürbar mit der Antwort. 'Sind Sie ein Freund von Thorwald, dem Schmied?' 'Nein, ich kenne ihn nicht. Woher auch? Ich meine, ich bin zum ersten Mal in Geerenfurt und gerade einmal zwei Wochen in Sequitanien. Ingrid Hansson, die schwedische Wirtin in Wassenpol, hat mir von ihm erzählt. Ich soll ihn von ihr grüßen.' Der Wirt wirkte irgendwie erleichtert. 'Nun, dann gehen Sie hin und richten Sie die Grüße aus. Freund Thorwald wohnt im Settwald-Quartier. Das ist der Stadtteil auf der anderen Seite des Nebenarmes. Sie müssen mit der Fähre hinüberfahren. Und ich hoffe, sie sind gut zu Fuß, denn Thorwalds Haus liegt ziemlich weit oben, am Waldrand. Man hat von dort aus auf jeden Fall eine schöne Aussicht auf die Sarkens-Berge.'
Die kühle Reaktion des Schweizers, als er den Namen des Schwedens hörte, hatte Georg Milden überrascht. Eigentlich hätte er vermutet, dass Anderländer in dieser fremdartigen Welt den Kontakt zueinander suchen würden. Nun, was immer zwischen den beiden vorgefallen war, das war ganz gewiss nicht sein Problem. Und wo die Fähre zu finden war, das wusste er ja schon. Also machte er sich auf den Weg, und als er zu dem Übergang kam, lag die Fähre bereits am richtigen, stadteinwärts gelegenen Ufer.
Die Fähre war an einem Führungsseil befestigt, einem dicken Tau, das quer über den Fluss gespannt war. An jedem Ufer standen zwei Sassols an einer Winde bereit. Georg Milden ging zu der Anlegestelle, wo der Fährmann die Morgensonne genoss. Er war ein relativ kleiner und schmächtiger Mann mit rötlichen Haar und einem rötlichen Bart, und beides wirkte etwas ungepflegt. Der Fährmann mochte 30 Jahre alt sein, vielleicht auch etwas jünger. Er trug eine dunkle, lange Hose, Stiefel und eine ärmellose, dunkle Weste, aber kein Hemd darunter. Seine Haut war von der Sonne gebräunt.
'Entschuldigen Sie, Fährmann. Ich bin fremd hier und möchte übersetzen.' 'Anderländer, stimmt's?' 'Ja, woran sieht man das?' 'Du hast Dich so unsicher umgesehen. Sequitanier sind nie unsicher, selbst wenn sie fremd sind, hast Du immer irgendwie das Gefühl, sie gehören dazu. Ich bin übrigens auch Anderländer, Rasmus, aus Dänemark.' Georg Milden war etwas überrascht, hier an der Fähre einen Anderländer zu treffen.' 'Ich heiße Georg, aus Deutschland.' Unterdessen waren die beiden auf die Fähre gegangen, und der Fährmann war dabei, die Taue zu lösen. 'Wie lange bist Du schon hier, Georg?'
Der Ältere empfand ein gewisses Unbehagen dabei, von dem Jüngeren so ganz ohne Umschweife geduzt zu werden, bemühte sich aber, dies nicht zu zeigen. 'Noch nicht lange. Etwas über zwei Wochen, ich komme jetzt aus Wassenpol. Und wie lange bist Du schon hier?' 'Fünf Jahre, aber hier in Geerenfurt lebe ich seit etwa einem Jahr.'
Die Fähre war jetzt frei und bewegte sich langsam zur Flussmitte hin. Der Fährmann stieß einen lauten Pfiff aus, und die Sassols setzten sich schwerfällig in Bewegung. Die Fähre nahm etwas Fahrt auf und glitt gemächlich am Führungsseil entlang. 'Wann bist Du in Geerenfurt angekommen?' 'Gestern.' 'Bist Du bei Frederico abgestiegen?' 'Ja. Ist das so naheliegend, ich meine, weil ich Anderländer bin?' 'Klar. Er ist der einzige anderländische Gastwirt in Geerenfurt. Aber er ist auch verdammt gut. Selbst Sequitanier steigen gerne bei ihm ab. Ein komischer Vogel. Aber das bin ich wohl auch, ein komischer Vogel, meine ich. Und was er macht, macht er richtig, vor allem wenn es auf der Speisekarte steht. Wie lange bleibst Du in Geerenfurt?'
