Читать книгу Mein Freund Jim - W. E. Norris - Страница 4

Zweites Kapitel.

Оглавление

In diesem etwas kritischen Zeitpunkt kam es Lord Staines plötzlich in Sinn, Staines Court zu beziehen, und zwar mit der ausgesprochenen Absicht, längere Zeit dort zu verweilen. Seiner Ankunft ging die eines französischen Kochs, eines Haushofmeisters, Kammerdieners und der Himmel weiss, wie vieler andrer dienstbarer Geister voran, denn sein Haushalt war immer weit grossartiger gewesen als seine Mittel. Die Sache versetzte die ganze Nachbarschaft in fieberhafte Aufregung, und jedermann zerbrach sich den Kopf über die Veranlassung zu diesem plötzlichen Entschluss. Dieselbe wurde uns schon am nächsten Morgen klar, und zwar durch Lady Mildred, die so bald als möglich herüber kam, um meine Mutter zu besuchen.

„Papa hat dieses Jahr Unglück gehabt,“ sagte sie in ihrer einfachen geraden Weise. „Erstens unterlag sein Pferd im Derby um eine Kopflänge, wie Sie wissen —“

„Mein liebes Kind,“ unterbrach meine Mutter, „ich fürchte, dass ich von dem Derby gar nichts weiss, als dass es ein Rennen ist, welches alljährlich im Frühjahr stattfindet.“

„Natürlich. Papa dagegen weiss sehr viel davon, und sogar ich verstehe mich ein wenig darauf. ‚Premier‘ hätte gewinnen müssen, wenn nicht Störungen vorgekommen wären, niemand hatte schuld daran, aber meinen armen Papa traf das Unglück, und drauf hat er auch in Ascott kein Glück gehabt. Wir werden also in diesem Sommer nicht reisen, sondern ganz ruhig hier bleiben und fast niemand bei uns sehen.“

„Des einen Leid, dem andern Freud’,“ bemerkte meine Mutter; „für unsre jungen Leute wird es eine grosse Freude sein, dich hier zu haben. Und wer weiss,“ fügte sie nachdenklich hinzu, „ob dies scheinbare Unglück Lord Staines nicht zum Segen gereichen und ihn bestimmen wird, nicht mehr zu wetten, was ich nicht für recht halten kann, denn, siehst du, wenn der eine Geld dabei gewinnt, muss notwendig der andre das seinige verlieren.“

Lady Mildred gab zu, dass dies vermutlich der Fall sein werde, bezweifelte aber, dass Verluste vom Spiel abschrecken. „Was mich betrifft,“ sagte sie, „so bin ich ja am allerliebsten in Staines Court, und in einigen Tagen kommt Bracknell auch, und dann wird es wieder ganz sein, wie in unsrer Kinderzeit, nur fürchte ich, wird er es langweilig finden und nicht lange bleiben.“

„Ach, er findet ja Gesellschaft genug,“ versicherte mein Mütterchen in ihres Herzens Unschuld, „Harry ist hier und Jim Leigh und Hilda Turner.“

Jahr für Jahr und Tag für Tag auf ihrem Sofa liegend, ohne Abwechslung, oder auch nur die Möglichkeit einer solchen, ward es ihr schwer, sich klar zu machen, wie rasch aus Kindern Leute werden. Man sagt, dass der Knabe der Vater des Mannes sei, und sobald man sich irgendwie mit Logik befasst, kommt man unwillkürlich zu dem Schlusse, dass das Mädchen die Mutter der Frau sei. Diese Theorie ist etwas betrübend, aber ich kann meinen eignen Beobachtungen nach kaum umhin, sie zu bestätigen. Ich nehme an, dass, als unser Pädagoge die Prophezeiung aussprach, Bracknell werde seiner Stellung Ehre machen, dies mit jener kleiner Beimischung von harmloser Ironie geschah, die er sich zuweilen erlaubte. Bracknell war nun mit dreiundzwanzig Jahren wahrscheinlich genau das, was unser Professor von ihm erwartet hatte. Er war einer der hübschesten Männer von London; unendlich gesucht und gefeiert von der Gesellschaftsklasse, die man neuerdings „die Leute von Schick“ nennt; seine Liebesaffairen waren zahlreich und nicht sehr in Geheimnis gehüllt, er war Eigentümer oder Mitbesitzer von verschiedenen Rennpferden, die es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatten, und er stak ziemlich tief in Schulden. Welch hervorragende Eigenschaften er besessen hätte, ausser der, Glück zu haben, wüsste ich nicht zu sagen, aber trotzdem wundere ich mich keineswegs über seine grosse Beliebtheit. Jim, der in ihm von jeher ein leuchtendes Gestirn sah, war überglücklich, als er vernahm, dass er unser stilles Thal eine Zeit lang mit seiner Gegenwart beehren werde, und es fiel mir auf, dass Hildas Augen leuchteten, als ihr die erfreuliche Neuigkeit mitgeteilt wurde.

