Читать книгу Mein Freund Jim - W. E. Norris - Страница 6
Viertes Kapitel.
ОглавлениеEs war von jeher mein Bestreben gewesen, die Sonne meiner Unparteilichkeit leuchten zu lassen über Gerechte und Ungerechte. Da ich mir schmeichle, meine eignen kleinen Schwächen so ziemlich zu kennen, und dringend wünsche, meine Tugenden vollauf anerkannt zu sehen, ist es nicht mehr als billig, dass ich auch bei denjenigen Menschen, die meinem Herzen nicht teuer sind, das Gute anerkenne, vorausgesetzt, dass ich bei mikroskopischer Untersuchung solches entdecke. So bin ich denn wirklich froh, zugeben zu können, dass, meiner Ansicht nach, Hilda Turner Jim so lieb hatte, als es überhaupt in ihrer Natur lag, einen Menschen zu lieben. Ich kann dies Zugeständnis um so eher machen, als dasselbe bei Licht betrachtet, nicht allzu vielsagend ist. Bei vollständig gleichen äusseren Verhältnissen, glaube ich, dass sie Jim den Vorzug vor Bracknell gegeben hätte; leider waren aber die Verhältnisse nicht gleich, denn Bracknell hatte den Titel eines Marquis zu erwarten, während Jim seiner Lebtage ein mässig begüterter Landedelmann bleiben musste. Bei alledem muss ich sagen, dass sie, nachdem die erste Saite gesprungen, mit grosser Anmut die zweite aufspannte. Ob sie, wie ich damals gemutmasst habe, ihre Verlobung so hastig in Scene setzte, um dem so sehr pflichtgetreuen Bracknell einen Schlag zu versetzen, oder ob sie von Jims beabsichtigtem Verschwinden Kunde bekommen hatte und ihn durch Aufschub ganz zu verlieren fürchtete, sicher ist, dass sie sich mit Würde und grosser Liebenswürdigkeit in dieser einigermassen peinlichen Situation benahm und dass sie Jim unendlich beglückte — vernünftigerweise konnte man eigentlich nicht mehr von ihr verlangen.
Das junge Paar war allem Anschein nach vollständig befriedigt, und dieses Gefühl wurde grösstenteils, wenn auch nicht ausnahmslos, von den beiderseitigen Freunden und Verwandten geteilt. Der alte Mr. Turner rieb sich seine runden, weissen Hände und erklärte, dass sein Herzenswunsch nun erfüllt sei; Lord Staines war so vergnügt, dass er keine Ruhe hatte, bis er im Pfarrhaus gewesen war und seinem Entzücken Worte geliehen hatte; und wenn meine Mutter auch im stillen ein wenig enttäuscht war, denn Jim war ihr grosser Liebling, so zögerte sie doch nicht, zu versichern, dass alles gut sei und ihnen zum Besten diene. Allerdings hätte sie letzteres auch gesagt und gedacht, wenn ich zum Strick verurteilt worden wäre, denn darin bestand ihr frommer, einfältiger Glaube. Auf gewisse Schriftstellen gestützt, versicherte sie kühn, dass es nicht an uns sei, zu beurteilen, ob dies oder jenes zu gutem oder schlimmem Ende führen werde, und sie stellte rundweg ohne jeden Vorbehalt den Satz auf, dass alles gut sei, so wie es sich eben füge.
Es ist mir nie möglich gewesen, mich den Anschauungen meines Mütterleins in dieser Hinsicht anzuschliessen, und es war mir einigermassen wohlthuend, in dem allgemeinen Beifallsjubel wenigstens eine einzige Stimme zu hören, die aus einer andern Tonart sang und mit der meinigen übereinstimmte. Es war eine sanfte, kleine Stimme, aber sie klang süss und wurde selten zu irgend welchen lieblosen Bemerkungen über den lieben Nächsten gebraucht. „Weil Sie mich fragen,“ sagte Lady Mildred, „muss ich gestehen, dass ich mich nicht freue, nein, dass ich sogar traurig bin über diese Verlobung. Mir scheint Hilda lange nicht gut genug zu sein für Mr. Leigh.“
„Das,“ bemerkte ich, „ist ausser Zweifel.“
„Ja gewiss und ich kann nicht verstehen, wie sie so schnell andern Sinns werden konnte. Natürlich war es ja ganz unmöglich, dass Bracknell sie heiratete, aber die Möglichkeit vorausgesetzt, glaube ich, dass sie ganz gut miteinander fertig geworden wären. Ich habe Bracknell so lieb wie niemand sonst auf der Welt, und ich bin auch nicht gerade sicher, ob sie für ihn gut genug wäre — aber es ist doch ganz anders, als bei Mr. Leigh. Ich glaube, dass Bracknell es sich lange nicht so zu Herzen genommen hätte, wenn er hernach eingesehen haben würde, dass Hilda nicht gerade — nicht ganz das ist, was er sich eingebildet.“
Dies war haarklein meine Empfindung. Da es aber keinem Menschen im entferntesten einfiel, Lady Mildred oder mich um Rat zu fragen, fanden wir es am geratensten, unsre Weisheit für uns zu behalten, was wir denn auch thaten.