'Das weiß ich noch nicht. Ich will mir zunächst die Stadt ein wenig ansehen. Sequitanien ist für mich immer noch ein Rätsel. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich genug gesehen habe, dann soll es weiter gehen zur Küste. Ich will nach Norminburg. Da ich nichts Besseres zu tun habe, will ich mir mal ansehen, wie es im Zentrum der Macht aussieht. Aber jetzt möchte ich erst einmal zu Thorwald, dem Schwertschmied. Er ist auch ein Anderländer, Du kennst ihn bestimmt.' Der Fährmann lachte spöttisch.
'Kennen. Natürlich kenne ich ihn. Wer kennt ihn nicht, Thorwald, den großen Schmied? Die Frage ist, ob er mich kennt, oder besser, ob er mich kennen will.' 'Was ist mit ihm? Ingrid Hansson hat mir von ihm erzählt, die Wirtin in Wassenpol. Ich dachte, ich sollte mal vorbeischauen und Grüße ausrichten.'
'Na gut, dann tu das. Es kann ja nichts schaden.' 'Frederico hat auch schon so komisch reagiert. Was ist das Problem mit Thorwald?' 'Problem, wieso Problem? Geh ruhig hoch. Er hat ein schönes Haus mit schöner Aussicht. Rede mit ihm.' Das alles kam dem Besucher seltsam vor. Aber wie Rasmus gesagt hatte, es konnte nichts schaden, den Hang hinaufzugehen und zu sehen, was es mit diesem Thorwald auf sich hatte.
Sie erreichten das andere Furbar-Ufer, und Georg Milden zahlte dem Fährmann die drei Kupfer-Pfennige Fährgeld, die er ihm für die Überfahrt schuldete. Dann stieg er eine steile gepflasterte Straße hoch. Es gab einen Gold- und Silberschmied, der hier seine Werkstatt hatte, und auch einen Optiker, der Linsen für Fernrohre herstellte. Bei anderen Häusern schien es sich um Wohnhäuser zu handeln. Am oberen Ende der Straße standen zwei Anwesen. Eines davon, links neben der Straße, war von einer hohen Außenmauer umgeben und der Zugang mit einer schweren, mit Eisen beschlagenen Holzpforte verschlossen. Das andere, rechts von der Straße, war ebenfalls von einer Mauer umgeben. Aber die war niedriger, und das Tor, ein schmiedeeisernes kunstvoll gefertigtes Gitter, stand offen. Über dem Tor waren zwei gekreuzte eiserne Schwerter angebracht. Ganz offensichtlich war das hier die Schmiede von diesem Thorwald aus Anderland.
Georg Milden zögerte eine wenig vor dem Tor, aber er sah keinen Menschen, den er um Erlaubnis hätte fragen können einzutreten. Und so schritt er dann durch das geöffnete Tor. Das Anwesen war relativ groß und bestand aus mehreren Gebäuden, die um einen Innenhof herum angeordnet waren. Es schien, als ob in dem ersten Gebäude die Werkstatt untergebracht war. Der Eingang dazu stand ebenfalls weit offen, das sah Georg Milden aber erst , als er den Innenhof betreten hatte.
'Hallo?' Der Besucher versuchte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und so kam auch schließlich ein junger Mann mit einer blauen Arbeitsschürze und einem kurzärmeligen, rußigen Hemd aus der Werkstatt. Misstrauisch starrte er den Fremden an.
'Was wünscht Ihr?' 'Ich suche Thorwald, den Schwertschmied.' Für einen Moment fragte er sich, ob der junge Mann selbst der Schmiedemeister sein könnte. Doch dieser drehte sich um und rief in die Werkstatt hinein. 'Meister, da ist jemand, der Euch zu sprechen wünscht.' Ein anderer, deutlich älterer Mann kam heraus, auch er trug eine dunkle blaue Arbeitsschürze, der Oberkörper war nackt und verschwitzt. Unwillig sah der ungeladenen Besucher an. 'Was wünscht Ihr?' Georg Milden war durch diesen wenig freundlichen Empfang verunsichert. 'Entschuldigen Sie, Ich wollte Sie nicht stören.' 'Das habt Ihr aber schon. Also kommt zur Sache!'
