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VORWORT Warum gibt es dieses Buch?

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»Glaubst du mir das? Die Brust sollte exakt die Größe einer Honigmelone haben, die hatte sie sogar dabei!«, sagte Christian, mein Kollege, auf unserem Berliner Balkon mit Blick auf den Gendarmenmarkt. Er rückte seine Brille auf der Nase gerade und war sich mal wieder sicher, die außergewöhnlichste Patientengeschichte des Tages geliefert zu haben. Wann immer wir uns auf dem Balkon unserer Praxis in Berlin treffen, geht es darum, welchen skurrilen Anfragen wir uns heute schon gegenübersahen und wie mehr oder weniger geschickt wir mit ihnen umgegangen sind.

»Stell dir vor«, sagte ich, »eine Patientin wollte, dass ich ihre Brustwarzen komplett entferne.« Ich beobachtete Christians Reaktion, wie er scharf den Atem in die kühle Luft ausstieß, sodass es fast aussah, als würde er rauchen – wie die meisten, die sich auf diesem Balkon treffen. Nur wir beide kommen dorthin, um tatsächlich frische Luft zu schnappen, die wir oft so dringend brauchen.

»Es ist schon wahnsinnig«, erwiderte er, und für einen Moment beobachteten wir still, Seite an Seite, wie eine Mutter ihren kleinen Sohn über den Markt zog und sich eine Traube von Touristen geschlossen Richtung Konzerthaus bewegte. In der Adventszeit kann man von hier aus das Treiben des Weihnachtsmarktes beobachten und im Sommer Konzerten lauschen – ein Fenster zur Realität im Wahnsinn unserer Praxisalltagsblase. Zwar nutzen wir diese gemeinsamen Momente hier, um etwas Abstand zu gewinnen, aber vor allem, um kollegiale Unterstützung zu finden. Nichtsdestoweniger können wir das Dilemma nicht vermeiden, jeden Tag aufs Neue entscheiden zu müssen, was noch »normal« ist.

»Entfernung der Brustwarzen? Warum denn das?«, fragte Christian.

Ich lehnte mich an das hohe Geländer. »Sie findet Brustwarzen einfach nicht schön. Schon das Wort ›Brustwarze‹ ruft Ekel in ihr hervor«, sagte ich.

Wieder wurden wir beide still, denn wir wissen: Hinter jeder der bizarren Geschichten steckt ernst zu nehmender Leidensdruck. Je mehr eine Geschichte zunächst zum Lachen anmutet, umso trauriger ist meist der Hintergrund, vor dem sie entstanden ist.

Gemeinsam mit meinem Kollegen Christian Roessing leite ich unter dem Namen »Metropolitan Aesthetics« zwei Praxen für plastische und ästhetische Chirurgie in Köln und in Berlin. Wenn mich jemand fragt, was ich beruflich mache, und ich antworte, dass ich plastischer Chirurg bin, polarisiert diese Aussage enorm: Entweder wird die plastische Chirurgie als Teufelswerk verschrien oder als etwas Wunderbares anerkannt, das nicht mehr wegzudenken ist. Allein das Wort »Schönheitschirurgie« scheint quasi dazu aufzurufen, das Urteil, das jeder für sich im stillen Kämmerlein und vermutlich recht schnell über diese Disziplin der Medizin gefällt hat, auszusprechen. In meiner Karriere als plastischer Chirurg habe ich gelernt, dass das frühe Urteilen und das damit oft einhergehende Verurteilen nicht förderlich ist oder sogar Schaden anrichten kann. Es ist wichtig, Patienten zuzuhören und die Geschichte hinter ihrem Leidensdruck verstehen zu können oder zumindest verstehen zu wollen. Denn rein aus Spaß kommt sicherlich niemand zu mir in die Praxis, dafür sind die meisten Eingriffe mit zu vielen Unannehmlichkeiten und Aufwand verbunden, von der finanziellen Belastung ganz abgesehen. Dass der Leidensdruck unterschiedlich groß und die Motivation hinter einem Wunsch mal mehr, mal weniger nachvollziehbar ist, macht es für mich als Arzt und auch als Dienstleister, der ich als plastischer Chirurg bin, schwieriger als für andere Ärzte, angemessene Entscheidungen zu treffen.

