Читать книгу MORIGNONE - Volker Lüdecke - Страница 9

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4. Premiere

Auf der Tenne der alten Scheune ist im Handumdrehen ein Theatersaal entstanden, mit Sitzgelegenheiten aus hölzernen Obstkisten, einer rostigen Achse auf zwei Felgen, Ballen aus Stroh und einem Stapel Ziegelsteinen mit Hanfsäcken als Kissen.

Donnergrollen und Blitze über dem Dach schrecken im heimeligen Inneren niemanden, Publikum und Darsteller genießen die friedliche Vorfreude auf das Spiel.

Die Hinterbühne mit der Garderobe für die Darsteller, zwischen einem Öltank und den Stützbalken der Scheune, wird durch einen Sichtschutz aus Bettlaken an Wäscheleinen vor neugierigen Blicken geschützt. Auf der kargen Bühne steht ein alter Stuhl als einziges Requisit.

Ein zersprungener Rückspiegel von einem abgewrackten Peugeot bietet den Gauklern und Marionettenspielern Gelegenheit, sich zu schminken. In der engen Garderobe zwängen sie sich in ihre Kostüme.

„Habe gerade von Alek erfahren, dass wir hier heute nicht mehr wegkommen. Die Straße wird vom Fluss überspült. Keine Chance.“

Fina zerquetscht eine Fliege, die sich auf eine Make-up Dose gesetzt hat. Maria malt sich mit einem Pinsel weißen Puder ins Gesicht.

„So ein Pech! Ponzo hat recht, die Theaterleitung schuldet uns was.“

Die beiden Frauen schubsen sich zum Spaß vor dem schmalen Schminkspiegel gegenseitig weg.

„Ach, Maria, Alek wird den Motor reparieren, die Flut fließt ab. Dann geht´s weiter über Pässe und Täler der Sonne entgegen! Bloß weit weg von den Trilliarden von Mücken hier!“

Fina fängt eine Mücke auf Maria´s Nacken.

„Schau mal, Maria, sie hat dein Blut gesaugt wie ein Vampir! Wenn Du Fieber bekommst, ist diese verfluchte Stechmücke dran schuld.“

Maria fasst sich an die Stelle, wo sie den Mückenstich entdeckt. Sofort fühlt sie sich fiebrig, Schweißtropfen bilden sich auf ihrer Stirn. Besorgt beobachtet Fina die Blässe in Maria´s Gesicht.

„Maria, das war ein Scherz. Du bekommst kein Fieber. Höchstens Lampenfieber. Kriegst Du etwa Lampenfieber vor den Stallburschen hier?“

Fina lacht über Maria´s Panikattacke.

„Der entscheidende Tag deiner Karriere. Zu Gast in der weltberühmten Theatermetropole Morignone.“

Die Musikerin amüsiert sich, Maria lacht halbherzig mit.

„Immerhin der einzige Ort Italiens, wohin sich noch nie ein Theater verirrt hat. Vittorio sollte vor der Bühne einen Maschendrahtzaun aufstellen, falls sie uns mit Gemüse, faulen Eiern oder Pferdeäpfeln bewerfen. Mit ihren Zähnen sehen die wie Kannibalen aus. Vielleicht haben sie schon einen Grill für uns angefeuert und freuen sich auf ihre Mahlzeit. Spiel um dein Leben, Maria!“

„Hör auf, Fina! Wir sind die Avantgarde, olé!“

Die jungen Frauen kichern, als wären sie bekifft.

Zaza stolziert mit strengem Blick an ihnen vorbei. Vor jeder Aufführung kontrolliert sie ihre Mimen. Fina flüstert.

„Maria, vorhin war ich im Dorf. Viele der Häuser stehen leer. Hast Du eine Ahnung, warum?“

„Ich habe Warnschilder gesehen. Zona pericolosa! Vielleicht gibt es hier Bären, Skorpione und Wölfe?“

Maria imitiert einen Bären, der sich vor Fina groß aufrichtet und mit den Tatzen schlägt. Fina heult daraufhin wie eine Wölfin.

Die Antwort aus dem Zuschauersaal folgt ohne Vorwarnung. Ein paar Hunde jaulen in einem jämmerlichen Tonfall zurück. Fassungslos schauen sich die beiden an, Maria stehen die Haare zu Berge.

„Was war das? Fina? Oh Gott, ich trau mich nicht auf die Bühne. Schau, wie meine Hände zittern. Ich habe keine Ahnung, was ich überhaupt spielen soll?“

Hemdsärmelig knufft Fina sie gegen die Rippen, wickelt einen Ärmel ihres karierten Hemds auf und demonstriert der Kollegin ihren Bizeps.