Wir alle, das heisst die Turners, Jim Leigh und ich, waren am Abend von Bracknells Ankunft in Staines Court zu Tisch, und wir sassen noch nicht fünf Minuten, als es mir ganz klar war, dass Hilda Turner ihn zu fesseln gedachte. Was mir die Sache zweifellos machte, war der Eigensinn, mit welchem sie jedes Gespräch mit ihm ablehnte. Lord Staines, der sie zu Tisch geführt hatte, war anfangs sichtlich gedrückt und geistesabwesend, aber Hilda bot ihre ganze Liebenswürdigkeit auf, und als der Fisch abgetragen wurde, war es ihr schon gelungen, ihren Nachbar in glänzende Laune zu versetzen, denn niemand schätzte Frauenschönheit und Geist höher als Lord Staines. Indessen war es Bracknell, zu dessen Rechten der alte Mr. Turner sass, sehr bald klar geworden, dass sich zu seiner Linken ein reizendes Wesen befinde, und es war äusserst amüsant, das grenzenlose Erstaunen zu beobachten, das sich auf seinem Gesicht zeigte, als ihm nach verschiedenen Versuchen, Hildas Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die Ahnung aufdämmerte, dass sie die Gesellschaft seines Vaters der seinigen vorziehe. Vermutlich war ihm ein so absonderlicher Geschmack bei einer so anziehenden Persönlichkeit im Leben noch nicht vorgekommen. Vergebens führte er all seine Künste ins Treffen und zwang sie, sich umzudrehen, während er schmachtende Blicke nach ihr sandte, die aber völlig unerwidert blieben, ja sie gab ihm höflich, aber äusserst deutlich zu verstehen, dass seine Unterbrechungen ihr störend seien, antwortete ihm einsilbig mit flüchtigen Worten oder zerstreutem Lächeln und richtete ihre Bemerkungen sofort wieder an Lord Staines, der sich an der Missstimmung seines Sprösslings sichtlich ergötzte.

Jim plauderte die ganze Zeit höchst vergnüglich mit Lady Mildred von Kindheitserinnerungen, und nur hie und da ruhten seine Blicke mit einem fast komischen Ausdruck von Stolz und Liebe auf Hilda; ohne Zweifel dachte er, wie unendlich gut es von ihr sei, sich so viel Mühe mit der Erheiterung des alten Herrn zu geben. Der Herr Pfarrer und ich verzehrten unsre Mahlzeit, die nebenbei vorzüglich war, ohne dass irgend jemand sich um uns gekümmert hätte.

Als wir später im Salon wieder bei einander waren, wurde Lord Staines abermals ernst und schweigsam — die Sorge mochte wohl wieder die Oberhand gewonnen haben. Er brachte eine undeutliche Entschuldigung hervor und schlich sich davon — vielleicht versuchte er noch einmal, Ausgaben und Einnahmen in Einklang zu bringen. Lady Mildred hatte Jim Photographieen zu zeigen — möglich dass er sich wirklich so sehr für dieselben interessierte, als es den Anschein hatte, vielleicht war es auch nicht der Fall. Mr. Turner würdigte in Ermanglung bessrer Zuhörer mich, seine Gedanken über weltliche Erziehung zu vernehmen, und während er mir dieselben in einiger Ausführlichkeit entwickelte, beobachtete ich, dass es genau so kam, wie ich erwartet hatte. Bracknell setzte sich auf ein Sofa neben Hilda, die ihren Fächer in die Hand nahm und ihn mit einem halb übermütigen, halb aufmunternden Seitenblick empfing. Er redete sie halblaut an, der Ton klang vorwurfsvoll: vermutlich drang er in sie, ihr zu gestehen, weshalb sie ihn mit so auffallender Kälte behandelt habe, denn plötzlich vernahm ich ein leises Auflachen und die Antwort: „An Ihrer Stelle, Lord Bracknell, würde ich die Frage unerörtert lassen. Wenn nicht, so darf ich mir vielleicht Ihre Lesart gewisser Anekdoten ausbitten, die ich in London über Sie erzählen hörte.“

„Was für Anekdoten?“ versetzte er eifrig. „Verlassen Sie sich darauf, es war kein wahres Wort daran. Sie werden doch auf solchen Klatsch keinen Wert legen?“ Und so weiter, und so weiter.

