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2. KAPITEL Der Mönch

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Ende Juni 1505 reiste Martin Luder zu seinen Eltern nach Mansfeld. Über die Gründe dieser Reise ist nichts Genaues bekannt, aber spätere Äußerungen Luthers lassen vermuten, dass es zu einem größeren Konflikt zwischen Vater und Sohn über dessen Zukunftspläne gekommen war: Letzterer hat wohl den Eltern seine Absicht eröffnet, ins Kloster zu gehen. Eben hieran versuchte Hans Luder seinen Sohn zu hindern und legte ihm eine reiche Ehe nahe.1 Das Treffen brachte keine Einigung – und bald überlagerte ein anderes Ereignis alles, was hier eventuell besprochen und beschlossen worden war: Auf der Heimreise wurde Luder am 2. Juli kurz vor Erfurt, in der Nähe des Dorfes Stotternheim2 von einem Blitzschlag überrascht. Der Bericht, den er hiervon gab, wurde vielfach nacherzählt, vor allem der Stoßseufzer, den er dabei getan haben soll: »Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden!«3 Tatsächlich galt Anna, die legendarische Mutter Mariens, als Heilige der Bergleute, doch gilt dies nicht unbedingt für Luders Elternhaus, denn im Mansfeldischen war ihr Kult zu dieser Zeit noch keineswegs heimisch. Dies ist aber nicht der einzige Grund, der skeptisch gegenüber Luthers Bericht macht.4 Anna hat er erstmals 1539 im Zusammenhang seines Stotternheimer Gelübdes erwähnt, und als er dies tat, nutzte er ihren Namen gleich für eine etymologisierende Deutung: »Anna« bedeute im Hebräischen so viel wie Gnade, schon der damalige Ruf habe ihn damit auf die Gnade Gottes verwiesen, die ihm zum Lebensthema wurde. Dieser sinnvolle theologische Zusammenhang legt es, zusammen mit der geringen Bedeutung, die Anna damals in Luders Elternhaus hatte, nahe, davon auszugehen, dass die Nennung ihres Namens eher eine Folge aktiver Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit ist als Ausdruck echter Erinnerung – möglicherweise muss man sich das Geschehen von Stotternheim ohne die Anrufung Annas vorstellen.

Und doch geschah nicht nichts an jenem 2. Juli. Zum Verständnis dessen sind wir auch nicht allein auf Luthers Berichte angewiesen: Sein Bursengenosse Crotus Rubianus sprach schon am 16. Oktober 1519 in einem Brief an Luther im Blick auf dessen Entscheidung zum Fortgang aus dem Studentenwohnheim von göttlichem Willen und einem Blitzschlag.5 So kann es kaum Grund zum Zweifel geben, dass Luder tatsächlich in ein Gewitter geriet und sich hiermit für ihn und sein Umfeld die Hinwendung zum Klosterleben verband. Ihn hatte offenbar, auch das ist glaubhaft, die Angst vor dem jähen Tod gepackt, die im späten Mittelalter verbreitet war, weil er bedeutete, dass man unvorbereitet vor seinen Herrgott trat. In dieser Angst also legte er wohl ein »gezwungenes und erdrungenes Gelübde«6 ab. So klar dieser Ablauf erscheint – so bemerkenswert ist doch, dass Luder bewusst sein musste, dass genau ein solches aus Not getanes Gelübde nicht bindend war. Martin Luder hätte, nachdem er den 2. Juli 1505 überlebt hatte, Gott seinen Dank abstatten können, ohne zu erfüllen, was er unter Druck gelobt hatte.