„Lupus vagabundus? Kriegt eine auf die Nase.“

Fina demonstriert eine schnelle Finte und setzt einen Fauststoß gegen einen imaginären Gegner.

„Herzchen, keine Angst, ich beschütze dich. Wölfe sind wie Männer. Glaub mir, von denen habe ich einige erlegt.“

Sie kichern wieder, bis sie Zaza´s drohende Blicke bemerken.

Maria spürt eine Freundschaft zu der drahtigen, kleinen Person, die immer Stiefel trägt. Fina kommt ihr vertraut vor, wie eine alte Freundin.

„Bei den Gastspielen rund um Salzburg gab es wenigstens saubere Handtücher. Schau dir diesen Lappen an, er starrt vor Schmutz. Vorhin habe ich ein kleines Mädchen beobachtet, die sich ohne Zögern Maden in den Mund steckte. Diese Dörfler sind unheimlich.“

Fina nimmt ihr Akkordeon und spielt eine Melodie. Dann überreicht sie Maria einen Songtext.

„Ein neues Lied, Fina? Wir könnten als Duo auftreten, nur wir zwei. Abgemacht?“

Fina betrachtet Maria mit kritischem Blick.

„Sicher, die Gagen in Österreich sind nicht schlecht, besonders in Ischgl. Der ganze Ort eine einzige Touristendisko mit angeschlossener Skipiste. Zeig denen deine Brüste, dann rollt der Rubel!“

Maria protestiert entrüstet, Fina zuckt mit den Schultern.

„Du weißt doch, wie es läuft. Von ein paar armen Ziegenhirten mit ´nem Grashalm zwischen den Lippen lässt sich´s nicht leben. Malerische Bergdörfer, verlassene Hütten, hier herrscht Landflucht. Also spiele ich heute Abend melancholische Melodien für arme, verlassene Seelen.“

Fina spielt kurz eine zarte, traditionelle italienische Melodie an, die Maria berührt.

„Wie stoisch der Regen aufs Wellblech prasselt! Das ist Ghettomusik, Fina. Heute Abend spielen wir für ein Dach über dem Kopf.“

„Bei dem Wetter ist diese Gage ok.“

Zaza kommt wieder bei ihnen vorbei, deutet auf ihre Armbanduhr, um an den Beginn der Aufführung zu erinnern.

„Heute abend wird´s spannender als in dem Biergarten vor drei Wochen. Oder war´s ein Schnitzelrestaurant?“

Maria bläst ihre Wangen auf.

„Ich hätte jetzt Lust auf ein Wiener Schnitzel. Mit Zitronensaft und Pommes!“

„Bist Du etwa schwanger?“

Maria pustet die Luft aus ihrem Mund, bis ihre Wangen greisenhaft einfallen.

„Im Gegenteil.“

Sie albern herum, lachen.

„Aber Maria, würdest Du dich nicht von einem der Zuschauer einladen lassen, wenn´s am nächsten Tag weitergeht und Du ihn in deinem ganzen Leben nie mehr wiedersiehst?“

Wie eine Marionette schüttelt Maria mechanisch den Kopf.

„Und Vittorio? Hast Du bemerkt, wie er dich ansieht? Maria, bist Du blind?“

Etwas verlegen schweigt sie dazu. Fina wertet das als Bestätigung.

„Also ich würde mir den Braten nicht entgehen lassen.“

„Braten? Wie meinst Du das, Fina? Ich verstehe nicht!“

Maria macht ein ärgerliches Gesicht.

„Keine Sorge, Maria, der hat nur Augen für dich.“

„Pst, ich glaube, es geht los.“

Zaza tritt auf die Bühne und bittet die Zuschauer um Ruhe. Durch ein Loch in einem Bettlaken schauen sie zu, im Saal ist kein Platz frei geblieben.

„Toi, toi, toi!“

Fina spuckt ihr über die Schulter und schnappt sich das Akkordeon. Maria beobachtet vom Vorhang aus, wie Fina neben Zaza auftritt und den Eröffnungssong der Show spielt. Zaza singt mit rauchiger Stimme ein Chanson.

Zu ihrer Verwunderung entdeckt Maria neben den Greisen und Kindern auch Tiere im Publikum. Wie selbstverständlich hocken sie neben den festlich gekleideten Zuschauern im Theatersaal. Hunde, Pferde und ein Maultier. Die Hunde sehen wie Wölfe aus, und Maria befürchtet, dass sie sich doch Malaria eingefangen hat und fiebert. Wütend schlägt sie nach einer Mücke.

