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1. Zur Einführung: Lexikologie als sprachwissenschaftliche Disziplin
ОглавлениеEine Sprache besteht aus Wörtern und den Regeln ihrer Verknüpfung. So könnte man – stark vereinfacht – den Aufbau natürlicher Sprachen beschreiben. Die Wörter sind dabei das Wichtigste: Ohne Wörter gibt es keine Wortverknüpfung, ohne den Wortschatz keine Grammatik – im Anfang war das Wort. Der Lexikologie als der linguistischen Disziplin, die sich mit den Wörtern und dem Wortschatz befasst, fällt damit in dieser Perspektive eine Schlüsselposition für die Sprachwissenschaft zu. Nun besteht die Sprachwissenschaft bekanntermaßen nicht allein aus Lexikologie und Grammatik. Die wichtigsten Teildisziplinen der Sprachwissenschaft sind vielmehr – neben der Lexikologie – die Phonologie, Morphologie, Syntax, Textlinguistik, Semantik und Pragmatik. Von diesen Fächern haben primär die Morphologie und die Semantik mit dem Wort als Gegenstand zu tun: die Morphologie vor allem in Gestalt der Wortbildungslehre und die Semantik als lexikalische Semantik, als Lehre von den Wortbedeutungen. Und dann gibt es natürlich noch die Lexikographie als Praxis und Lehre der Wörterbucherstellung, die ja wie keine andere Disziplin auf die Sammlung und Beschreibung von Wörtern gerichtet ist. Wenn somit Wortbildung, Wortbedeutung und Wortschatzsammlung bereits von anderen Disziplinen abgedeckt sind, stellt sich die Frage, welcher Gegenstand dann noch für eine eigenständige Disziplin ‚Lexikologie‘ bleibt – immerhin betreffen die Lexikographie, die Wortbildungslehre und die lexikalische Semantik nicht gerade nebensächliche Aspekte des Wortes. Ist ‚Lexikologie‘ also womöglich nur ein Klammerbegriff für die bereits bestehenden wortbezogenen Disziplinen, eine bloße Umetikettierung anderweitig betriebener Forschung?
Auch wenn dies für einzelne Bereiche der Lexikologie vielleicht zutreffen mag, in einem ganz entscheidenden Punkt verfügt die Lexikologie aber tatsächlich über einen eigenen Gegenstand, den ihr kein anderes Fach streitig macht, nämlich in der Betrachtung des Wortschatzes als Ganzheit. Wenn der Wortschatz als Ganzheit (nicht als Gesamtheit) Gegenstand einer eigenen sprachwissenschaftlichen Disziplin sein soll, dann setzt dies freilich voraus, dass man über diesen Gegenstand überhaupt etwas Relevantes zu sagen hat, dass der Wortschatz also mehr ist als eine beliebige und damit uninteressante Ansammlung von Einzelwörtern. Die Lexikologie sieht das Interessante und Erforschenswerte des Wortschatzes darin, dass dieser ein strukturiertes Gebilde ist, ein „System von Systemen“ (Lutzeier 1995: 10, vgl. auch Lutzeier 2002: 4–6;Lipka 1992: 1). Wenn man dem Wortschatz Struktur und Systematizität zuspricht, dann ergibt sich in der Tat eine Reihe interessanter Fragestellungen: Welche Strukturprinzipien sind im Wort schatz vorhanden? Welche Teilsysteme gibt es und wie interagieren sie miteinander? Wie ist es um das Verhältnis zwischen linguistischen Modellierungen des Wortschatzes und der psychologischen Realität bestellt? Inwiefern sind die Wortschätze unterschiedlicher Sprachen miteinander vergleichbar? Wie verändern sich Strukturen im Wortschatz?
Eine Beschreibung des Wortschatzes als strukturierte Ganzheit kann nicht ohne eine Beschreibung seiner Komponenten – der Wörter – erfolgen. Umgekehrt ist eine isolierte Betrachtung einzelner Wörter nicht denkbar: Die Bedeutung eines einzelnen Wortes kann ja nur dadurch angegeben werden, dass wir andere Wörter als Paraphrasen benutzen. Die lexikologische Beschreibung des Wortschatzes und die Betrachtung des Einzelwortes bedingen einander. Die lexikalische Semantik kann damit zwar einerseits zusammen mit der Satzsemantik als Teil einer eigenen Disziplin Semantik gesehen werden. Man kann sie aber auch als Teildisziplin der Lexikologie betrachten. Da semantische Einzelwortanalysen ohne Bezugnahme auf andere Wörter und ohne Kenntnis der Wortschatzzusammenhänge, in denen sie stehen, weder möglich noch sinnvoll sind, erscheint uns diese ‚Eingemeindung‘ der lexikalischen Semantik in die Lexikologie aber nicht nur als Option, sondern als die entschieden bessere Wahl.
