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3. Wassenpol

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Es war später Nachmittag, und die Gaststube war noch nicht einmal halb voll. Als Georg Milden durch die Tür trat, merkte er, wie hungrig er war. Immerhin hatte er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, aber doch für seine Verhältnisse hart körperlich gearbeitet. Die Wirtin lächelte ihm freundlich zu, als er zur Theke ging. 'Jetzt könnte ich wirklich etwas zu essen gebrauchen.' 'Sicher. Das sollen Sie auch kriegen, aber vorher sollten Sie sich wirklich waschen. Kommen Sie.' Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn aufs Zimmer. Dort stand ein großer Metallzuber. 'Warten Sie hier, ich komme gleich wieder.'

Und es dauerte auch wirklich nicht lange, dann kam Ingrid Hansson zurück, im Schlepptau einen Mann und eine Frau. Die beiden Bediensteten trugen Eimer mit heißem, dampfenden Wasser, die Wirtin einen großen Packen Kleidung über dem Arm. Das Wasser kam in den Zuber, die Kleidung aufs Bett. 'So, machen Sie sich sauber und wählen Sie sich von der Kleidung aus, was Sie brauchen und was passt.' Dann verschwanden die Drei, Seife und Handtücher lagen auf einem Schemel.

Das Bad war wohltuend, und Georg Milden blieb im Wasser, bis es abgekühlt war, er musste sogar zwischendurch einmal kurz eingeschlafen sein. Erfrischt stieg er aus und suchte sich Kleidung in seiner Größe aus, um sie anzuziehen: etwas altertümlich wirkende Unterwäsche, Bundhosen, die bis kurz unter die Knie reichten, lange Strümpfe, ein Hemd und eine Weste. Außerdem wählte er eine Reservegarnitur aus und eine Jacke.

Den Beutel mit den Silbermünzen steckte er ein, ebenso seine Brieftasche, die er aus 'Anderland' mit herüber gebracht hatte. Diese neue Realität fühlte sich noch komisch und verwirrend an. Zwar hatte er begriffen, dass er aus seiner vertrauten Welt herausgerissen worden war. Aber das hieß nicht, dass er sich mit seiner Situation bereits innerlich abgefunden hatte. So trat er dann vor die Tür und wollte in die Gaststube gehen. Aber eine junge Frau, die wohl auch hier arbeitete, sprach ihn an. 'Mein Herr, Frau Ingrid erwartet Euch in ihrer privaten Stube. Dorthin werde ich auch Eure Speisen bringen.'

Sie führte ihn durch den Korridor und über einen Innenhof, in dem ein paar Gänse herumliefen (oder Tiere, die Gänsen doch ziemlich ähnlich sahen, um genau zu sein), in ein Haus, in dem sich offensichtlich die Privatwohnung der Wirtin befand. Er fragte sich, ob sie verheiratet war, jedenfalls war von einem Mann nichts zu sehen. Zunächst gingen sie durch einen Flur, dann in ein großes Wohnzimmer mit altertümlich wirkenden Möbeln. Dort erwartete die Wirtin ihn bereits und lud ihn ein, Platz zu nehmen.

Das tat Georg Milden auch. Er setzte sich an einen Tisch, der für ihn bereits gedeckt war. Auf dem Tisch standen Brot, Butter, Käse, kalter Braten und das eingelegte grünliche Gemüse, das ihm schon am Vortag aufgefallen war (und auf Nachfrage als Flappich identifiziert wurde), außerdem Wasser und Wein. 'Greift zu.' Die Bedienstete hatte sich schon wieder entfernt, und Ingrid Hansson nahm ihm gegenüber Platz und sah zu.

Als er ein Stück Braten auf den Teller legen wollte, zögerte er und sah die Frau fragend an. 'Sassol?' Ingrid Hansson musste herzlich lachen. 'Nein, es gibt Regionen, in denen Sassol auf den Tisch kommt. Hier ist es aber unüblich, und mir ist der Geschmack ein bisschen zu streng.' 'Eines wundert mich. Wie kommt es, dass alle hier Deutsch sprechen. Ich meine, Ihr Deutsch ist ja auch völlig akzentfrei. Haben Sie das hier gelernt, oder konnten Sie es früher schon ?' Wieder lachte die Frau. 'Ich habe etwas Deutsch in der Schule gelernt, aber fast alles wieder vergessen. Ich spreche kein Wort Deutsch mit Ihnen, ich spreche Schwedisch.'

Georg Milden blieb der Mund offen stehen, aber die Frau fuhr fort. 'In Wirklichkeit sprechen wir beide wahrscheinlich Sequitanisch. Das hier ist eine sonderbare Welt, und die Sprache ist nur eines von den seltsamen Dingen hier. Übrigens, ich finde, als zwei Anderländer in einer fremden Welt sollten wir zum Du übergehen. Ich heiße Ingrid.' 'Georg. Aber eines würde ich gerne wissen. Du wusstest, dass sie mich in die Mine bringen würden. Warum hast Du mich nicht gewarnt?' 'Wie denn? Du hast ja noch nicht mal geglaubt, dass das alles hier echt ist. Ich erinnere mich noch gut daran, wie konfus und panisch ich war, als ich in Wassenpol angekommen bin. Die Sache mit den Minen hat etwas von einem Initiationsritus. Von dem Moment an, in dem Du Dein eigenes Geld hast, bist Du ein Mitglied der sequitanischen Gesellschaft und kannst Deiner eigenen Wege gehen. Und wenn das Geld verbraucht ist, gehst Du zurück in die Mine und arbeitest ein halben Tag für den Lebensunterhalt von ein bis zwei Monaten.'