Dass er genau so nicht vorging, sondern den versprochenen Klostereintritt vollzog, das ist die eigentliche Nachricht von Stotternheim. Nur von hier aus erschließt sich das komplexe Geflecht jener Tage, die man sich noch einmal verdichtet vor Augen stellen sollte: Ein junger Mann reist offenbar aus konkretem Anlass zu seinen Eltern. Es gibt Konflikte, die, so scheint es, den gesamten Lebensentwurf infrage stellen: Studienpläne, Heiratspläne. Auf der Heimreise gerät er in Not und gelobt darin Gott oder seinen Heiligen einen Lebensweg, der jedenfalls den Wünschen des Vaters diametral entgegensteht. Er könnte dieses Gelübde widerrufen und tut es nicht. Darin liegt der Schlüssel zum Geschehen: Das Gelübde stellte, so scheint es, einen idealen Ausweg aus der schwierigen Situation dar, in die ihn die Auseinandersetzung mit dem Vater gebracht hatte. Dieser musste nun nicht mehr nur mit der Entscheidung des unbotmäßigen Martin rechnen, sondern er, der irdische Vater, wurde durch das Gelübde auf den himmlischen Vater als das Gegenüber verwiesen, dem sich der Sohn mehr verbunden fühlen musste als ihm selbst. Hans Luder sah selbst den transzendenten Kampfplatz eröffnet, verwies auf die Gefahr einer Täuschung7 oder gar der Verblendung durch den Teufel,8 doch gegen die Macht, die der Sohn ins Feld führte, konnte er nicht ankommen. Zornig entzog er ihm die ehrfurchtsvolle Anrede »Ir«, die er gewählt hatte, seit Martin Magister geworden war, und kehrte wieder zum einfachen »Du« zurück,9 aber da war der Sohn schon Mönch geworden, und schließlich musste auch Hans Luder dies widerwillig akzeptieren.

Martin Luder entschied sich für den Eintritt in das Erfurter Augustinerkloster, nahe der Georgenburse. Es gehörte zur Observanz, das heißt zu demjenigen Flügel dieses Bettelordens, der auf einer besonders strikten Regelbefolgung beharrte. Diese Bewegung war seit 1461 insbesondere von Andreas Proles gefördert worden, dessen Amt als Generalvikar der Reformklöster 1503, also kurz vor Luders Klostereintritt, an Johannes von Staupitz übergegangen war; dieser Ordensmann sollte als Beichtvater und geistlicher Begleiter für Luders Entwicklung in persönlichen und theologischen Fragen noch eine ganz entscheidende Bedeutung gewinnen. Die Erfurter Augustinereremiten dürften für Luder aber nicht allein wegen ihrer strengen Haltung attraktiv gewesen sein, sondern auch aufgrund ihrer qualitätvollen Theologie. Bis kurz vor Luders Eintritt gehörte zum Konvent mit Johannes von Paltz einer der wichtigsten Vertreter der »Frömmigkeitstheologie« (Berndt Hamm), der es um die reflektierte spirituelle Anleitung des Alltags ging. Bedeutsam für Luder dürfte wohl seine Schilderung des Lebens im Kloster als eine via securior, als sicherer Weg zum Heil, gewesen sein: Gerade weil der Mensch selbst schwach und zur Sünde geneigt ist, konnte im Kloster ein Weg beschritten werden, der den frommen Mönch zur Gnade führte.

Luder kam also in ein theologisch vitales, spirituell anspruchsvolles Kloster – und die Umsetzung der Entscheidung, ihm beizutreten, nahm nicht viel Zeit in Anspruch: Am 16. Juli lud Luder einige Freunde zum Abschied zu sich ein.10 Am folgenden Tag, dem Tag des heiligen Alexius,11 klopfte er an die Klosterpforte. In der im Orden vorgeschriebenen Weise musste er zunächst mehrere Monate als Gast des Klosters leben, bis sein Entschluss als gereift akzeptiert werden konnte. Die erste Zeit im Konvent war ganz vom Novizenmeister Johann Grevenstein bestimmt, der Martin Luder in die Regeln der monastischen Existenz einführte. Es fällt auf, dass Luther noch in der Rückschau des Jahres 1532 konstatiert, Grevenstein sei unter der »verdammten Kutte« ein wahrer Christ gewesen12: einer der wenigen Momente, in denen Luther auch im Nachhinein seinem klösterlichen Leben und Umfeld noch Positives abzugewinnen versteht.


Das Erfurter Augustinerkloster, wo Luther als Mönch lebte.

