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Estella Orsini verließ an diesem Donnerstagnachmittag das Haus Ihrer Eltern in der Via Santo Giuseppe und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle am Corso Chiggiato.

Es war ein schöner, sonniger und warmer Tag im Frühsommer und dementsprechend hatte Estella absolut keine Lust zum Musikunterricht nach Portogruaro zu fahren, während sich ihre Freundinnen mit ihren Freunden am Strand vergnügten.

Sie hatte eigentlich keinen Freund, zumindest keinen richtigen, aber dennoch wäre es schöner mit ihm am Strand, als Geige zu üben bis die Finger bluteten.

Ihre Eltern bestanden jedoch darauf ihr Talent zu fördern und so blieb ihr keine andere Wahl, als jeden Donnerstag zum Violinen Unterricht nach Portogruaro zu fahren.

Ihre Eltern waren streng gläubige Katholiken. Ihr Vater arbeitete für das Patriarcato di Venezia und hatte dort eine gehobene Stellung im Büro des Bischofs inne, worauf die ganze Familie unglaublich stolz war. Mit Ausnahme Estellas. Sie hatte dazu keinen Bezug. Ihr war es gleichgültig, womit ihr Vater sein Geld verdiente und von dem er ihr Taschengeld gab. Es war ihr ohnehin immer viel zu wenig.

Sie hatte sich fest vorgenommen, dass sie, sobald sie volljährig war, das Haus verlassen und ihr eigenes Leben genießen würde. So wie die jungen Leute in diesen Fernsehserien, die immer schick gekleidet entweder in Cafés saßen, oder in ihren luxuriösen Penthouse Wohnungen mit gut aussehenden jungen Männern Champagner schlürften.

Sie bestieg den Bus der Linie 2, setzte sich auf die hinterste Bank, stülpte sich ihre Kopfhörer über und träumte weiter vor sich hin.

An der Haltestelle in Cavanella war der Bus schon relativ voll. Ein junger Mann stieg noch zu und setzte sich neben sie. Er war recht altmodisch gekleidet und seine Haare standen wirr von seinem Kopf ab.

Als Estella ihn kurz ansah, versuchte er ein Augenzwinkern, was ihm aber misslang und ihm nur einen dümmlichen Gesichtsausdruck verlieh.

Sie wandte sich angewidert ab und war froh, als sie nach fünfundvierzig minütiger Fahrt endlich den Bus verlassen konnte. An der Haltestelle Via Manin stieg sie aus und steckte sich eine Zigarette an.

Ihre Eltern durften natürlich nie erfahren, dass sie heimlich rauchte.

Sie schlenderte durch die schattigen Arkaden des Corso Martiri della Libertà und betrachtete sehnsüchtig die Auslagen der Mode– und Schuhgeschäfte. Wenn sie erst einmal volljährig wäre, würde sie nur noch in solchen Geschäften einkaufen, oder noch besser in Venedig und Mailand.

Der Eingang zum Haus ihres Musiklehrers lag in einer kleinen Gasse, kurz vor der Piazza della Repubblica.

In dem Moment, als sie in die La Stretta einbiegen wollte, wurde sie plötzlich von einem Mann angesprochen. Er war etwa Mitte dreißig, gut gekleidet und mit einem gepflegten Äußeren. Währenddessen betrat gerade eine Mitschülerin das Haus und winkte ihr zu.

„Entschuldigen Sie Signorina, dass ich Sie so direkt anspreche. Mein Name ist Giovanni Temporini.“

Während der Mann sprach, fühlte sich Estella in eine ihrer Fernsehserien versetzt. Es schmeichelte sie, von diesem gut aussehenden Mann angesprochen zu werden und dann auch noch als Signorina. Für alle war sie sonst immer nur Estella.

„…Sie haben die richtige Ausstrahlung für diesen Job. Hätten Sie Interesse?“

Bei dieser Frage kam sie aus ihrer Traumwelt zurück.

„Welchen Job?“

„Wie ich schon sagte, Promotion für ein neues Parfüm. Ein sehr luxuriöses Parfüm. Etwas ganz Besonderes.“

Bei dieser Vorstellung lief es ihr heiß und kalt den Rücken hinunter.

„Und Sie glauben ich bin dafür die Richtige?“, strahlte sie ihn an.

„Aber ja, sonst hätte ich Sie nicht angesprochen. Sie bekommen natürlich auch ein entsprechendes Honorar. Wenn Sie zusagen, gleich jetzt eine kleine Anzahlung.“

Ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie das Angebot annahm.

„Kommen Sie, ich lade Sie auf einen Prosecco ein. Gleich hier vorne. Das müssen wir feiern und Sie bekommen auch die Anzahlung.“

Sie setzten sich unter einen der großen Sonnenschirme der Bar, die nur ein paar Meter entfernt lag.

Nachdem der Prosecco serviert war und sie auf ihre Abmachung angestoßen hatten, öffnete der Mann, der sich Temporini nannte, seine Brieftasche und reichte Estella einen Schein.

„Die Anzahlung, wie versprochen.“

Estella staunte nicht schlecht, als sie den Geldschein entgegen nahm.

„Oh, hundert Euro!“

Das war so viel wie sie sonst für zweieinhalb Monate Taschengeld von ihrem Vater bekam. Im Geiste sah sie schon als Großverdienerin, die sich all ihre Träume erfüllen konnte.

„Wenn Sie Ihren Job gut machen, gibt es noch viel mehr.“

„Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

„Davon bin ich überzeugt.“

Nachdem sie sich noch eine Weile über Belanglosigkeiten unterhalten hatten, erhob sich der Mann.

„Warten Sie hier, ich hole nur meinen Wagen.“

Als er in den Arkaden verschwand zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief ihre Schwester an, um ihr die tolle Neuigkeit mitzuteilen.

Kurz darauf erschien ihre Freundin aus dem Musikunterricht.

„Estella, wo warst du? Warum bist du nicht in den Unterricht?“

„Ich konnte nicht. Hatte eine wichtige Verabredung“, tat sie geheimnisvoll.

„So, was denn? Hat das etwas mit dem Mann zu tun, mit dem du gesprochen hast?“

Estella zierte sich etwas, doch dann sprudelte es aus ihr heraus.

„Ich habe einen tollen Job. Promotion für ein exklusives Parfüm. Ich habe auch schon eine Anzahlung bekommen. Aber jetzt verschwinde. Ich werde gleich abgeholt. Und kein Wort zu niemandem.“

Ihre Freundin sah sie skeptisch an.

„Schon klar, aber glaubst du wirklich, dass es alles korrekt ist?“

„Sicher und nun geh schon.“

„Pass auf dich auf.“

„Ja, Mamma.“

Eine Minute später fuhr der Mann, der sich Temporini nannte, in einem schwarzen 5er BMW vor und winkte Estella heran.

„Wo fahren wir hin?“

„Nicht so neugierig. Du wirst schon sehen.“

Hatte er sie nun plötzlich geduzt?

Als sie dem Gewirr der kleinen Straßen und Gassen entkommen waren und auf die Viale Daniele Manin einbogen, sah Estella ihre Freundin Vittoria an der Bushaltestelle stehen und winkte ihr zu.

Spurlos   Der Fall Orsini

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