'Warum arbeitet dann überhaupt irgend jemand?' 'Warum nicht? Den ganzen Tag im Gras liegen und in den Himmel starren, mag ja ganz nett sein, ein oder zwei Tage lang. Aber dann wird es langweilig. Sequitanien ist eine Welt ohne Internet, ohne Fernsehen, ohne Kino, ohne Radio. Arbeiten ist gar nicht so schlecht. Du machst hier, was Dir Spaß macht. Anders als bei uns in Schweden oder sonst wo in Anderland gibt es hier praktisch keinen Stress.'

Georg Milden sah skeptisch drein. 'Klingst zu schön, um wahr zu sein.' 'Es ist wahr, ich bin jetzt immerhin über sieben Jahre hier.' 'Das ist doch praktisch wie im Mittelalter. Was passiert, wenn man krank wird, wenn man Antibiotika braucht, eine Operation am offenen Herzen oder auch nur eine neue Zahnfüllung?' 'Es gibt keine Krankheiten hier.' 'Das kann doch nicht sein!' Dann zögerte er etwas und sprach einen Gedanken aus, der sich ihm immer mehr aufdrängte. 'Was ist, wenn wir alle tot sind? Vielleicht ist das hier das Paradies?'

Ingrid Hansson schüttelte energisch den Kopf. 'Nein. Kannst Du Dich daran erinnern, gestorben zu sein? Ich nicht, ich wollte lediglich in die Tiefgarage unseres Bürohochhauses gehen und hab die Tür geöffnet. Statt in der Tiefgarage stand ich auf einmal im Freien, in dichtem Nebel. Es klingt verrückt, aber ich habe die Tür nicht mehr gefunden. Stattdessen bin ich hier in Wassenpol gelandet. Außerdem wäre das ein komisches Paradies. Man altert, und man kann durch Unfälle oder Gewalt umkommen. Du wirst hier nicht krank, aber das heißt nicht, dass Du unverwundbar bist.'

'Hast Du nie versucht, von hier weg zu kommen?' 'Warum? Ich meine, am Anfang will jeder zurück nach Hause, aber nach einer Weile gewöhnt man sich nicht nur dran, hier zu sein. Man fühlt sich sogar richtig gut. Hier in Sequitanien bist Du das, was Du aus Dir machst. Jeder hat die gleichen Chancen, und Dein Auskommen ist sicher. Aber in Sequitanien hast Du auch keine Ausreden, wenn Du es nicht schaffst, zufrieden zu sein. Warst Du zufrieden in Deinem alten Leben?' 'Na ja, nicht ganz, ich meine, es ging schon irgendwie ... '

'Blödsinn!' Ingrid Hansson war nun richtig energisch geworden. 'Als ich hierher kam, war ich fix und alle. Ich war IT-Administratorin für die schwedische Filiale einer großen Firma. Gutes Gehalt, 16 Stunden-Tage, kaum Wochenenden für mich, Ehe kaputt, Sohn entfremdet. Und am Ende, als wir mit einer anderen Firma fusionierten, musste meine Stelle dran glauben. Kosteneffizienz. Man hat mich nicht rausgeschmissen, nur degradiert. Das nannten die neuen Bosse natürlich nicht so. Die erwarteten wohl noch Dankbarkeit dafür, dass ich jetzt unter einem fünf Jahre jüngeren Idioten arbeiten durfte, der zwar keine Ahnung hatte, aber dafür einen MBA und einen amerikanischen Akzent. Und jeder Anderländer, den ich kenne, hatte in dem Moment, als sich die Pforte öffnete, die Schnauze voll von seinem Leben. Jeder hatte dafür natürlich seine eigenen Gründe. Aber irgendwie hat das Schicksal jedem Anderländer, der jetzt hier ist, vorher in Anderland seine Träume zertrümmert. Hier in Sequitanien haben wir die Chance, noch einmal neu anzufangen. Du kannst tun, was Du immer schon mal tun wolltest, solange es jedenfalls nichts mit Elektronik oder sonst mit moderner Technik zu tun hat.'

Georg Milden atmete durch und beschloss genauso offen zu sein wie die Frau. 'Ich bin nicht degradiert worden. Aber ich habe es schon lange nicht mehr geschafft, irgendwie vorwärts zu kommen. Man klopft einem auf die Schultern, sagt, wie toll die Arbeit ist. Aber die Beförderungen oder auch nur zusätzliche personelle oder finanzielle Ausstattung für den Arbeitsbereich, das kriegen die anderen. Ehe kaputt, das kenne ich auch. Ich weiß, Millionen, wahrscheinlich Milliarden von Menschen geht es schlechter, die leben in Armut und Elend. Das heißt dann, dass Du nicht mal das Recht hast, Dich beschissen zu fühlen.'