'Ich bin Anderländer und war in Wassenpol, als Gast bei Ingrid Hansson. Sie hat mir von Ihnen erzählt und mich gebeten, Ihnen Grüße auszurichten.' 'Gut. Ich danke Euch. Das habt Ihr also jetzt getan. Wenn sonst nichts ist, könnt Ihr ruhig wieder gehen.' 'Entschuldigen Sie. Aber ich dachte, vielleicht könnten wir uns einmal unterhalten. Ich würde gerne mehr über das Leben in Sequitanien erfahren, und vielleicht könnte ich von Ihren Erfahrungen profitieren.' 'Das kann sehr gut sein. Aber warum sollte ich wohl meine Erfahrungen mit Euch teilen? Nun? Ich wüsste keinen Grund dafür, und zwar weder jetzt noch später.' Georg Milden war sprachlos, einen derart unhöflichen Empfang hatte er nicht erwartet.
Der Schmied sah ihn durchdringend an. 'Ich bin damals durch Wassenpol gekommen, und Ingrid Hansson hat sich um mich gekümmert. Ich schulde ihr etwas. Und wenn Ingrid Hansson meine Hilfe braucht, dann bekommt sie meine Hilfe. Aber Euch, werter Herr, schulde ich nichts. Rein gar nichts. Und nun, gehabt Euch wohl.
Der Schmied stapfte zurück in die Werkstatt, der Geselle mit einem spöttischen Grinsen hinterher. Georg Milden stand noch einen Moment lang im Hof, schüttelte dann ungläubig den Kopf und ging. So etwas hatte er noch nicht oft erlebt, nicht einmal in Anderland. Bevor er wieder zum Fluss hinabstieg, erinnerte er sich noch an die Bemerkungen über die schöne Aussicht und blieb vor dem Anwesen des Schmied noch für einen Moment auf der Straße stehen. Man hatte von hier aus tatsächlich einen beeindruckenden Ausblick auf die Stadt mit dem Fluss und der Burg. Man konnte sogar weit in die Sarkens-Berge hinein sehen. Aber Georg Milden merkte, dass er ziemlich verärgert war und wenig Lust hatte, die Aussicht zu genießen.
Seine Wut war eher noch größer geworden, als er wieder am Furbar-Ufer ankam. Dort wartete Rasmus der Fährmann immer noch, oder vielleicht auch schon wieder. Immerhin war es ja möglich, dass er zwischendurch noch eine Fahrt gehabt hatte.
Der Fährmann sah, wie sich sein Passagier näherte, und dessen düstere Miene war auch nicht zu übersehen. Er grinste über das ganze Gesicht. 'Na, hast Du Thorwald getroffen?' 'Hör bloß auf! Was ist mit dem eigentlich los.' Das Grinsen des Fährmanns wurde noch breiter. 'Außer dass er ein arroganter und überheblicher Mistkerl ist, meinst Du? Gar nichts.' 'So ein unhöflicher Klotz!' 'Warum wundert Dich das? Nett zu sein, ist keine Bedingung für den Durchlass durch die Pforte. Na gut, die meisten von uns sind ganz in Ordnung, aber es gibt eben auch andere. Wir sind Einwanderer in einem fremden Land. Die meisten halten irgendwie zusammen, aber andere wollen sequitanischer sein als die Sequitanier. Und Thorwald Gunnarson ist einer von denen. Er ist wohl wirklich ein guter Schwertschmied und hat in unserer alten Welt schon irgendwas mit Metallurgie zu tun gehabt. Angeblich hat er alte Schwerter gesammelt. Hier hat er sein Hobby zum Beruf gemacht und zwar zu einem sehr angesehenen Beruf. Er gehört zu der besseren Gesellschaft von Geerenfurt, wenn es denn so etwas in Sequitanien gibt. Jedenfalls verkehrt er nur in den feineren Kreisen.'
'Wem gehört das Anwesen neben der Schmiede?' 'Oh, das ist die Residenz des Hochmagiers von Geerenfurt. Der ist übrigens ein guter Freund des Schwertschmiedes und sagt sein Sprüchlein über dessen Schwertern auf.'