Das Zwiegespräch wurde nun mit so gedämpften Stimmen fortgesetzt, dass die Beredsamkeit des Herrn Pastors, der sehr nahe neben mir stand und seinen Worten durch gelegentliches Betippen meiner Weste mit seinem Zeigefinger Nachdruck verlieh, dasselbe meinem Gehör entzog. Ich war aber nicht einmal neugierig, mehr zu hören, eher möchte ich wissen, wie oft dieser Dialog wörtlich so wiederholt worden ist, seit die Welt steht, und wie oft er sich noch wiederholen wird? In der Regel dauert es etwa fünf oder zehn Minuten, bis die Dame ein unumwundenes Bekenntnis als Vorbedingung einer etwa möglichen Absolution begehrt, und dann sagt ihr der Mann — nun, vermutlich sagt er ihr zuweilen die Wahrheit, obwohl dies zu den Ausnahmefällen zählen wird. Was Bracknell Hilda sagte, nachdem sie sich langsam auf die offne Balkonthüre zu bewegt hatten und durch dieselbe verschwunden waren, kann ich mir schwer vorstellen, ist aber auch ganz unwesentlich. Was ich dagegen weiss, ist, dass sie nicht viel weniger als eine Stunde unsichtbar blieben, dass Jim lange vor Ablauf dieser Zeit unruhig wurde und dass Lady Mildred ängstlich dreinsah, dass Mr. Turner den Schlaf des Gerechten schlief und dass der bescheidene Chronist vollständig erschöpft war von seinen verzweifelten Anstrengungen, ein Gespräch in Gang zu erhalten, das nach jedem Versuch sofort aufs neue erstarb.

Endlich erschien Lord Staines wieder. Sein Haar sah sehr zerwühlt aus, woraus ich schloss, dass er immer noch kein Rechnungsverfahren entdeckt hatte, vermittelst dessen man die grössere Summe von der kleineren abziehen kann, und wenn ich mich nicht täusche, so lag ihm bei unserm Anblick der Ausruf: „Wie, noch da?“ stark auf der Zunge. Er war aber ein viel zu höflicher Mann, um so etwas laut werden zu lassen, und machte artig Konversation, bis Bracknell und Hilda wieder erschienen, was von ihrer Seite aus ohne das leiseste Zeichen von Verlegenheit geschah. Der alte Turner erwachte nun plötzlich, rieb sich die Hände und versicherte, dass sie einen reizenden Abend verlebt hätten, nun aber den Wagen nicht länger warten lassen könnten, worauf wir einander gegenseitig mit grosser Lebhaftigkeit gute Nacht wünschten und aufbrachen.

Jims Dogcart war da, und er hatte versprochen, mich heimzufahren; als ich aber im Vorsaal nach meinem Ueberrock griff, trat er zu mir und sagte: „Macht es dir etwas aus, noch eine Viertelstunde zu warten, Harry? Ich möchte mit Bracknell eine Cigarre rauchen.“

Natürlich erwiderte ich, dass ich ganz damit einverstanden sei, und wir begaben uns ins Rauchzimmer, wohin Lord Staines uns nicht folgte. Ich glaube, einen so unentwegt auf sein Ziel lossteuernden Menschen wie Jim gibt es nicht noch einmal; einige Umschweife zu machen und etwas auf den Busch zu klopfen, wie wir alle es mehr oder weniger thun, kommt ihm gar nie in Sinn. Wenn er irgend etwas auf dem Herzen hat, darf man ganz sicher sein, dass er keine Minute verlieren und nicht das geringste bei sich behalten wird. Seine Cigarre war kaum angezündet, so hatte er auch Bracknell schon alles so klar gemacht, dass keinerlei Missverständnis möglich war.