'Siehst Du, Georg. Es ist, als ob Du immer mehr an den Rand gedrückt wirst. Irgendwann fällst Du runter. Und dann bist Du in Sequitanien.'

'Aber es müsste doch irgendjemandem auffallen, wenn wir so einfach nicht mehr da sind.' 'Weißt Du, wie viele Leute einfach so verschwinden? Du hast doch bestimmt schon mal gehört, dass jemand weggeht, um Zigaretten zu holen, und nie mehr zurückkehrt.' 'Leute werden Opfer von Verbrechen, gehen zur Fremdenlegion, fliegen in die Karibik und rauchen dort Haschisch und versacken dann, was weiß ich.' 'Einige sicher, einige tun das. Andere aber landen hier.'

'Du erwähntest die Pforte, Du weißt schon, die Alte. Was hat es damit auf sich, Ingrid?' 'Eine Prüfung, das ist eine Prüfung. Jeder muss da durch. Du kommst in eine Situation, in der Du ausgenutzt wirst. Da musst Du zeigen, ob Du Dich wehren kannst oder nicht. Niemand ist hier in Sequitanien, der diese Prüfung nicht bestanden hat. Ich glaube, dass Sequitanien zwar ein Ort ist, an dem die vom Leben Gefrusteten Zuflucht finden, aber nur eine Zuflucht für diejenigen, denen irgendwie Unrecht geschehen ist, nicht für Weicheier.'

'Und was passiert mit denen, die die Prüfung nicht bestehen?' 'Woher soll ich das wissen? Hier ist jedenfalls keiner von denen angekommen, soweit ich weiß. Wahrscheinlich wachen sie mit einem schweren Kopf auf und haben einen Albtraum gehabt.'

'Und es gibt keinen Weg zurück?' Ingrid Hansson zögerte etwas. 'Ich habe von dein paar Leuten gehört, die sich nach ein paar Jahren hier entschieden haben zurückzugehen. Einigen soll dies tatsächlich gelungen sein. Aber Genaues weiß ich nicht. Es interessiert mich auch nicht wirklich, denn ich jedenfalls will nicht zurück.'

Mittlerweile hatte Georg Milden seinen Hunger gestillt. Die Anstrengung und die Aufregung des Tages waren dann doch zu viel gewesen. Zwar wusste er, dass er noch viele Fragen hatte, aber keine wollte ihm in diesem Moment wirklich einfallen. 'Ich bin total fertig. Ich sollte jetzt ins Bett gehen.' Ingrid lächelte ihn an. 'Du hast noch was vergessen. Jetzt wo Du Geld hast, solltest Du auch bezahlen.' Georg Milden wurde rot, und die Frau amüsierte sich köstlich über seine Verlegenheit. Sie beugte sich über den Tisch und tätschelte seine Hand. 'Fünf Schilling für den Schneider und einen Schilling für einen Tag bei Kost und Logis in meinem Haus. Da Du etwas länger bleiben dürftest, bezahlst Du mich am besten für eine Woche im voraus.'

Er holte den Lederbeutel hervor und kramte zwölf Silbermünzen hinaus, die er auf den Tisch legte. Die Frau ging um den Tisch herum und gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange. 'Gute Nacht, Georg. Du bist jetzt in Sequitanien. Das mag Dir alles seltsam vorkommen, aber ab morgen beginnt für Dich ein neues Leben. Ein Leben, in dem es nur noch an Dir liegt, was Du aus Dir machst. Und jetzt schlaf gut.'

Georg Milden schlief lange, tief und gut. Die Sonne schien schon in sein Zimmer, als er wach wurde. Es dauerte einen Moment, ehe er sich darüber klar wurde, wo er sich befand. In Sequitanien. Er war in Sequitanien. Daran zweifelte er jetzt nicht mehr. Was das konkret für ihn bedeutete, war ihm allerdings noch nicht wirklich klar.

Aber was ihm klar war, das war die Tatsache, dass heute der erste Tag in seinem neuen Leben war. Den gestrigen Tag hatte er zwar bereits in Sequitanien verbracht, da war er jedoch noch wie in Trance durch die fremdartige Realität getrieben. Heute würde er damit anfangen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Er wusch sich mit kaltem Wasser aus einem Eimer und rasierte sich mit einem altertümlichen Rasiermesser (und schnitt sich natürlich, keine sanfte Rasur mit Drei- oder Vierfachklinge). Dann zog er sich seine neue sequitanische Kleidung an. Kritisch begutachtete er seine Schuhe, geeignet für das Büro in Köln, aber wohl kaum für die rauen Wege in Sequitanien. Gut, darum würde er sich später kümmern. Neben dem Bett lag seine schmutzige und stinkende Kleidung. Einen Moment lang überlegte er, diese einfach wegzuwerfen.

Aber dann überlegte er es sich anders. Vielleicht gab es ja doch einen Weg zurück. Auch wenn Georg Milden sich damit abgefunden hatte, vorerst in Sequitanien bleiben zu müssen, so hatte er sich keineswegs bereits mit dem Gedanken abgefunden, für immer hier zu leben. Sein Portemonnaie, die Autoschlüssel, sowie die Brieftasche mit seinem Ausweis, Führerschein, Kreditkarte und ein paar anderen persönlichen Dokumenten und einigen Euro-Scheinen nahm er an sich. Die Wäsche würde er waschen lassen.