Unser Praxisbalkon in Berlin-Mitte ist mittlerweile der ganz zentrale Ort unseres Austausches geworden, mit Rezeptionistinnen, Schwestern, Ärzten, manchmal auch nur mit sich selbst. Alle, die hier arbeiten, erleben im Praxisalltag die wildesten, verrücktesten und manchmal auch traurigsten Geschichten. Der Balkon hat sich von allein und ungeplant zu diesem Anker im betriebsamen Tagesgeschäft entwickelt. Die Treffen dort sind nicht verabredet, sondern immer spontan. Der Austausch hilft bei der Bewertung und Einordnung des jeweiligen Problems. Zudem beruhigt es zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der solche Erfahrungen macht, denn ich frage mich nicht selten: Bin ich verrückt oder sind es die anderen? Manchmal stellen Christian und ich uns vor, wie einfach das Leben wäre, wenn wir nicht jeden Tag mehrere Male entscheiden müssten, ob ein Wunsch zu absurd ist, um ihn in die Realität umzusetzen.

Wenn ich ehrlich bin, wäre unser Job deutlich unkomplizierter, wenn es klare Regeln gäbe, wie zum Beispiel, dass eine Brust nicht größer als eine Honigmelone operiert werden darf. Aber für die plastische Chirurgie gibt es keinen Katalog, in dem man mal eben nachschlagen kann, wie viele Milliliter Filler in den Lippen jetzt in Ordnung sind oder ob man Rippen herausbrechen darf, wenn die Patientin den Wunsch hegt, eine superschlanke Wespentaille zu haben. Warum aber möchte sich jemand derart wehtun und dabei seine Gesundheit riskieren, nur für eine schmale Taille? Unsere Rippen sind keine Dekoration, sie sind essenziell, weil sie unsere Organe schützen. Trotzdem sehe ich mich als plastischer Chirurg in der Verantwortung, jeden Patienten absolut ernst zu nehmen und jeden einzelnen Patientenfall individuell zu bewerten: Kann und möchte ich diesen konkreten Wunsch umsetzen oder ziehe ich hier eine Grenze und nehme den Eingriff nicht vor? Genau das ist mein Dilemma: Wo ist diese Grenze? Welchen Wunsch kann ich persönlich nachvollziehen, auch wenn er medizinisch, wie die Wespentaille, ein gefährliches Unterfangen ist? Oder, was definitiv noch schwieriger zu entscheiden ist: Was ist medizinisch machbar, aber moralisch nicht mehr vertretbar, wie möglicherweise die Brust ohne Brustwarzen? Im Prinzip kommen wir als Handwerker – ausgestattet mit Skalpell, Schere und Faden – den aktuellen Veränderungen, besonders jenen in der virtuellen Welt, häufig gar nicht mehr hinterher.

Im letzten Sommer hatte ich eine Patientin, die sich für eine Oberschenkelstraffung interessierte. Als ich ihre Schenkel sah, wusste ich zwar, warum sie den Eingriff wünschte, aber mir fehlten danach kurz die Worte. Ihre Beine waren tätowiert, von den Knöcheln bis hoch zum Schambein. Auf dem einen Oberschenkel stand ein Männername, auf dem anderen waren die Worte »Not for Jack« mit einem Pfeil tätowiert, der zur Vagina zeigte. »Ich hab ein paar Jahre in Indonesien gelebt und mein Freund ist, nun ja, etwas ärgerlich geworden, als ich eine Affäre hatte«, begann die Patientin zu erzählen. »Können Sie die Straffung so machen, dass man die Tattoos nicht mehr sieht?« Natürlich konnte ich das, getan habe ich es aber nicht, da die Patientin zum geplanten Termin nicht erschienen ist. Aus der Dienstleisterperspektive kann ich so einiges machen: von Penisverlängerungen bis zu aufgespritzten Lippen, die wie Schlauchboote aussehen. Als Arzt und als Mensch möchte ich aber nicht alles machen. Deshalb gibt es einige Operationen, die ich nicht durchführe.

Aber viel mehr bereiten mir die Patientenwünsche Bauchschmerzen, die nicht so einfach zu bejahen oder abzulehnen sind. Wann sind Lippen durch das Aufspritzen attraktiv voluminös, wann übertrieben und sogar unpraktisch, weil man nicht länger aus einem normalen Glas trinken kann?