Nach Ende der Prüfungszeit legte Luder die Profess ab. Bedenkt man, wie oft der Weg des Reformators als Suche nach einem gnädigen Gott beschrieben wurde,13 so fallen die Formulierungen dieser Professfeier auf: Der junge Novize wurde gefragt, was er begehre, und hatte zu antworten: »Gottes und Eure Barmherzigkeit«14: So war der Gang ins Kloster schon Teil des Weges zu dem barmherzigen Gott. Und so hat Luder diesen Schritt wohl auch empfunden. Noch in der Rückschau dringt durch, dass jedenfalls die Anfangszeit eine spirituelle Beruhigung mit sich brachte: Der Satan war hiernach im ersten Jahr des Priesteramtes wie des Mönchtums ganz ruhig.15 Und auch in den folgenden Jahren seines Mönchslebens dringt aus seinen Äußerungen eine hohe innere Bejahung des monastischen Lebens durch, wenn er etwa 1515/16 betont, dass Grundlage für die Entscheidung zum Mönchsleben die Liebe, die caritas, sein müsse.16


Luther als Mönch, Lucas Cranach (Kupferstich von 1520)

Entsprechend vorsichtig muss man mit späteren Äußerungen umgehen, in denen Luther seine gesamte monastische Existenz rückblickend infrage stellte. Solche Äußerungen stammen aus der Zeit, nachdem er das Kloster verlassen hatte, und sollen diesen Schritt legitimieren. Wer mit einer solchen Absicht redet oder schreibt, neigt dazu, die frühere, nun verneinte Existenz in besonders grellen Farben zu schildern, um den späteren Bruch als umso positiver darzustellen. Luther ging es mit Erinnerungen nicht anders als anderen auch: Sie sind selbst lebendig, verschieben und verändern sich, zumal dort, wo es nicht um einzelne äußere Fakten geht, sondern um Gefühl und Selbstwahrnehmung. So wollte Luther herausstreichen, dass er ein besonders heiliger Mönch gewesen sei,17 ja bis zum Wahnsinn im Mönchtum gesteckt habe.18 Das sagt aber über die seinerzeitige Haltung nicht viel, sondern darüber, dass er die Anfänge seiner Biographie als Gegenbild zu seiner später gewonnenen Lehre von der Rechtfertigung des Menschen ohne Werke, allein durch den Glauben, stilisieren wollte.

Einen realistischeren Eindruck gibt ein Schreiben Luders vom 26. Oktober 1516. Er wohnte zu dieser Zeit schon in Wittenberg und schrieb an seinen kurz zuvor nach Erfurt zurückgekehrten Mitbruder Johannes Lang:

»Ich brauche fast zwei Schreiber oder Kanzler. Ich tue den ganzen Tag beinahe nichts weiter als Briefe schreiben. Deshalb weiß ich nicht, ob ich immer wieder dasselbe schreibe; du wirst es ja sehen. Ich bin Klosterprediger, Prediger bei Tisch, täglich werde ich auch als Pfarrprediger verlangt; ich bin Studien-Rektor, ich bin Vikar, d.h. ich bin elfmal Prior, Fischempfänger in Leitzkau, Rechtsanwalt der Herzberger in Torgau, halte Vorlesungen über Paulus, sammle Material für den Psalter, und das, was ich schon gesagt habe: die Arbeit des Briefschreibens nimmt den größten Teil meiner Zeit in Anspruch. Selten habe ich Zeit das Stundengebet ohne Unterbrechung zu vollenden und zu halten. Dazu kommen die eigenen Anfechtungen des Fleisches, der Welt und des Teufels. Siehe, welch ein müßiger Mensch ich bin.«19

Dieser Brief zeigt den mittlerweile etwas über Dreißigjährigen keineswegs als einen um seine Frömmigkeit und Erlösung kreisenden skrupulösen Mönch, sondern gibt eher den Eindruck eines dynamischen, sich in einer Vielzahl von Aufgaben verzettelnden Funktionsträgers, der die von den Eltern mitgegebene Aufsteigermentalität nun eben nicht im Amt eines Juristen verwirklicht, sondern in Kloster und Universität. Die Anfechtungen, tentationes, kommen noch dazu – gerade diese beiläufige Bemerkung macht deren Selbstverständlichkeit deutlich: übrigens nicht nur für Luder selbst, sondern auch für den Adressaten, den Ordensbruder. Die spirituellen Bedrängnisse bestimmten keineswegs die gesamte Existenz. Und Luder hat auch offenkundig durchaus nicht alle Ordensregeln sorgsam befolgt. Man wird bei einem Menschen, der selbst darüber klagt, das Stundengebet nicht regelmäßig und vollständig erfüllen zu können, schwerlich sagen können, dass er ein Übermaß an mönchischer Regelerfüllung aufweise – der sanctissimus monachus, der allerheiligste Mönch, als den Luther sich später charakterisiert,20 lässt sich in diesen Zeilen nicht wiedererkennen, vielmehr derjenige, der die Privilegien nutzt, die einem Lektor nach den constitutiones des Ordens zukamen: nämlich das Stundengebet auch für sich außerhalb des Chores zu sprechen.21 Jedenfalls klingt das Schreiben aus der Klosterzeit selbst zu dieser Frage sehr viel gelinder und ruhiger als die Rückschau von 1525, wonach Luder als Mönch keine Ruhe gehabt habe, bis er nicht das Stundengebet gebetet habe.22