„Siehst du, Bracknell, alter Freund,“ sagte er, „ich wünsche nicht, dass du Hilda Turner den Hof machst. Wir sind alte Freunde, deshalb will ich dir ehrlich sagen, dass ich sie heiraten will, bitte dich aber, vorderhand noch mit niemand darüber zu sprechen.“

Es lag etwas in dieser Mitteilung, das Bracknell unwiderstehlich komisch berührte, und seine Heiterkeit war so unmässig und anhaltend, dass Jim sich schliesslich gezwungen sah, hinzuzufügen: „Es ist kein Spass!“

„O doch, es ist einer, mein guter Junge,“ versetzte der andre, immer noch lachend, „ein ganz famoser sogar, nur merkst du ihn nicht. Lass dir raten, Jim, und lass ab von dieser jungen Dame — zieh deine Hand zurück wie von einer heissen Kastanie. Das ist die Frau nicht für dich!“

„Mag sein,“ erwiderte Jim ruhig, „aber jedenfalls ist sie auch die Frau nicht für dich.“

„Sicherlich nicht! ‚Die Frau für mich‘, darunter verstehe ich eine Dame mit fünfzigtausend Pfund disponiblen Vermögens. Wünschenswert wäre es, dass sie mehr hätte, aber fünfzigtausend ist das unumgänglich nötige Minimum, das hat mir mein Alter auseinandergesetzt. Apropos, glaubst du eigentlich, dass die blonde Hilda dich erhören wird?“

Jim ward natürlicherweise rot, gab aber natürlicherweise zu, dass er dies hoffe.

„Nun, es kann wohl sein. Fünftausend im Jahr ist in diesen harten Zeiten nicht zu verachten, und so viel bist du unter Brüdern wohl wert, nicht?“

Jim stand auf und lehnte sich mit dem Rücken ans Kamin. „Weisst du, Bracknell,“ sagte er, „ich kann deine Art zu sprechen nicht leiden. Ich bin überzeugt, dass du mir nicht weh thun willst, aber es ist mir peinlich, von Hilda sprechen zu hören als ob —“

„Als ob sie ein Weib wäre wie die andern. Gut, gut, Jim, ich will deine Gefühle in Zukunft schonen, und ich denke, ich will auch Miss Turner nicht heiraten, danke sehr. Darf ich zuweilen mit ihr sprechen, oder ist es dir lieber —“

„Natürlich darfst du das!“ versetzte Jim vollkommen ernsthaft. „Wenn du mir versprichst, dass du ihr nicht den Hof machen willst, so bin ich ganz zufrieden. Du musst ja selbst einsehen, wie ich’s meine. Wenn du anfängst, Hilda oder einem andern Mädchen Aufmerksamkeit zu schenken, so ist für mich alles vorbei, das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Ich bin nicht hübsch und nicht geistreich, bin überhaupt gar nichts. Nicht einmal mit Harry Maynard würde ich’s riskieren, den Kampf aufzunehmen.“

Mit dieser der unwiderstehlichen Anziehungskraft seines Freundes dargebrachten Huldigung und der etwas beiläufigen Anerkennung meiner Liebenswürdigkeit setzte sich Jim wieder an seinen vorigen Platz.

Bracknell fühlte sich, wie ich glaube, einigermassen geschmeichelt und war vielleicht auch etwas gerührt, wovon ich jedoch weniger fest überzeugt bin. „Glück auf!“ sagte er. „Heiraten ist das Verkehrteste, was der Mensch thun kann, aber wenn er sich’s einmal in den Kopf gesetzt hat, ist nichts zu machen. Lass mich’s wissen, wenn das Ereignis stattfindet, mein Segen soll dir nicht fehlen.“

