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Оглавление3. Körpereigene Kräfte
Die Ärztin, eine schlanke Frau Ende vierzig mit halblangen schwarzen Haaren und einem sonnengebräunten Teint, hat Mary und Ronald zum Gespräch in ihr Büro gebeten. Dr. Mohn, die Maria operierte, thront hinter einem chromfarbenen Schreibtisch, während die Eltern auf zwei Besucherstühlen kauern.
„Unsere Unfallklinik in Sölden ist zwar nicht groß, aber mit modernster Medizintechnik ausgestattet. Nach den Untersuchungen, die wir durchgeführt haben, hat ihre Tochter gute Chancen, wieder aufzuwachen. Die Einblutung im Gehirn dürfte sich auflösen. Zum Glück ist der menschliche Körper so beschaffen, dass er sich regeneriert. Mein Appell an sie: haben sie Geduld! Alles braucht seine Zeit.“
„Fünf Tage im Koma, seit ihrem Unfall!“
Mary´s normalerweise voll klingende Stimme hat sich in ein kaum hörbares Flüstern verwandelt. Sie ist am Ende ihrer Kräfte.
„Frau Dr. Mohn, meine Frau und ich müssen ständig an den Skiunfall von Michael Schumacher denken. Ein schreckliches Beispiel. An wie viel Geduld appellieren Sie? Wie lange wird es dauern?“
Ronald´s Stimme klingt verzagt. Seine Wut über die angeblichen Versäumnisse der Verantwortlichen ist einer depressiven Stimmung gewichen. Sein Blick wandert öfter resigniert zu Boden. Wenn er aufschaut, dann mit Misstrauen, um im Gesicht der Ärztin zu forschen, wie sie wirklich über den Zustand ihrer Patientin denkt.
„Die ärztliche Diagnose für Michael Schumacher ist mir nicht bekannt, Herr Studer. Ich kann aber ausschließen, dass bei meiner Patientin eine irreversible Verletzung vorliegt. Eine Schwellung des Gehirns ist nach solch einem Schlag gegen den Kopf normal. Wir haben die Gehirnflüssigkeit reguliert und geben entzündungshemmende Medikamente. Ich bekomme das in den Griff. Wir tun wirklich alles, um die Selbstheilungskräfte ihrer Tochter zu stärken. Sie wirken besser als die beste Medizin. Eine Operation, direkt im Gehirn, würde Risiken bergen. Die möchte ich zu diesem Zeitpunkt vermeiden. Falls eine OP wider Erwarten ratsam würde, informiere ich sie selbstverständlich vorher.“
Die Sorge über eine negative ärztliche Prognose fällt von den Eltern ab, Mary lächelt sogar.
„Hat sich Maria´s Universität bei Ihnen gemeldet, Frau Dr. Mohn?“
Die Ärztin sucht zerstreut in Unterlagen, die in kleinen Stapeln auf ihrem Schreibtisch liegen.
„Ja, hier, die Unfallversicherung der Universität hat geschrieben. Ich kann ihnen dazu einen Rat geben. Bei der Einschätzung von betrieblichen Unfällen halten sich die Parteien mit konkreten Aussagen meistens zurück. Das liegt an den Versicherern, die Verhaltensregeln für die am Unfallgeschehen Beteiligten ausgeben. Einen Maulkorb. Sie setzen ihre Klientel unter Druck, behaupten, der Schadensfall werde ansonsten nicht reguliert.“
„Schadensfall?“
Der Puls des Hotelier´s steigt steil an.
„Verzeihung, im Zusammenhang mit ihrer Tochter ein unglücklicher Begriff. Es tut mir leid!“
Ronald kämpft mit seinem Groll, die Ärztin beobachtet, wie sein Blutdruck steigt.
„Es gibt einige offene Fragen, Frau Dr. Mohn. Wurde vor der Exkursion ein regionaler Wetterbericht zu Rate gezogen? Ist es überhaupt gestattet, die Studenten zu zweit auf so gefährliches Terrain zu schicken? In meinen Augen eine Verletzung der Aufsichtspflicht.“
Ronald bemerkt in seiner aufbrausenden Art nicht, dass die Ärztin die falsche Ansprechpartnerin ist.
Dr. Mohn erwidert nichts, steht aber auf, um die beiden zur Tür zu begleiten. Ihr Beratungstermin ist beendet. Als der Hotelier sich anschickt, weiterzureden, unterbricht sie ihn gleich.
„Es tut mir leid, Herr Studer, ein Fehlverhalten seitens der Universität kann ich nicht beurteilen. Professor Gründling wirkte auf mich übrigens wie ein netter älterer Herr, der sich für seine Studenten einsetzt. Besonders für Maria. Clara und Vittorio sind zwei Studenten, die sich rührend um Maria kümmern. Während der OP und die folgende Nacht haben sie im Flur der Klinik gewartet. Solchen Einsatz erlebe ich nicht alle Tage.“
Die Eltern drücken der Ärztin die Hand.
„Danke! Vielleicht suchen wir einen Schuldigen, wo es gar keinen Schuldigen gibt? Weil das Schicksal waltet, wie es will, und aus irgendeinem rätselhaften Grund ein Unglück für sie vorgesehen hat. Schauen Sie, mein Mann ist krank vor Sorge. It makes him really feel sick.“
Mary lässt die Hand der Ärztin nicht los. Sie braucht die emotionale Nähe zu ihr. Dr. Mohn zögert, die Eltern einfach hinauszudrängen.
„Mein Mann fährt gleich zurück nach Brig, viel Arbeit wartet auf ihn. In den nächsten Tagen werde ich bei Maria wachen und ihr aus ihrem alten Tagebuch vorlesen. Sie hat es als Schulkind verfasst.“
Dr. Mohn nickt ihr wohlwollend zu, drängt sie nun aber behutsam hinaus.
„Servus, Frau Studer. Wir sprechen morgen wieder miteinander.“
„Ade!“