Der Fährmann hatte die Fähre losgemacht, und die Sassols auf der anderen Seite setzten sich in Bewegung. 'Was hat ein Magier mit Schwertern zu tun?' 'Oh, Magier haben mit vielen Dingen zu tun.' 'Kennst Du Dich mit Magie aus? Sie scheint ja weit verbreitet zu sein, aber niemand kann mir so richtig erklären, worum es geht. Oder vielleicht will es auch niemand.' 'Das Problem ist, dass nur die Magier wirklich verstehen, was Magie ist. Die Magie, das ist die Wirklichkeit hinter den Dingen, und nur die Magier sehen und verstehen diese Wirklichkeit. Die meisten von ihnen reden nicht gerne darüber. Aber selbst, wenn Du einen erwischst, der darüber spricht, kannst Du meistens nicht wirklich verstehen, was er Dir sagt.'
'Kennst Du Magier, Rasmus?' 'Klar.' 'Den hier auch?' 'Nein, der Hochmagier ist ein kalter Fisch. Na ja, ich glaube es ist gar nicht so ganz einfach, auf dem Teppich zu bleiben, wenn Du ständig durch andere Dimensionen der Wirklichkeit spazierst. Aber es gibt auch Magier, die vergleichsweise normal sind und ihr Wissen dazu nutzen, uns Normalsterbliche nicht nur zu beeinflussen, sondern auch, um uns zu helfen. Die helfen dann uns dabei, das Wie und Warum der Dinge ein bisschen besser zu verstehen.' 'Und dieser Schwertzauber, von dem Du gesprochen hast?' 'Der Magier bringt die Elemente dazu, die ihrem Wesen angemessene Struktur einzunehmen. So ähnlich hört es sich jedenfalls an, wenn ein Magier darüber redet. Jedenfalls heißt es, dass die Schwerter dadurch noch ein bisschen schärfer, härter und zugleich weniger zerbrechlich werden.'
'Du scheinst Dich ganz gut auszukennen.' Der Fährmann antwortete nicht sofort. Sie waren am Ufer angekommen, und er musste das Floß befestigen. Außerdem warteten am Ufer bereits zwei neue Passagiere.
'Na ja. Ich bin ganz schön herumgekommen und rede viel mit Leuten. Und jetzt reden auch viele Leute mit mir, dem Fährmann.' 'Vielleicht kann ich Dich mal zu Frederico einladen.' 'Danke. Ich geh da regelmäßig hin. Wir treffen uns bestimmt mal und können weiter reden. Aber keine Sorge, ich kann mir das leisten. Ich meine, ich verdiene zwar nicht viel hier auf der Fähre, aber ich weiß auch, wo die Silberminen sind.'
Georg Milden kam sich etwas dämlich vor, aber Rasmus winkte gutmütig ab. 'Lass mal. Selbst Sequitanier denken manchmal, ich müsste ein armer Hund sein. Den Job als Fährmann hab ich nicht zuletzt deshalb, weil ihn sonst keiner will. So, ich muss mich jetzt um die anderen Passagiere kümmern. Aber man sieht sich.'
Nachdenklich ging Georg Milden zurück in den Gasthof. Er hatte das Gefühl, einen interessanten Mann getroffen zu haben. Aber das war nicht der berühmte Schwertschmied, solche Leute hatte ihm in Anderland in seinem Job das Leben schwer gemacht. Der junge Fährmann hingegen schien mehr zu sein als zu scheinen. Bestimmt würde es sich lohnen, sich wieder mit ihm zu treffen und mehr von ihm zu erfahren und über sein Leben in Sequitanien.
Insgesamt blieb Georg Milden gut drei Wochen in Geerenfurt. Das war länger, als er geplant hatte. Ein Grund dafür lag im 'Flinken Hasen'. Es war nicht nur so, dass das Essen dort gut war. Das war es bei Ingrid Hasson auch gewesen, und ihre Zimmer waren ebenfalls sauber gewesen. Aber Federico hatte es geschafft, ein Stück Heimat fern von daheim zu schaffen, jedenfalls die Schweizer Version davon. Emmentaler und Rösti mochten in der Schweiz etwas anders schmecken, aber was Frederico anbot, waren jedenfalls gute Kopien. Die Möbel hatten einen Touch von Bergbauernhof, und in den Blumenkübeln wuchsen zwar keine Geranien, aber was immer das für Blumen waren, diese sequitanische Variante sah darin auch nicht schlecht aus.
