Читать книгу MORIGNONE - Volker Lüdecke - Страница 10

Оглавление

5. Kälteeinbruch

Gaspard wacht frierend im Schlafsack auf. Sein Atem bildet bei jedem Hauch weiße Eiskristalle am Kinnbart. Der Große Aletsch, der Gletscher oberhalb von Brig, der im Sommer so geschwitzt hat, panzert sich in der sternenklaren Nacht mit neuen Eisschichten gegen seine übermächtigen Gegner.

Im ehemaligen Haus der Familie Studer, wo Gaspard es sich mit dem Notwendigen eingerichtet hat, sinken die Temperaturen in dieser Nacht unter minus zehn Grad.

Bibbernd pellt er sich aus seiner altgedienten Schlafröhre und streift sämtliche Kleidungsstücke über, die er zur Hand hat. Wie ein Kleiderbündel aussehend, stöbert er mit dem Feuerzeug in der Hand durchs Haus, leuchtet in Ecken und Winkel, um etwas zu finden, was seine Lage erträglicher macht.

In der alten Küche entdeckt er einen gusseisernen Ofen, der beim überstürzten Auszug der Familie zur Seite geschoben wurde. Das Ofenrohr ist aus der Wand gerissen und hängt schief aus seiner Rückwand herab.

Gaspard fühlt mit den Fingern vor dem Kamin einen steten Luftzug, der Abzug ist intakt.

Mit bloßen Händen stemmt er sich gegen das eisige Metall, um den Ofen wieder an den Kamin zu rücken. Seine Schuhe rutschen auf dem staubigen Boden, es dauert Minuten, bis er ihn ein paar Zentimeter bewegt.

Nach einer Stunde schweißtreibender Arbeit mit vor Kälte schmerzenden Fingern drückt er das Ofenrohr endlich in den Kamin, stemmt sich erneut kräftig gegen das zentnerschwere Gusseisen, bis die Feuerstelle platziert steht. Vor Anstrengung keuchend hockt er vor seinem Werk, erschöpft aber glücklich.

„Bald bin ich wieder Mensch. Feuer heißt Leben, wenn etwas zum Verfeuern da ist. Porco dio!“

Im Schein des Feuerzeugs schaut er sich nach Brennbarem um. Auf dem Dielenboden entdeckt er einen großen Briefumschlag mit dem Namen Studer darauf. Als er ihn öffnet, fallen Fotos heraus. Auf den Dielen verstreut zeigen sie Augenblicke aus dem Leben der Familie. Er lächelt.

Eine Idylle. Maria als Kind beim Spielen im Garten, Ronald beim Rasenmähen, Mary in einem Liegestuhl beim Lesen einer Zeitschrift.

Seinem ersten Impuls, die Fotografien zum Anfeuern in den Ofen zu stecken, widersteht er trotz Kälte. Er hebt sie sorgfältig auf und legt sie auf der Fensterbank des verbarrikadierten Fensters ab.

Stattdessen zertrümmert er, um Feuerholz zu gewinnen, mit einem Tritt den wurmstichigen Küchenschrank, dessen Türen in einer Staubwolke auf den Dielen landen und zwei Schubladen zum Vorschein bringen, aus denen er dünne Bretter zum Anfeuern bricht.

Durch einen Spalt im Fensterladen treiben Schneeflocken herein.

Gaspard fröstelt, zerknüllt mit klammen Fingern eine alte Zeitung und zündet mit ihrem Papier im Ofen ein Feuer an. Er legt Bretter nach und steht nachdenklich vor den bläulich züngelnden Flammen.

„Va bene! Hoffentlich sieht im Tal keiner den Rauch.“

Die morschen Holzplatten bieten dem Feuer Nahrung, schnell lodern Flammen auf, die Feuerstelle spendet Wärme.

Gaspard lässt die Ofenklappe einen spaltbreit offen, um den Kamin durch seinen Sog in einen fauchenden Schlot zu verwandeln. Er reibt die Hände vor der Glut, aber die Wärme verflüchtigt sich, die kaputten Fensterscheiben halten sie nicht auf.

Gaspard füttert den Ofen mit zerbrochenem Holz, bis er eine glühende Hitze ausstrahlt. Dann schließt er die Ofenklappe und probiert, von Motten zerfressenes Tuch, das er von alten Gardinen abreißt, in die Ritzen der verbarrikadierten Fenster zu stopfen. Glasstücke von zertrümmerten Scheiben knirschen unter seinen Sohlen.

„Eine Höhle, aber solange mich keiner stört, gefällt mir´s hier. Ein eigenes Haus, Wahnsinn!“

Von draußen trägt er feuchtes Kaminholz aus dem Garten herein, um es über der Ofenplatte zu trocknen. Bald duftet die Küche mit den ringsum geschlossenen Fenstern nach Baumharz.

„Ein Wurm wäre der Mensch ohne Feuer.“

Er lacht und stellt sich dicht an den Ofen, als müsse er sich im Innersten auftauen. Eine Schicht Kleidung zieht er bald aus. Als einige Holzscheite getrocknet sind, legt er für das Feuer nach.

Seinen Schlafsack holt er aus einem anderen Zimmer, verschließt die Eingangstür und bereitet sich in der Küche ein Nachtlager. Auf dem Boden auf seinem Schlafsack liegend, schaut er sich die Fotografien aus dem Leben der Familie Studer genauer an.

„Sie hatten hier offenbar eine glückliche Zeit.“

Gaspard lacht.

„Zum Glück für mich hat ihr Glück sich gewendet.“

MORIGNONE

Подняться наверх