Ponzo schleicht sich im Rücken der Sängerin auf die Bühne und äfft ihre theatralischen Gesten nach. Das junge Publikum tobt, die Alten grinsen.

Nach dem Chanson dankt Zaza ergriffen und verbeugt sich im Glauben, der Beifall gelte ihr. Da kann sich auch Maria das Lachen kaum verkneifen. Es sieht aberwitzig komisch aus, wie sich der kleine Ponzo hinter der birnenförmigen Figur der hochgewachsenen Transsexuellen verbeugt und mit seinen kurzen Armen ihre Gesten imitiert.

Wenig später fühlt sie eine Hitze in sich aufsteigen, weiß aber nicht, ob es Lampenfieber wegen des bevorstehenden Auftritts, oder Malaria ist. Sie fühlt ihre heiße Stirn und erschrickt.

Voller Glücksgefühle stürmt Zaza von der Bühne in die enge Garderobe, um sich im Kreis ihrer Angestellten feiern zu lassen.

„Habt ihr den Applaus gehört? Sie lieben mich. Hört ihr, wie sie mich immer noch feiern? Ein dankbares Publikum!“

Alle gratulieren brav der Theaterleiterin, sogar Ponzo, der im letzten Moment die Bühne verlassen hat. Maria findet das boshaft.

„Sie haben sogar ihre Tiere mitgebracht. Eine schöne Idee.“

Alle schauen Maria verständnislos an, weshalb sie nun sicher ist, im Fieberwahn zu sein.

„Schnell, wer ist als nächstes dran? Wo ist der Ablaufplan, der sollte hier angepinnt sein.“

Zaza zündet sich nervös eine Zigarette an. Ponzo eilt gleich wieder auf die Bühne, sie hören das Publikum über seine Gags grölen.

Maria fürchtet, bald auftreten zu müssen. Verzweifelt versucht sie, sich an ihren Rollentext zu erinnern, flüchtet zur Toilette, entscheidet sich anders, dreht um und starrt wieder durch den Vorhang.

Der Clown balanciert zu Fina´s Zirkusmusik eine Torte über das Seil und pustet Seifenblasen ins Publikum. Die Zuschauer sind verzückt, die Augen der Kinder leuchten, die Greise wirken entrückt. Der Esel und die anderen Tiere, mittlerweile auch einige Katzen, verfolgen still mit ihren Augen das Spiel. Ihre Schwänze zucken, als witterten sie Beute.

Seine Prometheus Marionette schon bereit für ihren Auftritt, nimmt Vittorio Maria´s Hand in die seine. Ihr Lampenfieber steigt dramatisch. Vittorio lächelt.

„Es lebe Morignone! Die Zuschauer sind wirklich der Wahnsinn. Mach dir keine Sorgen!“

„Warte, bis Du auf der Bühne erscheinst.“

Alek ist von hinten an sie herangetreten. Er scheint eifersüchtig auf Vittorio.

„Wenn Du wissen willst, wann Du dran bist, schau auf den Ablaufplan, Alek! Da siehst Du auch, welchen Rang deine Kunst innehat. Zaza mag dein Jonglage offenbar nicht.“

Verunsichert macht sich Alek auf die Suche nach dem Ablaufplan der Bühnenauftritte.

„Maria, wo ist deine Marionette? Hörst Du mir überhaupt zu? Ihr seid gleich dran, euer Auftritt!“

Zaza´s Frage bringt Maria aus der Fassung. Ihr versagt die Stimme. Vittorio zieht sie aus den Augen der Theaterleiterin.

„Ich hab deine Marionette schon vorbereitet. Alles gut, Du musst sie nur noch spielen. Es wird wundervoll.“

Maria lässt sich ohne Widerstand in den dunklen Tunnel zwischen den Bettlaken leiten, der direkt zur Bühne führt. Ihre Beine fühlen sich taub an, ihre Hände wie gelähmt.

„Bitte, ich will nicht auf die Bühne.“

Sie formuliert Sätze, aber ihre Stimme bleibt tonlos.

Der Tunnel in ihrem Blickfeld wird immer länger. Erst weit hinten, an seinem Ende, erkennt sie ein farbenfrohes Lichterspiel.

Sie denkt an Marie-Antoinette, die zum Schafott geführt wurde. Woher kennt sie ihre Geschichte?

Dann wird ihr schwarz vor Augen.

MORIGNONE

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