Was aber auch nicht unwichtig war, es gab fließend Wasser auf den Zimmern und eine Etagen-Dusche und ein Etagen-WC. Über ein kompliziertes Pumpsystem wurde Wasser aus dem Fluss in die verschieden Stockwerke gepumpt. Und auch wenn das nicht ganz an das heimische Badezimmer heranreichte, war diese Ausstattung nach zwei Wochen mit Plumsklos und Duschen aus der Kanne ein willkommener Luxus.
Aber abgesehen vom Standard des Flinken Hasen war Geerenfurt für Georg Milden auch sonst eine aufregende Stadt. Sie mochte etwa 30.000 Einwohner haben, vielleicht auch etwas mehr.. Natürlich reichte sie damit nicht an Köln oder auch nur Bonn heran, aber für das technologische Niveau Sequitaniens war das schon ganz beachtlich.
Und die Atmosphäre hier war auch nicht ganz so beschaulich und entspannt wie in Wassenpol. Die Leute diskutierten in Geerenfurt über Politik, die Leistungen der Stadtverwaltung und die Amtsführung der Lady. (Es gab auch Frauen in hohen Ämtern, und Geerenfurt wurde nicht von einem Lord, sondern von Lady Nera verwaltet.) Mehrfach wurde Georg Milden in der Stadt Zeuge lauter Wortwechsel, etwa als einmal ein Sassol-Gespann in einer engen Gasse einen Obststand umgerissen hatte. Auch in den Schenken wurde es schon einmal etwas lauter, wenn die Männer oder Frauen abends ein Glas zu viel über den Durst getrunken hatten.
Frederico war nicht nur ein guter und angenehmer Gastgeber, er war auch eine unerschöpfliche Informationsquelle über das Leben in Geerenfurt. Und er gab auch immer gerne und bereitwillig Auskunft, nur nicht über seine eigene Person und sein früheres Leben in der Schweiz. Georg Milden respektierte das.
Das Warenangebot war in der Stadt natürlich weitaus größer als in Wassenpol. Es gab eine ganze Reihe von Schneidern, Schuhmachern oder Schreinern. Aber es gab auch einen Laden mit optischen Geräten, also Fernrohren und Brillen. (Es mochte zwar keine Krankheiten geben, aber wie der Fährmann Rasmus bestätigte, wurden auch in Sequitanien die Augen mit fortschreitendem Alter schlechter.) Es gab auch Wundärzte, die Verletzungen behandelten. Und es gab einen Buchladen. Bücher hatte Georg Milden schmerzlich vermisst. Und so war es nicht verwunderlich, dass er den Laden mehrfach besucht und dessen eher beschränktes Angebot gründlich durchforstet hatte.
Es gab Bücher zu praktischen Fragen, zum Beispiel über die Aufzucht von Sassols, den Gebrauch von Ferngläsern oder über Pflanzen und Kräuter. Es gab ein Buch über das Wesen der Magie, geschrieben von einem Nichtmagier und anderländischem Immigranten. (Der Fährmann bezeichnete dieses Buch als 'Müll' und einen 'faden Aufguss von Halbwahrheiten und Vorurteilen'. Und so widerstand Georg Milden der Versuchung, es zu kaufen.)
Interessanter waren für ihn die geschichtlichen Werke. So gab es mehrere Bücher über große Könige und Schwertmeister. Er kaufte sich zwei Bücher über sequitanische Könige, verlor sich aber bald im Wust von Daten und geschichtlichen Fakten. Diese waren wohl jedem Sequitanier bekannt, weshalb die Autoren es nicht für nötig gehalten hatte, sie dem Leser noch einmal zu erläutern. Eine systematische Übersicht über sequitanische Geschichte für Ausländer gab es nicht. An Unterhaltungsliteratur gab es erbauliche Geschichten über tugendhafte (und als warnendes Beispiel) weniger tugendhafte Menschen, große Lords und weise Magier. Auch von diesen Werken erstand Georg Milden zwei Titel, die er etwas verständlicher fand, auch wenn er mit der Moral und den Schlussfolgerungen nicht immer etwas anfangen konnte.
Während der Zeit in Geerenfurt traf er sich fast täglich mit Rasmus. Tagsüber musste der kleine Fährmann am Fluss Dienst tun. So trafen sie sich meistens abends, manchmal kam Georg Milden aber auch tagsüber zu der Fähre.