Die Lexikologie hat sich erst in den 1960er Jahren als eigenständiges linguistisches Teilfach durchsetzen können (Schippan 2002: 74). Dass diese Etablierung im Vergleich zu den meisten anderen Subdisziplinen der Sprachwissenschaft erst relativ spät erfolgte, verwundert vor dem Hintergrund des bisher Gesagten kaum. Die Erkenntnis, dass der Wortschatz überhaupt als strukturierte Ganzheit jenseits der Einzelwortbetrachtung in den Blick genommen werden kann, setzt das Aufkommen des Strukturalismus als sprachwissenschaftliches Paradigma voraus – dessen Grundauffassung ist ja, dass Einzelfakten erst durch ihre Stellung innerhalb eines strukturierten Ganzen bedeutsam und beschreibbar werden. Als wichtig für die Lexikologie ist in diesem Zusammenhang besonders die in den frühen 1930er Jahren entwickelte Wortfeldtheorie zu nennen, die als erste konsequent mit dem bis dahin vorherrschenden Atomismus in der Beschreibung von Wörtern gebrochen hat. Daneben gibt es noch andere Traditionen und Disziplinen, wie etwa die Etymologie und Semasiologie, die Wörter-und-Sachen-Forschung des frühen 20. Jahrhunderts, die historische Lexikographie, die sich allesamt – wenn auch zunächst nur locker – zu einem Forschungsprogramm verbinden, das dann unter der bis dahin wenig geläufigen Bezeichnung ‚Lexikologie‘ zusammengefasst wird. In der universitären Lehre hat sich die Lexikologie wohl zunächst in der Sowjetunion etabliert. Seit den 1970er Jahren erscheinen dann richtungweisende lexikologische Lehrwerke zu verschiedenen europäischen Sprachen. Der wirkliche Durchbruch als kanonische Disziplin der Sprachwissenschaft erfolgt aber erst in den 1980 und 1990er Jahren (zur Wissenschaftsgeschichte sei auf die Beiträge von Lutzeier 2002 und Schippan 2002 verwiesen).
Entsprechend den eben geschilderten Traditionslinien können die zentralen Gegenstände der Lexikologie mit Schippan wie folgt bestimmt werden:
„Wortsemantik, Bedeutungs- und Benennungswandel, also Semasiologie/Onomasiologie und Wortgeschichte werden als Kernbereich der Lexikologie aufgefasst, ebenso wie die semantische, strukturelle, soziologische, historische und dialektale Gliederung des Wortschatzes, während weiterhin über die Zugehörigkeit von Wortbildungstheorie und Phraseologie Uneinigkeit besteht“ (Schippan 2002: 75).
Die hier vorgelegte Einführung orientiert sich weitgehend an diesem Themenkatalog und seinen internen Gewichtungen. Wortbildungslehre und Phraseologie werden demgemäß nur kurz bzw. extrem knapp behandelt. Diese Entscheidung ergibt sich weniger aus einer festen Überzeugung bezüglich der Stellung dieser beiden Fächer innerhalb der Lexikologie als vielmehr aus praktischen Gründen: Zu beiden Gebieten gibt es bereits hervorragende einführende Darstellungen, auf die besten Gewissens verwiesen werden kann. Der Fokus dieses Buches soll – der Gegenstandsbestimmung Schippans folgend – auf den unbestrittenen Kernbereichen der Lexikologie liegen: der lexikalischen Semantik einschließlich der Beschreibung der Sinnrelationen (Kapitel 4 und 5), der Wortschatzkunde, also der Betrachtung des Wortschatzes als gegliedertes System (Kapitel 6), sowie dem lexikalischen Wandel (Kapitel 7). Ergänzt wird die Darstellung dieser Hauptgebiete durch eine als Voraussetzung des Buches unabdingbare Klärung des Begriffs ‚Wort‘ (Kapitel 2), durch knappe Ausführungen zur Wortbildung (Kapitel 3) sowie zu Wörterbüchern als einem zentralen Arbeitsinstrument für die Lexikologie (Kapitel 8).
Das vorliegende Buch ist als erste Einführung in das Thema konzipiert. Es richtet sich vor allem an Studierende der germanistischen Sprachwissenschaft im Bachelor-Studium. Für Studierende anderer Philologien sollte es ebenfalls geeignet sein, da die meisten behandelten Fragestellungen nicht spezifisch für das Deutsche sind. Zudem werden in besonderen Abschnitten bewusst sprachübergreifende Themen angesprochen. Für das Verständnis des Buches ist es sicherlich hilfreich, wenn man bereits eine Einführung in die Sprachwissenschaft absolviert hat, notwendig ist das freilich nicht.
Den einzelnen Kapiteln sind Übungsaufgaben von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad beigegeben. Für einen Großteil der Aufgaben finden sich im Anhang Lösungen bzw. Lösungshinweise. Den einzelnen Kapiteln schließen sich zudem weiterführende Literaturangaben an, so dass eine eigenständige Vertiefung des Stoffes möglich ist.
Dank
Beim Schreiben dieses Buches habe ich von zahlreichen Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen profitiert. Hier ist vor allem Sonja Harm, Sonja Gesse-Harm, Michael Job, Hans-Joachim Particke, Alexander Wood, Christiane Gante, Anna-Lina Sperling und nicht zuletzt der Lektorin Jasmine Stern herzlich zu danken. Sie alle haben mich vor zahlreichen Irrtümern und Ungenauigkeiten bewahrt. Was an Fehlern geblieben ist, geht natürlich vollständig zu meinen eigenen Lasten. Zu danken habe ich auch Nike und Imma, die an so vielen Wochenenden anderweitige Beschäftigung suchen mussten. Ihnen ist diese Einführung gewidmet.