Dann ging Georg Milden in die Gaststube, er brauchte jetzt ein gutes Frühstück. Und das bekam er auch in Form von Brot, Eiern, gebratenem Speck und einem herzhaften Käse. Einen Moment lang überlegte er, von welcher Art von Tieren die diversen Speisen wohl stammen könnten. Dann beschloss er, darüber nicht mehr nachzudenken. Schließlich hatte es ihm gestern geschmeckt, und zu Hause dachte er ja schließlich auch nicht an Schweine, wenn er Fleischprodukte vertilgte. Und Schweine waren genau genommen auch nicht ästhetischer als Sassols.

Von Inge Hansson war nichts zu sehen. Die junge Frau, die ihm gestern das Badewasser gebracht hatte, servierte ihm jetzt das Frühstück. Als er damit fertig war, bedankte er sich und ging hinaus auf die Dorfstraße.

Die Sonne schien, aber es war frisch. Welche Jahreszeit mochte es wohl sein? Gab es hier überhaupt Jahreszeiten. Er sah einen Karren mit zwei Sassols, der vor einer Seitengasse hielt. Aber darauf saß kein livrierter Lakai. Ein kräftiger Man lud Säcke ab, daneben stand Ingrid Hansson. Als sie ihren Gast sah winkte sie ihm freundlich zu und beschäftigte sich dann wieder damit, die Anlieferung ihrer Ware zu beaufsichtigen.

Einen Moment lang blieb Georg Milden unschlüssig stehen, dann ging er weiter. Das Dorf sah irgendwie so aus, wie ein Dorf vor ein paar Hundert Jahren in Europa wohl ausgesehen haben mochte. Die Dorfstraße verlief nicht ganz gerade, sie mündete in einen kleinen Marktplatz ein. Dort sah er einen Brunnen, ein paar Bäumen (mit Sicherheit keine Linden) und ein paar Frauen, die Obst und Gemüse anboten. Die Häuser entlang der Dorfstraße bestanden zum grüßten Teil aus Fachwerk, die meisten davon waren einstöckig, nur zwei Gebäude waren etwas größer. Ein paar Frauen standen auf der Straße und plauderten, andere kauften ein. Auf der Straße sah Georg Milden ein paar von den Pseudogänsen herumwatscheln, sie waren dicker und größer als Gänse, der Hals etwas kürzer, seltsam war ein dritter Fuß am Hinterteil. Er ging zu einem dieser Tiere hin. Was ausgesehen hatte wie ein dritter Fuß, war vielmehr eine Art Sporn, den das Tier hinter sich her zog, um so sein Gewicht besser abstützen zu können. Seltsam jedenfalls.

Er richtete sich auf und wollte sich umdrehen. Dabei wäre er fast in zwei ältere Frauen hineingerannt, die mit schweren Körben die Straße entlangschritten. Eine schimpfte ärgerlich, aber die andere zog sie zur Seite. Georg Milden hörte ihre spöttische Stimme. 'Lass ihn! Du siehst doch, dass das der Mann frisch aus Anderland kommt. Wer sonst würde eine Kukidor derart bestaunen.' Mit rotem Kopf ging er weiter. Jedenfalls wusste er jetzt, wie diese Tiere hießen.

Mehrere Geschäfte und Werkstätten säumten die Straße, unter anderem eine Bäckerei, ein Krämerladen sowie eine Schneiderwerkstatt, in welcher ein Schneider in einem großen Fenster saß und einen Mantel nähte. Freundlich grüßte er den Anderländer, und Georg Milden fragte sich, ob das derselbe Schneider war, der seine neuen Kleidungsstücke genäht hatte. Er grüßte freundlich zurück und ging weiter, über den Markt hinweg.

Auf der anderen Seite des Marktplatzes hatte er eine Schusterwerkstatt entdeckt. Dort ging er hinein, ein älterer Mann und zwei jüngere Männer arbeiteten an halbfertigen Schuhen und Stiefeln. Der ältere Schuster sah ihn neugierig an, und Georg Milden grüßte höflich und erklärte sein Anliegen. Er brauchte bequeme Schuhe. Der Schuster riet ihm, ein Paar Schuhe und dazu ein paar schwere Reisestiefel zu nehmen. Sein Kunde stimmte gerne zu und fand auch die vier Schillinge nicht zu viel, die der Schuster dafür verlangte. Natürlich müsste er erst bezahlen, wenn er die Schuhe auch abholte. Einer der jüngeren Männer (Gesellen?) maß seine Füße sorgfältig, und der Meister schrieb die Maße nieder. In fünf Tagen würde er seine Schuhe abholen können.

Zufrieden verabschiedete sich Georg Milden von den Schuhmachern und setzte seinen Weg fort. Kurz vor dem Ortsausgang kam er an einer Schmiede vorbei. Die Werkstatt war zur Straße hin offen. Ein Junge hielt mit einer langen Greifzange ein rotglühendes Stück Eisen über einen Amboss, das ein Mann mit einem Hammer bearbeitete. Als sie den Zuschauer bemerkten, drehten sie sich um und sahen ihn fragend an.