Die Fähre war ein ganz gutes Beispiel dafür, dass auch in Sequitanien nicht immer alles reibungslos funktionierte. Der frühere Fährmann war alt geworden und wollte sich zur Ruhe setzen. Aber es hatte sich niemand gefunden, der seine Aufgabe übernehmen wollte. Da kein Mensch in Sequitanien Mangel leiden musste, gab es anders als in Anderland keine Möglichkeit, jemand unter Ausnutzung seiner Not zur Annahme einer unattraktiven und schlecht bezahlten Arbeit zu nötigen. Und tagaus tagein am Fluss zu sitzen und den Sassols zuzusehen, wie sie die Fähre hin und her zogen, war allem Anschein nach nicht wirklich reizvoll.
Eine Brücke über den Fluss zu bauen, war keine Alternative, wie es schien. Der Boden an dieser Stelle galt als sandig und ungeeignet für Brückenfundamente. Von Rasmus erfuhr der Besucher aber auch, dass die Bewohner des Settwald-Quartiers kein Interesse an einer Brücke hatten, die ihren beschaulichen und ruhigen Stadtteil für Sassol-Karren zugänglich gemacht hätte. Wenn es denn überhaupt in Sequitanien so etwas wie soziale Schichten gab, dann wohnte im Settwald-Quartier die Oberschicht von Geerenfurt. Das waren Menschen mit Fertigkeiten, welche benötigt wurden, die aber nicht jeder erwerben konnte: der Magier, der Schwertschmied, die Wunddoktoren, der Optiker etc.
Es war im Stadtrat, so Rasmus, zu heftigen Diskussionen gekommen. Die Settwalder wollten, dass die Bürger der übrigen Stadt den Betrieb Fähre als Gemeinschaftsaufgabe übernahmen und dafür sorgten, dass abwechselnd einer von ihnen diese Aufgabe übernahm. Anscheinend waren solche gemeinschaftlich übernommenen Aufgaben in Sequitanien durchaus üblich, um das Funktionieren des Gemeinwesens zu sichern. Aber in diesem Fall hatten sich die Bürger geweigert. Sie wiesen darauf hin, dass es in erster Linie im Interesse der Settwalder war, dass der Fluss überquert werden konnte. Deshalb sollten diese die Fähre auch selber betreiben.
Dann war Rasmus in die Stadt gekommen und hatte die Aufgabe übernommen. Er hatte Georg Milden erklärt, warum er froh gewesen war, diese Gelegenheit zu erhalten, und warum er vorerst nicht vorhatte, diese Arbeit wieder aufzugeben.
Es war ein kühler Abend gewesen. Am Nachmittag hatte es geregnet, aber Frederico hatte versichert, dass der Regen noch vor Sonnenuntergang aufhören würde. So war es dann auch gekommen, und Georg Milden hatte den Fährmann in seinem kleinen Haus ganz in der Nähe der Fährstelle besucht. Rasmus hatte ein einfaches Abendessen zubereitet, und sein Besucher nutzte die Gelegenheit, um ihn zu fragen, was ihn denn nach Geerenfurt verschlagen hatte.
Zunächst fiel es Rasmus nicht leicht, seine Geschichte zu erzählen. Aber je mehr er von sich preisgab, desto mehr sprudelte es aus ihm heraus. 'Na ja, es war ein langer Weg, der schon zu Hause begonnen hatte. Ich bin, was man einen Jungen aus gutem Hause nennt, komme aus einer jütländischen Kleinstadt, aus einer guten Familie, bin behütet aufgewachsen. Keine schwere Jugend, kein brutaler Vater. Meine Eltern waren Ärzte, beide, sie hatten eine Praxis, die ich einmal übernehmen sollte.
'Also habe ich angefangen, Medizin zu studieren. Nicht, dass es mir Spaß gemacht hätte, aber das war einfach meine Bestimmung, schlicht und ergreifend. Als ich im zweiten Semester war, starb meine Mutter, Krebs. Meine Eltern hatten die Krankheit, solange es ging, vor mir geheim gehalten. Und dann ging alles ziemlich schnell. Mein Vater kam mit dem Tod meiner Mutter nicht zurecht und machte sich wohl auch Vorwürfe, dass er ihr als Arzt nicht hatte helfen können. Er fing an zu trinken, machte Behandlungsfehler. Am Ende ließ sich das nicht mehr vertuschen, und er kam vor Gericht. Einen Tag vor der Verhandlung fuhr er im Vollrausch gegen einen Brückenpfeiler. Unfall, hieß es. Aber ich glaube, er konnte nicht mehr und hat Selbstmord begangen.