Mir fällt auf, dass die Anfragen in letzter Zeit immer absurder werden. Es ist eine Zeit des Umbruchs, das merkt man in der plastischen Chirurgie ganz deutlich. Wenn ich mir die Wünsche und die Leiden meiner Patienten anhöre, habe ich immer öfter das Gefühl, dass wir die meiste – oder besser gesagt: die wichtigere – Zeit offensichtlich in der virtuellen Welt verbringen. Wir wollen einen so tollen Po wie Kim Kardashian haben, die über 150 Millionen Follower auf Instagram hat, oder Selina Gomez’ volle Lippen, die sie in ihren Musikvideos in die Kamera hält. Wir folgen diesen Stars in den sozialen Medien, als wären sie unsere Freunde, nur dass wir sie nie, wirklich niemals, natürlich und das heißt unperfekt sehen. Selbst #nomakeup-Selfies, die die ungeschminkte Wahrheit zeigen sollen, das authentische Ich, sind nicht hässlich, sondern nur eine weitere Variante von schön – vielleicht ungeschminkt, dafür ebenso professionell ausgeleuchtet in Szene gesetzt. Als Model reicht es heute nicht mehr, auf der Sedcard die perfekten Maße stehen zu haben. Es muss nun auch vermerkt sein, wie beliebt man ist, sprich: wie viele Follower man hat. Während es in unserer Gesellschaft statistisch mehr alte als junge Menschen gibt, sieht man in der Werbung und in Filmen fast nur junge, attraktive Frauen und Männer, als könnte man mit Menschen jenseits der 50 keinen Blumentopf mehr gewinnen. Mit sich zufrieden zu sein wird immer schwieriger. Im Dschungel der perfekten Menschen, die uns von unseren Smartphones und Laptops anlächeln, fühlt man sich schnell falsch. All die Fotos und Videos suggerieren: Nur wenn ich perfekt aussehe, bin ich erfolgreich. Schönheit ist zum Statussymbol geworden und das erzeugt massiven Druck. Der Vergleich lauert überall, und bis man das Selfie ausreichend bearbeitet hat, um es mit der Welt zu teilen, ist wieder ein Nachmittag vorbei.

Der Optimierungswahn scheint uns alle überfallen zu haben: Ein schlanker, trainierter Körper, weiße Zähne und glatte, ebenmäßige Haut sind das Ideal von heute. Während Tattoos, Bleaching und Strähnchen nicht mehr wirklich schockieren, scheint es noch immer Aufruhr zu geben, wenn über Botulinumtoxin, Hyaluronsäure und Fettabsaugen gesprochen wird. Dabei können all diese Methoden helfen, unseren Körper zu verschönern. Es ist einfach, Menschen mit einem Stempel zu versehen, wenn sie sich kosmetischen Eingriffen unterziehen. Sie werden vielfach verdächtigt, wenig intelligent zu sein oder sich nur zu leicht von Celebritys beeinflussen zu lassen. Dabei geht dem Entschluss, sich operieren zu lassen, doch meist ein lange bedachter Wunsch voraus und nicht selten auch jahrelanges Leiden. Hinzu kommt eben auch eine Beeinflussung, der wir alle mehr oder weniger ausgesetzt sind. Wir gehen vielleicht unterschiedlich damit um. Aber letztlich möchten die meisten von uns schön aussehen und dabei trotzdem nicht aus der Reihe tanzen. Einfach »normal« sein, hübsch, aber im besten Fall eben auch ohne die störende Hakennase oder ausladende Reiterhosen, denn diese sieht man auf Instagram selten.

Auch wenn vielleicht nicht alle von uns dauernd im Wartezimmer eines plastischen Chirurgen sitzen, so stehen wir doch lange genug vor dem Spiegel, um das perfekte Selfie für unseren Account zu schießen. Achtundzwanzig Versuche braucht man laut aktuellen Studien im Durchschnitt, um eines zu finden, das man mag. Wenn man es hochgeladen hat, geht es erst richtig los: Man wartet verzweifelt auf die aufploppenden Benachrichtigungen, die einem sagen, wie beliebt man ist, wie »schön« man ist. Ein Like mehr als beim letzten Foto ist ein Erfolg. Selbst Freunde von mir, die sich früher nie besonders um ihr Aussehen geschert haben, posten sich jetzt jeden Tag auf Instagram. Wir haben den Zenit der Selbstdarstellung erreicht. Oder kann es noch extremer werden?