Dann bemerkte der Schmied die Schuhe des Betrachters, die ohne Zweifel anderländisch aussahen, lachte und winkte diesem freundlich zu, bevor er sich den Schweiß von der Stirn wischte und mit der Arbeit weitermachte. Georg Milden setzte seinen Weg fort und gelangte ans Ende des Dorfs. Vor ihm lagen Felder und Wiesen, ringsum Hügel und Wald. Das war die Landschaft, die er am Vortag schon gesehen hatte. Ihm fiel auf, dass ein Haus, das letzte Haus des Dorfes, etwas abseits stand, etwa hundert Meter von dem Nachbarhaus entfernt. Es war ein zweistöckiges Fachwerkhaus, die Vorhänge hinter den Fenstern waren zugezogen, aber im Innern brannte Licht. An dem Haus, über der Tür, hing ein großes schmiedeeisernes Symbol, offensichtlich zwei Tiere, eine Schlange und eine Art Fuchs, die einander jagten, ihre Körper bildeten einen Kreis. Der Fuchs, oder was immer das für ein Tier sein sollte, hatte das Ende der Schlange im Maul, die ihrerseits bereits den Schwanz des Fuchses verschluckt hatte. Über der Tür prangte in goldenen Lettern die Aufschrift 'Weisheit dem, der sie verstehen kann.'

Im Gegensatz zu allem anderen, was Georg Milden bisher in Sequitanien gesehen hatte, einschließlich der Mine, wirkte dieses Hauses mit dem Symbol und seiner ziemlich arrogant klingenden Inschrift auf ihn etwas unheimlich.

Dann riss er sich von dem Anblick los und ging weiter auf dem Weg, den er gestern schon einmal im Wagen des Magistrats zurückgelegt hatte. Nach ein paar Minuten hörte er ein Geräusch hinter sich und sah einen Wagen, natürlich gezogen von zwei Sassols, der sich ziemlich flott vorwärts bewegte. Vorne auf dem Kutschbock saß der Mann, den Georg Milden kurz zuvor bei der Gaststätte gesehen hatte, der Mann, der für Ingrid Hansson Säcke abgeladen hatte. Das war auch der Mann, den er bereits am ersten Abend in der Gaststätte gesehen hatte, 'Andries' hatte Ingrid Hansson ihn genannt. Dieser Andries hielt den Wagen an.

'Wohin des Weges, Freund?' 'Ich sehe mir ein bisschen die Gegend an. Schließlich möchte ich wissen, wo ich eigentlich bin.' Andries lachte. 'Da habt Ihr recht. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr aufsteigen. Da kommt Ihr nicht nur schneller voran, Ihr vermeidet es auch nass zu werden. Denn es wird gleich regnen.'

Georg Milden sah zum Himmel. Da standen ein paar weiße Wolken am blauen Himmel, aber nach Regen sah das nicht unbedingt aus. Einen Moment zögerte er, schließlich kannte er den Mann ja nicht. Aber dann siegte seine Neugierde. 'Danke, Freund.' Er kletterte auf den Wagen und nahm neben Andries Platz.

Sie kamen zur Weggabelung, aber anders als am Vortag ging es nicht in das Tal mit dem Herrenhaus von Lord Firrenbrock (und der Silbermine). Vielmehr fuhren sie geradeaus weiter. Links vom Weg sah der Anderländer eine Weide, auf welcher Sassols weideten und Tiere, die er bisher noch nicht gesehen hatte. Diese Tiere waren etwas kleiner als Sassols, schwarz oder dunkelbraun, gedrungen mit breiten Schädeln und einem einzigen Horn auf der Stirn. Sie wirkten wie hässliche Karikaturen der Einhörner, die man in Anderland aus Sagen und Märchen kannte.

Auf seine Frage hin erklärte Andries, dass dies Gemmel seien, die gute Milch geben würden, und deren Fleisch weitaus besser schmecke als das von Sassols. Er, Andries, bevorzuge allerdings persönlich Zurten-Fleisch, und eine gebratene Kukuidor sei auch nicht zu verachten. Kukidore kannte Georg Milden schon, das waren diese Pseudo-Gänse, aber was Zurten waren, wusste er noch nicht. Ohne Frage würde er noch viel sehen (und essen), das für ihn neu war.

Rechts lagen Getreidefelder. Diese zumindest sahen einigermaßen so aus, wie Getreidefelder zu Hause aussahen, auch wenn er bei genauerem Hinsehen bemerkte, dass jeder Halm zwei bis drei Ähren trug.

Unterwegs erfuhr er, dass sein Fahrer Andries vom Holmhof hieß und ein Bauer (und des Besitzer des Holmhofes) war. Die Frage, warum er denn die schwere Arbeit eines Bauern verrichten würde, wo er doch Silber einfach in den Minen verdienen könnte, versetzte Andries in Erstaunen. Zum einen empfand er seine Arbeit nicht als besonders schwer, zum anderen könne man Silber nicht essen. Und was würden die Menschen denn essen, wenn es keine Bauern gäbe.