Von Bracknell hörte ich nichts, und ich glaube auch, dass Jim aus jener Himmelsgegend keinen Glückwunsch empfing; fragen mochte ich nicht danach. Ohne Zweifel hatte er dem alten Freund vergeben, da er nun, wo er sich mehr oder weniger als Sieger fühlte, schon ein übriges in Grossmut leisten konnte. Die Hochzeit wurde für den folgenden Januar anberaumt, und kurz nachdem ich dies vernommen hatte, verliess ich das mütterliche Dach, um meine Advokatenlaufbahn zu beginnen und mir ein Büreau einzurichten, in welchem sich meine juristische Bibliothek heute noch gänzlich unbenutzt vorfindet, was ich mich Freuden bekenne. Denn gerade damals empfing ich die erste praktische Ermunterung zu der litterarischen Thätigkeit, die mir seither das Leben lieb gemacht und mich gelegentlich in den Stand gesetzt hat, mein täglich Brot mit Butter zu geniessen.
Während des Herbstes und der ersten Wintermonate erhielt mich meine Mutter, welche die reizendsten Briefe schreibt, die je einer menschlichen Feder entflossen, vollständig auf dem Laufenden über alles, was in Cranfield vor sich ging, und diesen Berichten nach verlief der Brautstand regelrecht. Jim richtete Elmhorst von oben bis unten neu ein, wobei ihm die Braut ratend zur Seite stand. Sein Onkel und seine Tante, ein höchst uninteressantes Menschenpaar, mit welchem niemand verkehrte, und dessen Abzug zu bedauern keinem, ausser meiner Mutter, im Schlaf einfiel, hatten sich schon nach Bath aufgemacht, wo sie von nun an zu wohnen gedachten; „und die gute Mildred,“ fügte die Mama hinzu, „benimmt sich bei allem gar zu lieb und reizend. Sie scheint Jims Glück ganz mit zu empfinden und wird, das hoffe ich, eines Tages noch selbst so glücklich werden, wie sie es verdient.“ Ich gestehe, dass mir der tiefere Sinn dieser Lobrede damals entging, obwohl ich ihn bei einiger Erleuchtung leicht hätte durchschauen können.
Ein paar Tage vor Weihnachten setzte ich mich auf die Eisenbahn, mit dem zweifachen Reisezweck, die Festtage daheim zu verleben und Jims darauf folgender Hochzeit beizuwohnen.
Im letzten Augenblick, als der Zug sich eben in Bewegung setzen wollte, sprang ein junger, fashionabel aussehender Mann in den Wagen, stolperte über meine Beine, entschuldigte sich und sagte dann: „O, du bist’s, Maynard, wahrhaftig? Fährst hinunter in das alte Loch?“
Ich erwiderte, dass dies meine Absicht, vermutlich aber nicht die seinige sei — nicht dass ich damals schon das Kommende geahnt hätte, sondern weil ich es alles in allem genommen, für geschmackvoller gehalten hätte, wenn Bracknell gerade während dieser Zeit das Elternhaus gemieden hätte.
„Natürlich gehe ich nach Staines Court,“ erwiderte er. „Weshalb denn nicht?“
„Wenn du das nicht selbst weisst, so weiss ich’s auch nicht,“ bemerkte ich.
„Ach, lieber Freund!“ sagte Bracknell, seine Cigarre ansteckend, „wenn man jedem weiblichen Wesen, in das man einmal verliebt war, aus dem Wege gehen sollte, würde sich das Leben zu einem fortdauernden Versteckensspiel gestalten. Die Sache wäre in der That nicht ausführbar. Wie kommt denn Jim zurecht, das gute alte Kamel? Herrgott! was hat der für ein Dasein vor sich! Das war ein schlimmer Schicksalsschlag für ihn, als mein Alter mir verbot, ihm Fräulein Hilda abzunehmen. Das Mädel wird ihm zu guter Letzt das Herz brechen — das wirst du sehen.“
„Das deinige scheint sie nicht gebrochen zu haben,“ bemerkte ich.