'Mein ganzes wohlgeordnetes, wohlbehütetes Leben lag auf einmal in Trümmern. Aber was für mich am Schlimmsten war, unter all dem gutbürgerlichen Komfort gab es nichts, was meinem Leben und meinen Plänen Sinn gegeben hätte. Das Medizin-Studium habe ich hingeschmissen und habe dann angefangen Philosophie zu studieren. Geldsorgen hatte ich nicht, mein Vater hatte mir eine ordentliche Summe Geld hinterlassen.
'Ich habe an der Uni Sinn gesucht, aber den in den Büchern auch nicht gefunden. Dann bin ich nach Indien gegangen und wollte dort etwas gegen die Armut tun. Ich dachte, wenn ich den Armen helfe, helfe ich mir. Ich Idiot! Ich war ein abgebrochener Student und außerdem total kaputt. Wie hätte ich da irgendjemandem helfen können. Wenn ich wenigstens mein Medizinstudium beendet hätte. So habe ich dann in einem Kinderheim mitgearbeitet. Aber da hat man mich auch nur genommen, weil ich ganz ordentlich dafür bezahlt habe.
'Als ich dort mit dem ganzen Elend konfrontiert wurde, bin ich damit nicht fertig geworden. Ich war psychisch total erledigt und bin dann krank geworden, so krank, dass ich nach zurück Hause musste. In Dänemark war ich im Krankenhaus, hatte einen Nervenzusammenbruch und bin in der Psychiatrie gelandet. Als ich da wieder rausgekommen bin, wollte ich Schluss machen. Ich wollte mich vor einen Zug werfen. Spät abends bin ich mit dem Bus raus zur Bahnlinie gefahre, aber auf dem Weg von der Bushaltestelle zu den Gleisen habe ich mich verlaufen. Gelandet bin ich Sequitanien, aber nicht wie Du in Wassenpol, sondern an der Küste, nördlich von Norminburg.
Ich war völlig durch den Wind, und Sequitanien war zunächst für mich auch nicht wirklich, was ich brauchte. Ich bin durch die Lande gezogen und war auf dem besten Weg, ein Ausgeschlossener zu werden, denn ich wollte mich nicht anpassen. Und das will was heißen, hier in Sequitanien, wo Dich die Leute eigentlich in Ruhe lassen. Aber ich habe getrunken und Streit gesucht. Na ja, und dann habe ich Restania getroffen.'
'Eine Geliebte?' Der Fährmann lachte. 'Nein, eine Magierin. Eine Frau, die tief in mich hineinsah und erkannte, wie kaputt ich war. Sie hat sich meiner angenommen. Magie war auch mit im Spiel, denn sie hat mir eine Seelenruhe gegeben, die anders nicht zu erklären gewesen wäre. Sie hat die Kluften in meiner Aura geglättet, hat sie gesagt. Frag mich nicht, was das heißt. Aber danach ging es mir jedenfalls besser. Und dann hat sie mir die Augen geöffnet. Ich habe erkannt, dass ich den Sinn meines Lebens in mir selbst finden muss, aber nicht, indem ich mich von den Menschen zurückziehe. Und eigentlich ist Sequitanien ein ganz guter Ort, um sich selbst zu finden.
'Ich bin wieder herumgezogen, aber dabei habe ich gearbeitet. Egal, was gerade anfiel. In Norrenhavn habe ich Schiffe beladen, im östlichen Grenzland habe ich Gemmel gemolken und Sassols auf die Weide geführt. Und in der ganzen Zeit habe ich mir die Menschen angesehen, ihnen zugehört und mit ihnen gesprochen. Ich habe angefangen, Menschen um mich herum wahrzunehmen, mit ihren guten und schlechten Eigenschaften. Irgendwann war ich dann auch selber wieder da. Als ich nach Geerenfurt kam, wurde gerade ein Fährmann gesucht. Das war wie ein Zeichen, ich kam mir vor wie Siddharta.'