Schließlich erreichten sie den Hof, einen stattlichen Bauernhof mit einem großen zweistöckigen Fachwerkhaus, Stallungen und Lagerschuppen, die um einen Innenhof herum angeordnet waren. Umgeben war das Anwesen von Weiden und einem Garten in der Nähe der Gebäude. Auf den Weiden grasten Sassols, Gemmel und eine Art von Tieren, die er am Vortag schon mal gesehen hatte, wie eine Mischung aus Schwein und Ziege, massiger als eine Ziege, mit kürzeren Beinen und einem Fell. 'Seht Ihr, das sind unsere Fleischlieferanten, Zurten.' Der Bauer schlug seinem Gast auf die Schulter. Ein anderer Mann war mittlerweile dabei, die Sassols mit dem Wagen in den Innenhof zu führen und die Tiere dort abzuspannen.

'Lass uns reingehen. Es fängt gleich an zu regnen.' Andries zeigte auf den Himmel, der jetzt dunkel war, fast schwarz. Daher hatte Georg Milden gegen den Vorschlag nichts einzuwenden. Er folgte dem Bauer ins Haus, und der führte in gleich in die Küche. Dort stand eine rundliche, nicht mehr ganz junge Frau und rührte in einem großen Topf. Neben ihr stand eine jüngere Frau und tat das Gleiche.

'Hallo, Ihr Frauen. Ich habe einen Gast mitgebracht. Freund, das ist meine Frau Bettine, das ...' er zeigte auf die Jüngere, 'ist die Frau meines Sohnes.' Die Bäuerin wischte sich die Hände an der Schürze ab und reichte dem Besucher dann die Hand. 'Ihr seid also der neue Anderländer. Mein Mann hat mir von Euch erzählt. Ihr seid mir herzlich willkommen. Hoffentlich mögt Ihr unsere sequitanische Hausmannskost.' 'Da bin ich sicher. Immerhin hatte ich ja schon die Gelegenheit, in der Gaststätte sequitanisches Essen zu probieren.' 'Bei Frau Ingrid? Nein, das ist bei uns schon etwas anderes.'

Georg Milden versuchte, ein entspanntes Gesicht zu machen. Der Bauer war hinter ihn getreten und schlug ihm wieder auf die Schulter. 'Keine Sorge, mein Freund, Sassol kommt bei uns vor den Wagen, nicht auf den Tisch.' Seine Frau sah ihn missbilligend an. 'Was redest Du denn da, selbstverständlich essen wir kein Sassol. Wir sind doch nicht wie diese Burschen in der Nordland- Steppe.'

Draußen hatte es angefangen zu regnen. Bestrebt, das Thema zu wechseln, wandte sich Georg Milden höflich an die Bäuerin. 'Ihr Mann ist ein wahrer Wetterprophet, er hat doch tatsächlich den Regen vorhergesagt. Alle Achtung.' Die Bäuerin sah in erstaunt an, die Blicke der jungen Frau gingen fragend hin und her zwischen Schwiegervater und Schwiegermutter. Ehe einer antworten konnte, krähte eine kräftige Kinderstimme: 'Du bist aber dumm, das regnet doch jedes Mal, wenn jetzt ist.' Ein kleines Mädchen hatte sich in die Küche geschlichen, hinter ihr der etwas ältere Bruder (oder Cousin). Und dieser kritisierte sogleich: 'Du bist selber dumm, das ist doch ein Anderländer. Der weiß doch gar nicht, dass es immer am gleichen Tag regnet. Du weißt doch, was Onkel Roger gesagt hat, in Anderland ist das Wetter immer ganz durcheinander. Da weißt Du morgens noch nicht, ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint.' Das kleine Mädchen sah erst den Jungen mit großen Augen an und dann den Anderländer.

Die Bäuerin schob die Kinder aus der Küche. 'Wascht Euch die Hände und ruft die anderen. Das Essen ist gleich fertig.' Dann wandte sie sich wieder an Georg Milden. 'Hier in Sequitanien regnet es jedes Jahr an den gleichen Tagen und zur gleichen Stunde, außer wenn die Magier sich einmischen. Das Wetter ändert sich nicht, es ist jedes Jahr das gleiche Wetter, Sonne, Regen, Schnee, immer an den gleichen Tagen und zur gleichen Stunde. Nicht so wie in Anderland.'

Der Besucher konnte sein Erstaunen nicht verbergen, sowohl über das gleichmäßige Wetter, als auch über die beiläufige Erwähnung von Magiern, wer immer diese sein mochten. Ein derart zuverlässiges Wetter verminderte jedenfalls das Risiko für die Bauern ungemein. Keine unerwarteten Trockenperioden, keine plötzlichen Regengüsse. Man wusste, wann man aussäen musste und wann man ernten konnte. 'Und wer ist Onkel Roger, von dem der junge Mann seine Kenntnisse über Anderland hat?'

Nun war es wieder Andries, der antwortete. 'Ein Anderländer, wie Ihr. Ist vor Jahren durch die Pforte gekommen. Er hat sich ein paar Weg-Stunden von hier im Deimon-Wald niedergelassen und betreibt dort eine kleine Schenke und etwas Landwirtschaft. Wir besuchen ihn öfter, und er und seine Frau kommen gelegentlich zu uns. Deshalb kennen die Kinder sie, und ihre Geschichten von Anderland. Sie hören immer gebannt zu. Ich meine, Ihr müsst uns schon verzeihen, aber Anderland ist ja wirklich zu seltsam.'