Die Frömmigkeit des Mönches Martin Luder wird man sich so wohl weniger ängstlich und weniger extrem vorstellen müssen, als es vielfach in Fortschreibung seiner eigenen Legitimation des Klosteraustritts erscheint. Es sind nicht nur die Anfechtung und ihre Steigerungsform, die Verzweiflung, die dieses Klosterleben prägen, sondern auch mystische Erfahrungen – bis zum Empfang von Visionen.23 »Auch ich war in dieser Schule, wo ich meinte, unter den Chören der Engel zu sein, obwohl ich doch eher unter die Teufel verkehrt war«, heißt es in einer sehr späten Erinnerung24 in offenkundiger Anspielung auf die Engelschöre im mystischen Corpus Dionysiacum. Solche Äußerungen zeigen, wie sehr Luder in der monastischen Existenz aufging. Noch Anfang 1519 konnte er erklären, die Klöster seien einst Orte zur Einübung in die christliche Freiheit gewesen und seien dies auch noch.25 Zu einem Zeitpunkt also, da nach allgemeiner Datierung Luther schon zu wesentlichen reformatorischen Einsichten gekommen war, konnte er der monastischen Lebensform weiterhin Positives abgewinnen – von einem Leiden an der Forderung nach Werkgerechtigkeit oder dergleichen fehlt hier jede Spur.

Man wird sich daher hüten müssen, die theologische Deutung des Klosterlebens, zu der Luther später gelangte, einfach als Aussage über seine tatsächlichen Empfindungen als Mönch zu nehmen. Näher kommt man diesen wohl, wenn man die oben angesprochene frömmigkeitstheologische Wertung des Klosterlebens als via securior einbezieht, welche die mönchische Existenz in ein Gnaden- und Barmherzigkeitshandeln Gottes eingebunden wusste und die eigene Existenz nicht in ein solches Gegenüber zu Gott stellte, als müsste diesem das Heil durch eigenes Tun abgerungen werden, wie es der spätere Vorwurf der Werkgerechtigkeit will.

Luder war also ganz in den gängigen Frömmigkeitskontext eines spätmittelalterlichen Klosterlebens eingefügt. Gleichwohl ist es unverkennbar, dass er durch das geschlossene Sozialsystem des Klosters und seine Regeln offenbar nicht den gewünschten letzten Halt gewann – seine Gespräche mit dem Beichtvater Staupitz legen Zeugnis davon ab, wie ihn manches Problem immer und immer wieder beschäftigte. Grundsätzlich war das Leben im Orden stark reglementiert, für individuelle Gestaltung kaum Raum. Der Ort des Individuellen war das Gewissen, das der junge Bruder in die Beichte trug. Den gemeinsamen Alltag prägte der feste Ablauf der Gebetszeiten, die, beginnend mit der frühmorgendlichen Matutin, den ganzen Tag strukturierten. Liturgie und Lesung der Heiligen Schrift bildeten somit einen festen Bestandteil im Leben eines Mönchs – und die Bibel wurde für Luder immer mehr zum Mittelpunkt.

Nach seinen eigenen Erinnerungen hat er bis zum Alter von zwanzig Jahren nie eine Bibel gesehen.26 Als Student der artes bekam er einmal eine in die Hände und las darin die Erzählung von Hannah, der Mutter Samuels (1 Sam 1f.).27 Nach dem Klostereintritt haben ihm dann die Brüder, als er im Kloster an sich verzweifelt sei, eine Bibel gegeben, die er immer wieder gelesen28 und sich ins Gedächtnis eingeprägt habe.29 Den Inhalt des mit einem roten Einband versehenen Buches hat er sich so gründlich angeeignet, dass er sich erinnern konnte, was auf jeder Seite stand.30 Zum Verstehen nutzte Luder, wie dies im späten Mittelalter üblich war, die Glossa ordinaria,31 eine Sammlung von Bibelauslegungen seit der Väterzeit, die im 12. Jahrhundert zusammengestellt worden war.