Auf dem Balkon begann es zu regnen. Ich dachte darüber nach, warum Christian und ich uns immer nur die absurden Fakten erzählen, aber nie die Geschichten dahinter. Es wurde Zeit, zurück in den OP zu gehen.

»Wir müssen die Geschichten aufschreiben«, sagte ich. Christian nickte. Um die Hintergründe zu verstehen, das große Ganze, bedarf es doch weit mehr als zehn Minuten auf dem Balkon.

In diesem Buch möchte ich Ihnen nun diesen Backstageblick ermöglichen, Sie mit hinter die Kulissen meines Praxisalltags nehmen. Ob Mutter, Restaurantbesitzer oder Promi, sie alle sitzen bei mir im Arztzimmer und leiden unter schlaffen Brüsten, Falten oder anderen vermeintlichen körperlichen Makeln. Was sie bewegt, welche Motivation sie zu mir führt und was der aktuelle Beautyhype über jeden von uns verrät, dem möchte ich in diesem Buch auf den Grund gehen.

Dabei werden wir uns ansehen, wie vor allem die sozialen Medien den Druck auf uns erhöhen (Kapitel 1), warum meine Patienten gern die Straßenseite wechseln, anstatt mich nett zu grüßen (Kapitel 2), wie selbstverständlich Menschen heute dem Schönheitschirurgen einen Besuch abstatten (Kapitel 3), was es mit dem aktuellen Optimierungswahn auf sich hat und woher wir eigentlich wissen, was ästhetisch und was normal ist (Kapitel 4). Dafür erzähle ich Ihnen die verschiedensten Szenen aus unserem skurrilen Praxisalltag (Kapitel 5), argumentiere, warum man sich in bestimmten Lebenslagen nicht auf den OP-Tisch legen sollte (Kapitel 6) und wann ich definitiv dazu rate (Kapitel 7). Ich erkläre, inwiefern Ideale auch eine Form der Unterdrückung sein können und dass Patienten, je nach Kultur, ganz andere Vorstellungen von Attraktivität und Schönheit haben (Kapitel 8). Außerdem geht es um das Wundermittel Botulinumtoxin und warum das Älterwerden in unserer Gesellschaft manchmal kein leichtes Unterfangen ist (Kapitel 9). Warum ein »Brazilian Butt Lift« tödlich enden kann und es deshalb enorm wichtig ist zu wissen, wie man einen Facharzt findet, erläutere ich ebenfalls (Kapitel 10). Danach dreht sich alles um Prominente und wie der Körper nicht nur zum Statussymbol, sondern auch zur Geldmaschine gemacht wird (Kapitel 11). Schließlich gebe ich allen, die über eine Operation nachdenken, einen Leitfaden mit praktischen Hinweisen an die Hand, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können (Kapitel 12). Zu guter Letzt möchte ich einen ethischen Kodex für meine Zunft vorschlagen (Kapitel 13). Nicht um klare Regeln wie die Brustgröße »Honigmelone« aufzustellen, sondern um eine Orientierung zu bieten, welche prinzipiellen und moralischen Fragen wir uns stellen sollten, bevor wir die verrücktesten Trends des Beautyhypes und die absurdesten Wünsche mancher Patienten bald in die Wirklichkeit umsetzen. In der Hoffnung, dass die Menschen auf der Straße zukünftig nicht mit zu kleinen Nasen herumlaufen, die zwar gut auf Instagram aussehen, aber ihre Funktion, das Atmen, nicht mehr erfüllen.

Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, verwende ich im Text häufig auch dann, wenn alle Geschlechter angesprochen sind, nur die männliche Form. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte meiner Patienten sind Namen und Berufe geändert, die Ausnahme bilden nur diejenigen Prominenten, die ich mit freundlicher Genehmigung mit vollem Namen nennen darf.

Wahnsinnig schön!

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