Ehe Georg Milden antworten konnte, scheuchte die Bäuerin sie auch schon zum Tisch und drängte ihn, Platz zu nehmen.

Es war ein großer Tisch, an dem viele Menschen Platz nahmen, der Bauer und die Bäuerin, zwei jüngere Ehepaare, drei jüngere Männer und fünf Kinder. Das Essen sah nicht wirklich appetitlich aus, zwei große Töpfe mit Eintopf und zwei Schalen mit Brot, das in große Stücke geschnitten worden war.

In dem Eintopf schwammen unter anderem ein paar Fleischstücke und grünes Gemüse. Das schien das gleiche Gemüse zu sein, das er in Essig eingelegt bei Ingrid Hansson gegessen hatte Die Suppe war, na ja, gewöhnungsbedürftig, besonders das Gemüse. Das Brot zumindest war herzhaft und schmeckte ihm. Nach anfänglichem Zögern griff Georg Milden dennoch tapfer zu und brachte es auch nicht übers Herz, den angebotenen Nachschlag abzulehnen. 'Das Essen ist köstlich, gnädige Frau.' Die Bäuerin strahlte über das ganze Gesicht. 'Darf ich fragen, was das für ein Gemüse ist?'

'Natürlich. Das ist Flappich.' Die jüngere Frau, die beim Kochen geholfen hatte, war bereits aufgestanden und hatte ein großes, dunkelgrünes, dickes fleischiges Blatt geholt, das sie dem Gast zeigte. 'Dies ist Flappich.' Er hatte die Blätter schon im Garten und auch unterwegs am Wegesrand gesehen, aber für Zierpflanzen gehalten.

Nach dem Essen gingen die meisten Erwachsenen wieder an ihre Arbeit. Aber der Bauer und die Bäuerin blieben noch mit dem Gast sitzen. Die Schwiegertochter hatte eine Flasche auf den Tisch gestellt. Das Getränk schmeckte nach Kräuterlikör, aber nicht schlecht.

Andries sah aus dem Fenster. Der Regen wird in etwa einer halben Stunde aufhören, dann bringe ich Euch zurück ins Dorf, wenn's recht ist.' 'Sicher, ich danke Ihnen sehr für die Einladung. Es war mir ein Vergnügen, Sie und Ihre Familie kennenzulernen. Aber ich habe noch eine Frage. Da am Ortsausgang steht ein Haus, das erste Haus von hier aus gesehen, mit einem eisernen Symbol vor der Tür.' Ehe er weiter reden konnte, war es aus dem Bauern auch schon herausgeplatzt: 'Das Haus des Magiers? Meint Ihr das?'

'Magier? Ihre Frau hat das schon mal erwähnt. Wollen Sie sagen, dass es Zauberei in Sequitanien gibt.' Die Jovialität und Gutmütilichkeit war völlig aus dem Gesicht des Mannes gewichen und Georg Milden befürchtete schon, einen schweren Fauxpas begangen zu haben. Aber auf dem Gesicht der Frau spielte ein spöttisches Grinsen, offensichtlich genoss sie das Unbehagen ihres Mannes.

Der Bauer antwortete lustlos. 'Was Ihr mit Zauberei meint, weiß ich nicht. Aber es gibt Magie in Sequitanien, was Euch anscheinend nicht bekannt war.' 'Was für Magie?' 'Magie halt, was Magier so tun. Die Gedanken anderer lesen, die sie nichts angehen, ihnen die Zukunft voraussagen, die sie nicht wissen wollen. Sie tun Dinge, die andere nicht können, und das ist irgendwie nicht richtig.' 'Pah, Ihr Männer!' Die Bäuerin sah ihren Mann spöttisch an. 'Wenn Ihr etwas nicht versteht, dann darf es das auch nicht geben.' Ihr Mann lief rot an, sagte aber nichts. Dem Besucher war die ganze Angelegenheit peinlich, und er schwieg.

Die Bäuerin jedoch war nicht zu bremsen und wandte sich an den Anderländer. 'Magie ist ein Teil von Sequitanien und völlig normal. Einige stört es, dass es Menschen gibt, die Dinge können, die andere niemals beherrschen werden. Aber es ist Magiern verboten, Nichtmagiern zu schaden. Wer ihre Hilfe möchte, der geht zu ihnen. Und die anderen, nun, die sollten die Magier einfach in Ruhe lassen.'

Andries vom Holmhof schaute angestrengt aus dem Fenster. 'Es hat schon fast aufgehört zu regnen. Ich bringe Euch jetzt zurück ins Dorf.' Die Frau warf ihrem Mann einen missbilligenden Blick zu und drückte Georg Milden betont herzlich die Hand. 'Ich habe mich gefreut, dass Ihr den Weg zu uns gefunden habt. Ihr seid uns jederzeit herzlich willkommen.' Der Bauer war schon aus der Stube gestapft, und es dauerte auch nicht lange, dann waren die Sassols wieder vor den Wagen gespannt. Der Besucher stieg auf den Karren, und sie verließen den Hof.