Bedeutsam wurde für den Mönch Luder der Weg ins Priesteramt. Voraussetzung hierfür war nicht unbedingt ein Theologiestudium, wohl aber die Weihe. Diese erhielt Luder wohl am 3. April 150732 in einer Kreuzgangkapelle des Erfurter Domes durch den Mainzer Weihbischof Johann Bonemilch von Laasphe. Den biographischen Höhepunkt stellte die Primiz in der Augustinerkirche, also der Klosterkirche seines Ordens, dar: die erste Zelebration der Messe in eigener Verantwortung. Luder legte bei dieser Gelegenheit besonderen Wert auf die Gegenwart des Vaters. Erst als dieser zugestimmt hatte, legte der Konvent den Termin auf den Sonntag Cantate, den 2. Mai 1507, fest.33 So wurde der Übergang von den bisherigen familiären Banden in den Priesterstand augenfällig. Und auch der Vater setzte seine eigene Symbolik: Er schickte 20 Gulden für das Festmahl und kam selbst in Begleitung von zwanzig Personen, deren Verpflegung er selbst vollständig finanzierte.34 Deutlicher konnte man die Mitteilung kaum machen: Hans Luder kam als reicher Herr, um seinen Sohn, den Bettelmönch, zu ehren. Seine Generosität dürfte den Tag emotional zusätzlich aufgeladen haben, der ohnehin für Luder großes Gewicht haben musste. Mehr als dreißig Jahre später berichtete er, er sei bei seiner ersten Messe vor Angst beinahe gestorben.35 Konkreter erinnerte er sich, dass er beim Sprechen der Worte Aeterno vivo vero Deo – in anderen Erinnerungen nennt er andere Textstellen36 – vor Schrecken beinahe vom Altar fortgelaufen sei und nur von seinem Prior zurückgehalten werden konnte.37 Diese Ängstlichkeit des jungen Luder lag zunächst darin begründet, dass ein falsches Sprechen der Worte als Sünde galt.38 Hinzu kam aber wohl auch die weit über spezifisch religiöse Funktionen hinaus nachvollziehbare Schwierigkeit, sich öffentlich in einer Rolle zu bewähren, für die es feste Schemata gibt und deren Regeln man exakt beherrschen muss. Immerhin aber verhinderte das Eingreifen des Priors wohl, dass das Ganze zu einer öffentlichen Peinlichkeit wurde, denn Luder konnte am nächsten Tag seinem grollenden Vater vorhalten, es sei »alles wol geratten«.39

Kurz nach der Priesterweihe hat Luder unter Anleitung des regens studiorum Johannes Natin das Theologiestudium an der Erfurter Universität aufgenommen: ein weiterer Schritt, der die vollzogene Lebenswende ausdrückte und zugleich befestigte. Dem mittelalterlichen Brauch entsprechend, wurde er noch als Theologiestudent bald auch Dozent der artes im Erfurter Augustinerkloster. Diese Aufgabe brachte 1508 einen ersten Wechsel nach Wittenberg, wo die Augustinereremiten einen artes-Dozenten stellten und diese Position mit Luder besetzten. Am 9. März 1509 erlangte Luder in Wittenberg den Grad eines Baccalaureus biblicus,40 durfte also Vorlesungen über biblische Bücher halten. Im Herbst 1509 wurde er dann in Erfurt Baccalaureus sententiarius41 und hatte als solcher die Sentenzensammlung des Petrus Lombardus, das Grundlagenwerk mittelalterlicher Theologie, zu kommentieren. Die aus diesem Zusammenhang erhaltenen Randbemerkungen und auch einige zu anderen Werken zeigen Luder als einen kritischen, an den Kirchenvätern orientierten, aber keineswegs von der Scholastik gelösten, aufstrebenden Theologen. Dass er Karriere innerhalb des mittelalterlichen Systems hätte machen können, ist von diesen frühen Äußerungen her keineswegs ausgeschlossen. Er übte sich in seine neue Rolle ein, und dies auf der Höhe der Zeit.