Bracknell lächelte, und es fiel mir auf, dass er ein wenig mit den Augen zwinkerte. „Die Weiber sind alle gleich,“ sagte er, „und wem um ihretwillen das Herz bräche, der müsste ein Narr sein. Jim ist einer!“
„Wenn zu ritterlich denken für die Welt, in der wir uns umtreiben, ein Narr sein heisst, so ist er sicherlich einer,“ gab ich zu, und ich weiss selbst nicht, was mich trieb, hinzuzusetzen: „Ich hoffe, Bracknell, du wirst immer so loyal gegen ihn sein, wie er es gegen dich ist.“
Es war das eine ziemlich thörichte Aeusserung und vielleicht auch eine etwas unverschämte, aber Bracknell schien es nicht übelzunehmen. Er sah mich betroffen an und sagte dann: „Aha, es hat ihm wohl nicht behagt, dass ich ihn ausgestochen? War auch hart für ihn, das gebe ich zu, aber zum Kuckuck, was konnte denn ich dafür?“
Da es mir nicht gelang, eine klare Antwort auf diese Frage zu finden, erwiderte ich nur: „Nun, das ist ja jetzt vorüber, und je weniger man noch daran denkt, um so besser.“
Auf diesen Wink nahm mein Gefährte ein andres Thema auf und erzählte mir von einem Rennen, an dem er kürzlich teilgenommen, welcher Stoff dann mit einigen Unterbrechungen bis ans Ende der Fahrt vorhielt.
Die erste Begegnung zwischen Bracknell und Hilda hätte ich gern mit angesehen, aber diese Freude ward mir nicht zu teil. Am Christfest ging ich zu Tisch nach Staines Court — meine Mutter die nicht im stande war, ihr Zimmer zu verlassen, hatte darauf bestanden, dass ich die Einladung annehmen müsse. Das Haus war voll von Verwandten Lord Staines’, lauter Henleys und Beauchamps, die mir völlig unbekannt waren; als ich aber in den Salon trat, sah ich auf den ersten Blick eine kleine Gruppe, die aus Hilda, Lady Mildred, Bracknell und Jim bestand. Sie plauderten aufs freundschaftlichste zusammen und hatten sich offenbar entschlossen, das Vergangene vergangen sein zu lassen. Jim nickte mir zu, und gleich darauf flüsterte er mir, mich beiseite ziehend, ins Ohr: „Ist Bracknell nicht ein herzensguter Kerl? Ich glaube, dass auf der weiten Welt kein andrer Mensch die Sache so aufgefasst hätte, wie er, und nun kommt er noch ganz extra hierher, um uns zu zeigen, dass er keinen Groll hegt.“
Möglich, dass Bracknell in dieser menschenfreundlichen Absicht nach Staines Court gekommen war, aber mir fiel es etwas schwer, daran zu glauben. Erstens einmal hatte er wohl kaum vorausgesetzt, dass irgend jemand ihn im Verdacht habe, dumpf zu grollen, und zweitens hätte ein Brief genügt, solche Befürchtungen zu beseitigen. Aber da war er, dies war unzweifelhaft, und plauderte mit Hilda so unbefangen wie je, und sogar wenn er Schlimmes im Schilde führte, was jedoch wirklich nicht wahrscheinlich war, so wäre Jim sicher nicht davon zu überzeugen gewesen.
Miss Turner sollte sich seiner Gesellschaft nicht lange erfreuen. Ich glaube früher schon erwähnt zu haben, dass Bracknell einer jener Glücklichen — denn dass sie glücklich sind, muss man doch annehmen — war, die von lebenslustigen jungen Frauen mit Huld und Gnade überschüttet werden. Verschiedene der anwesenden Damen gehörten zu dieser Sorte, und sie tänzelten um ihn herum in einer Weise, die ebenso belustigend für den Zuschauer, als schmeichelhaft für den Gegenstand ihrer Wünsche war. Schliesslich führten sie ihn als ein kaum widerstrebendes Opferlamm von dannen, und wir ländliche Nachbarn konnten ihn den grössten Teil des Abends nur von weitem bewundern. Lord Staines beobachtete den Triumph seines Sohnes mit wohlwollendem Lächeln und drehte seinen grauen Schnurrbart. Vermutlich hatte er gegen Hofmachereien durchaus kein Vorurteil, solange die Dame nicht arm war und nicht geheiratet werden konnte. Er selbst sah jünger und heiterer aus als im Sommer; er hatte, wie ich aus einem kurzen Gespräch mit Lady Mildred erfuhr, bei dem Cesarewitsch eine hübsche Summe gewonnen.