Die Regenwolken hingen noch schwer über dem Land, aber erste Sonnenstrahlen fanden ihren Weg bereits wieder durch Wolkenlücken. Zunächst schwieg Andries eisern, und Georg Milden fürchtete schon, ihn ernsthaft verärgert zu haben. Aber lange hielt der Sequitanier das nicht durch, bald erzählte er wieder von seiner Familie und wollte mehr über seinen Gast und dessen Heimat in Anderland wissen. Das müsste ja eine seltsame Welt sein, in der man niemals im Voraus sicher sein konnte, ob es regnen würde. Schließlich kamen sie im Dorf an, und der Bauer ließ seinen Besucher vor dem Gasthaus absteigen.

Es war noch früh am Tag, aber Georg Milden hatte wenig Lust auf weitere Erkundigungen. Er ging hinauf in sein Zimmer und ruhte sich aus. Am Abend wollte er seine Erlebnisse mit Ingrid Hansson besprechen, und er hatte viele Fragen.

Doch als er abends in die Gaststube kam, war Ingrid Hansson nicht da, und so kehrte er nach dem einsamen Abendessen zurück in sein Zimmer. Ohne Bücher, ohne Fernsehen, ohne Internet und ohne Strom blieb ihm eigentlich nichts anderes übrig, als früh ins Bett zu gehen. Die Eindrücke und Erlebnisse des Tages hielten ihn noch eine Weile wach, aber schließlich schlief er ein.

In der kommenden Woche lernte Georg Milden Wassenpol und seine Bewohner noch besser kennen. Er traf seinen Freund Andries fast täglich im Dorf und wurde auch wieder zu diesem auf den Hof eingeladen. Abends, wenn sie sich in der Gaststube trafen, machte Andries ihn mit anderen Männern aus dem Dorf bekannt, und er lernte dabei den Schmied und den Schuster, die mit dem Bauern befreundet waren, besser kennen. Er sah auch Ingrid Hansson regelmäßig. Einmal nahm sie ihn in ihrer Kutsche in den Nachbarort Irnfeld mit, wo sie bei dem dortigen Schreiner Möbel abholte.

Ein anderes Mal hatte er sogar die Gelegenheit, Lord Firrenbrock zu besuchen. Als der Schuster dem Lord ein Paar neuer Stiefel bringen musste, lud er seinen neuen Bekannten aus Anderland ein, ihn zu begleiten. Der Lord erinnerte sich noch gut genug an den Neuankömmling, war aber zu höflich, die unerfreulichen Seiten dieses Besuches anzusprechen. Sie gingen zu Fuß, und Georg Milden genoss diese Wanderung sehr. Er selbst trug seine neuen Wanderstiefel und konnte feststellen, dass sie sehr bequem waren.

Bei seinen Begegnungen und Gesprächen lernte er viel Neues über die Welt, die jetzt ja wohl seine neue Heimat war. Es gab nicht nur Lords, es gab auch einen König, der in der großen Stadt Norminburg residierte. Aber trotz ihrer Titel und des äußeren Anscheins handelte es sich nicht um Erbadel. Die Lords wurden vom König eingesetzt, aber praktisch immer auf Vorschlag der Bürgerversammlung des Amtsbezirks. Der König wurde von den Lords aus ihren Reihen gewählt. Er konnte auch von diesen abgewählt werden, auch wenn das seit Ewigkeiten schon nicht mehr vorgekommen war. Zwar zeigten die Bürger den Lords gegenüber Respekt, aber das war Ausdruck der allgemeinen Höflichkeit, auf welche die Sequitanier im Umgang miteinander Wert legten, keine Unterwürfigkeit.

Von Ingrid Hansson erfuhr er mehr über das sequitanische Liebesleben, das trotz der altertümlich wirkenden Umgebung gar nicht altertümlich war. Prüde waren Sequitanier zumindest nicht. Eheleute konnten voneinander Treue erwarten, aber die Ehe als Lebensform war keineswegs vorgeschrieben. Wer allein bleiben wollte, konnte dies tun und sich nach Laune und Geschmack Partner für gelegentliche heiße Stunden aussuchen. Was Erwachsene untereinander taten, interessierte die Sequitanier wenig. Georg Milden erfuhr auch, dass Ingrid Hansson darauf verzichtet hatte, sich einen festen Partner zu suchen. Insgeheim hoffte er, dass sie ihm die Gelegenheit geben würde, mal eine Nacht mit ihr zu verbringen, aber dieses Angebot blieb aus.

Obwohl jeder Sequitanier sich problemlos Silber in den Minen beschaffen konnte, war es doch allgemein üblich zu arbeiten. Nur wenn jeder seinen Teil beitrug, konnte das Gemeinwesen gedeihen. Silber konnte man nicht essen und auch nicht anziehen.

Andererseits schien auch kaum jemand unter seiner Arbeit zu leiden oder Stress zu empfinden. Es gab keine stumpfsinnigen Arbeitsabläufe, keine tyrannischen Chefs, keine Handies, die nach Feierabend oder am Wochenende klingelten. Es wirkte alles fast zu schön, um wahr zu sein. Aber allem Anschein nach funktionierte diese Welt, auf jeden Fall im Idyll von Wassenpol.

Auch wenn noch niemand entsprechende Andeutungen gemacht hatte, so war Georg Milden doch klar, dass er irgendwann seinen eigenen Platz in dieser Gesellschaft finden musste. Doch noch hatte er keine Ahnung, wo dieser Platz sein würde.

Der Mann aus Anderland

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