Möglicherweise fand allerdings die Vorlesung bald ein jähes Ende – wenn die ältere Annahme stimmen sollte, dass Luder 1510 in Ordensangelegenheiten nach Rom aufbrechen musste. Jüngere Forschungen haben es allerdings wahrscheinlicher erscheinen lassen, dass diese Reise erst 1511 begann und bis ins Frühjahr 1512 währte.42 Dann würden sich manche Schwierigkeiten der älteren Deutung glätten: Luder wäre dann nicht, wie man früher meinte, als Vertreter von Konventen, die im Streit mit dem Ordensgeneral Staupitz lagen, dorthin aufgebrochen, sondern als dessen Parteigänger. Hierzu passt jedenfalls, dass ihn der Weg nach der Rückkehr bald an der Seite von Staupitz nach Wittenberg führte.


Abt Johann von Staupitz, anonymes Gemälde (um 1522).

In jedem Falle wurde er auf dieser weitesten Reise seines Lebens auf eine für ihn zum Teil erschütternde, zum Teil begeisternde Weise mit den Besonderheiten der Renaissancestadt Rom konfrontiert. Er eilte »durch alle kirchen und klufften«43 und war nachhaltig von der Präsenz des Martyriumsgedenkens beeindruckt, erlebte aber auch die reiche Spendung von Ablässen und die Auswüchse eines ironischen Verhältnisses zur Religion. So erinnerte Luther sich später an Priester, die statt der Worte, durch die sich nach mittelalterlicher Lehre das Brot des Abendmahls in den Leib Christi wandeln sollte, in blasphemischer Weise sagten: »Brot bist du und Brot wirst du bleiben.«44 Selbst wenn diese Erinnerung zugespitzt und verfärbt sein sollte, spiegelt sich in ihr wohl doch wider, dass Luder jenen Ernst, der ihn selbst beim Vollzug seiner ersten Messe zugleich getragen und belastet hatte, in der Metropole Rom, die von einem hastigen geschäftigen Messbetrieb und intellektuellem Spott bestimmt war,45 in der Regel nicht wiederfand. Auch diese Erfahrungen aber brachten eher Irritation als tief greifende Erschütterung, verdichteten sich erst im Nachhinein zu einem Gesamtbild des Schreckens. Wenn Luther später erklärt, es sei der göttliche Ratschluss gewesen, der ihn nach Rom gebracht habe, damit er den Sitz des Teufels sehe,46 so entspringt dies seiner späteren, erst sehr zögerlich vorgenommenen Identifizierung von Papst und Antichrist, nicht aber seiner zeitgenössischen Wahrnehmung. Bleibend wichtiger war die Nähe zu Staupitz, die von nun an einen wichtigen Bestandteil seines Lebens ausmachte.

Luder geriet in den Einflussbereich des souveränen Ordensmanagers, den eine zutiefst innerliche Frömmigkeit und Theologie auszeichnete. Seinerseits wusste auch dieser, was er an dem jungen Mönch hatte: Er bestimmte ihn nicht nur zu seinem Nachfolger in der Wittenberger Professur, sondern im Mai 1515 auch zum Provinzialvikar der Reformkongregation in Meißen und Thüringen – als solcher war er nun auch in leitender Funktion für sein früheres Erfurter Kloster verantwortlich. Diese Schritte zeigen: Luder hatte in Staupitz nicht nur einen geistlichen Vater gefunden. Staupitz führte auch in gewisser Hinsicht das Werk des leiblichen Vaters fort: Hatte dieser seinem Sohn eine Aufsteigermentalität einzuimpfen versucht, so verhalf Staupitz Luder nun tatsächlich zu einem rasanten Aufstieg: Mit noch nicht dreißig Jahren Theologieprofessor, mit einunddreißig Jahren in einer leitenden Ordensfunktion. Staupitz baute den jungen Mann auf, half ihm zu einer Karriere, deren Rahmen seinen eigenen Vorgaben einer moderaten spätmittelalterlichen Reform entsprach. Luder wurde dank Staupitz nach den Maßstäben seiner Zeit ein Erfolgsmensch.

Martin Luther

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