'Was? Wie wer?' 'Du weißt schon, Hermann Hesse, der Schriftsteller, sein Buch Siddharta, von dem Mann, der auf der Suche nach dem Sinn ist und dann an den Fluss kommt und lernt, auf das Murmeln des Flusses zu hören. Jetzt sitze ich hier, höre auf das Murmeln des Flusses, beobachte die Menschen, die an mir vorbeiziehen, und zum ersten Mal seit langem habe ich nicht mehr das Gefühl, auf der Suche zu sein.'
Georg Milden hatte konzentriert und mit Anteilnahme zugehört. Das Schicksal des Jüngeren hatte etwas Deprimierendes, aber der Fährmann wirkte nicht deprimiert. So ganz war er sich nicht sicher, ob er das alles nachvollziehen konnte. Aber es war deutlich, dass der verschlungene Lebensweg des Dänen für diesen selbst Sinn machte.
'Eins wundert mich. Du hast gerade eben vom Elend in Indien gesprochen. Ich meine, es gibt Leute auf der Welt, in unserer Welt, Anderland, denen es viel schlechter geht als Dir und mir. Aber wen habe ich bis jetzt getroffen: zwei Schweden, einen Schweizer, einen Briten, eine Französin und einen Dänen. Wir gehören ja nicht gerade zu denen in Anderland, denen es am Schlechtesten geht. Wo sind denn die Inder, die Afrikaner, die armen Schweine aus der Dritten Welt?' Der Fährmann lachte. 'Du hast nicht noch kapiert, was es mit Sequitanien auf sich hat, oder?'
'Worum geht es denn?' 'Wenn man aus unserer Welt kommt, dann kommt einen Sequitanien zunächst wie das Paradies vor: kein Mangel, keine Krankheiten und vor allem kein Stress. Und ins Paradies, das wissen wir alle aus der Bibel, kommen die netten Menschen und die, die ganz arm dran sind. Aber genau so ist das hier eben nicht. Es kommen auch Leute nach Sequitanien, die nicht nett sind. Natürlich hat jeder Anderländer, den es hierhin verschlagen hat, seine persönliche Krise gehabt. Aber es kommen nicht die hier an, denen es am Dreckigsten geht, sondern die, die sich am meisten Leid tun. Selbstmitleid öffnet die Pforte, nicht Ungerechtigkeit. Das hier ist eben nicht das Paradies, Sequitanien ist die zweite Chance.'
Er sah, dass Georg Milden unangenehm berührt war. 'Klar, wir sehen uns alle gerne als Opfer, und irgendwie sind wir es vielleicht auch. Aber unsere gescheiterten Träume bringen uns zur Pforte, nicht das Leid, das wir erfahren.'
Georg Milden dachte nach. Er hatte das Gefühl, dass der junge Mann Dinge ergründet hatte, die er selbst noch nicht wirklich verstehen konnte, so sehr er auch darüber nachdachte. Doch der Fährmann fuhr fort. 'Es gibt übrigens auch Inder hier und Südamerikaner und Afrikaner, aber nicht so viele, wie man erwarten würde. Ich glaube, dafür es gibt noch einen anderen Grund.' 'Nämlich?' 'Familie, Georg. Familie. Niemand kommt nach Sequitanien, der da drüben in Anderland etwas hat, was ihn hält. Doch in Europa treiben wir zunehmend isoliert durchs Leben, selbst wenn wir Verwandte und Angehörige haben, so geben sie uns doch oft nicht wirklich Halt, sondern gehen uns eher auf die Nerven. Ich meine, ich habe auch noch Verwandte, aber nach dem Tod meiner Eltern hat sich niemand wirklich um mich gekümmert. Das ist auf anderen Kontinenten immer noch ein bisschen anders. Deshalb treiben wir in Europa und Nordamerika eher isoliert und losgelöst durchs Leben und landen daher auch öfter in der Pforte nach Sequitanien.'
Es war schon spät, und sie hatten schwierige Themen gewälzt. Georg Milden wusste nicht so recht, was er jetzt noch sagen sollte. Nach diesem Gespräch wollte er nichts Banales sagen, aber auch kein neues Thema mehr anschneiden. Aber dann kam ihm doch noch eine Frage in den Sinn, die ihn umtrieb.
'Schön, Du hast Deinen Ort in Sequitanien gefunden, ich bin noch dabei, meine eigene Bestimmung zu suchen. Was würdest Du mir jetzt raten?' Der Fährmann lachte wieder. 'Was Du jetzt tun musst, mein Freund, das musst Du schon selber herausfinden.'