Es ist hie und da schwer zu sagen, bis zu welchem Grad man sich bei Menschen von Bracknells Art auf ihr Ehr- und Pflichtgefühl verlassen kann. Zweifellos gibt es Dinge, deren sie sich unter keinen Umständen gegen ihren Nebenmenschen schuldig machen würden, bei manch anderm Unrecht dagegen ist es nur eine Frage der Gelegenheit und der Versuchung. Der Wahrheit zu Ehren muss ich sagen, dass die Versuchung, in die Hilda den Erben von Staines Court während der folgenden Wochen versetzte, derart war, dass sie auch die stärkste Widerstandskraft zu erschüttern vermocht hätte. Ihre Taktik war nicht neu, aber die Anwendung derselben war raffinierter, als ich sie sonst gesehen. Selbstverständlich war „die Jugend“, unter welchem Begriff wir von den älteren Herrschaften zusammengefasst wurden, täglich beisammen. Ausflüge zu Pferd, Picknicks, Lawn-Tennis-Partieen, kurz all die üblichen Sommervergnügungen auf dem Lande, wurden in Scene gesetzt, und wenn es nicht zu gleicher Zeit etwas betrübend gewesen wäre, hätte man es sehr amüsant finden können, Bracknell und Hilda dabei zu beobachten. Sie erregte seine Neugier; sie reizte seinen Ehrgeiz, sie schmeichelte seiner Eitelkeit heute, um sie morgen um so tiefer zu verwunden; zuweilen ignorierte sie ihn so beharrlich, wie an jenem ersten Abend; dann konnte sie ihm wieder, wenn Jim den Rücken drehte, einen Blick zuwerfen, der ihn durchbeben musste, trotzdem dass er im Ruf stand, an solche Blicke gewöhnt zu sein. Dabei war sie in ihrem Benehmen gegen den armen Jim gleichmässig reizend und liebenswürdig, vermied es aber, mit ihm allein zu sein auf unsern Spaziergängen, und alles dieses hatte zur Folge, dass sie nach vierzehn Tagen statt einen seufzenden Liebhaber deren zwei zu ihren Füssen sah. Das Kunststück mag nicht so sehr schwierig gewesen sein, aber es wurde mit grosser Geschicklichkeit ausgeführt.

Der Ausgang der Sache war leicht vorauszusehen, und doch war ich, als die Katastrophe eintrat — denn so muss ich es ja wohl nennen — nicht wenig verblüfft. Mr. Turner setzte mich in Kenntnis davon. Als ich an einem heissen Morgen Staines Court zuschlenderte, sah ich ihn seiner Gartenthüre zueilen; er riss das Thor rasch auf, nahm den Hut ab und fing an, sich die Stirne abzutrocknen. Offenbar bestürmten ihn die verschiedensten Empfindungen, und schon seine ersten Worte bewiesen mir, dass ich recht gesehen.

„Mein lieber Harry!“ sagte er, „ich bin bestürzt, vollkommen bestürzt. Sagen Sie mir doch, Sie haben ja einen alten Kopf auf Ihren jungen Schultern, sagen Sie doch, ob es Ihnen je auffiel, dass zwischen Lord Bracknell und meiner Tochter Beziehungen bestanden?“

Ich versetzte, dass ich diesen Eindruck längst gehabt habe.

„Was Sie sagen!“ rief Mr. Turner. „Du lieber Himmel! Ich versichere Sie, dass ich in meinem Leben nicht so vollständig überrascht worden bin wie gestern abend, als Lord Bracknell zu mir kam und mir mitteilte, dass er um Hilda geworben und ihr Jawort erhalten habe. Ach — Sie sind auch erstaunt, das seh’ ich. Die Sache ist, dass ich ganz andre — hm — andre Erwartungen gehegt hatte — möglicherweise haben Sie dieselben geteilt?“

Ich bejahte dies kopfnickend, und er fuhr fort:

„Aufrichtig gesprochen, Harry, mir wäre es lieber gewesen, wenn es anders gekommen wäre. Sogar jetzt noch bin ich nicht gewiss — nun, wir werden ja sehen. Soeben habe ich von Lord Staines ein Billet erhalten, worin er mich ersucht, sofort zu ihm zu kommen, und ich fürchte sehr, dass er nicht gut zu dieser Verlobung sieht. Sie sind ja so ein stiller Beobachter, haben Sie irgend etwas wahrgenommen, was darauf hindeutet, dass er meine geliebte Hilda — dass er sie — hm — freudig als Schwiegertochter begrüssen wird?“

Ich war nicht im stande, ihn dessen zu vergewissern, und der arme Mann, der so ganz ohne seine Schuld zwischen zwei Mühlsteine geraten zu sein schien, that mir aufrichtig leid. Dass er mit seinem Patronatsherrn ernstliche Schwierigkeiten haben werde, war sicher, und ebenso gewiss, dass er bei seiner Rückkehr mit der Lenkerin seines Hauses und seines Schicksals nicht weniger ernste Kämpfe zu bestehen haben würde. Ich begriff vollständig, dass er mich bat, mit keinem Menschen darüber zu sprechen, und auch wer mit diesem stark betonten „keinem Menschen“ gemeint war, denn ein wohlhabender Gutsbesitzer in der Hand ist zwei Grafen auf dem Dache wert. Nachdem ich ihm das gewünschte Versprechen bereitwillig gegeben hatte, eilte er, sich mit dem Taschentuch fächernd, dem Schloss zu.

Mein Freund Jim

Подняться наверх