Zu ziemlich vorgerückter Stunde schlug irgend jemand — wenn ich mich nicht täusche war es Bracknell — eine Partie Billard vor, und eine Gesellschaft von etwa zehn Personen, zwei oder drei Damen darunter, begab sich ins Billardzimmer. Dort war ich endlich im stande, einige Beobachtungen über Hildas Haltung ihrem früheren Geliebten gegenüber anzustellen. Ihre Stellung war durchaus keine behagliche zu nennen; jedermann im Zimmer wusste, dass sie ein paar Monate vorher entschlossen gewesen war, Bracknell zu heiraten, und sie selbst wusste sehr genau, dass die Thatsache allgemein bekannt war. Ihre Heiterkeit wurde aber durch all dieses nicht gestört, und sie beging nicht eine der kleinen Ungeschicklichkeiten, die sie so leicht hätte begehen können und die ein Mädchen von tieferer Empfindung schwerlich vermieden hätte. Weder ignorierte sie Bracknell, noch suchte sie seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; weder war sie allzu freundlich gegen ihn, noch that sie fremd. Wenn er mit ihr sprach, so antwortete sie ihm artig, ja sie redete ihn sogar ein- oder zweimal zuerst an, im allgemeinen aber war sie ruhiger als gewöhnlich und sprach überhaupt nicht viel. Das einzige, was man möglicherweise an ihrem Benehmen hätte aussetzen können, war, dass sie etwas zu zärtlich mit Jim war, ihm gelegentlich, wenn sie um das Billard herumzugehen hatte, etwas ins Ohr flüsterte und ihm einen Beifall fordernden Blick zuwarf, so oft sie einen guten Stoss gethan.
Nachdem das Spiel eine Zeit lang gedauert hatte, warf Bracknell sich plötzlich neben mir auf ein Sofa. „Zum Kuckuck!“ rief er in einem Tone, der nicht frei von Gereiztheit war, „das Mädchen hat nicht mehr Herz als ein Kieselstein!“
„Das ist mir nicht neu und geht dich nichts an!“ erwiderte ich.
Ohne auf meine Bemerkung zu achten, fuhr er fort: „Und das ist nun in ländlicher Stille in einem Pfarrhaus aufgewachsen. Nette Unschuld vom Lande, das muss ich sagen! Da ist in der ganzen grossen Welt keine einzige, die sich mit ihr an Kühle und Ruhe messen könnte!“
Was er eigentlich erwartet hatte, dass sie sagen oder thun würde, weiss ich nicht, aber er war offenbar ärgerlich, und er fügte hinzu, dass er um keinen Preis in Jims Schuhen stecken möchte. Er gab mir eben seine Anschauungen über die weibliche Natur im allgemeinen zum besten, die, wie ich zu meinem Bedauern sagen muss, allzu ruchlos und allzu roh ausgedrückt waren, um wiederholt werden zu können, als ihm jemand zurief, dass die Reihe an ihm sei.
Er hatte einen ziemlich schwierigen Stoss zu machen, und in dem Augenblick, als er mit dem Billardqueue zurückfuhr, trat Hilda plötzlich unmittelbar hinter ihn, so dass er sie mit dem Griff heftig in die Seite stiess. Mit einem Schmerzensschrei sank sie auf das Sofa, auf welchem ich sass. Bracknell liess ganz erschrocken das Billardqueue sinken und starrte auf die blassen Wangen der Verletzten; Jim stürzte vom andern Ende des Zimmers herbei; ein dritter rannte nach einem Glas Wasser und die übrigen Spieler standen um das Sofa her — es war eine ganze Scene. Endlich konnte Hilda wieder aufatmen und versicherte mit schwachem Lächeln, dass sie nicht verletzt sei.
„Es hat nichts zu sagen, wirklich gar nichts,“ sagte sie, „es war ganz und gar meine Schuld, und in ein paar Minuten werde ich wieder frisch und munter sein. Bitte, bitte, spielen Sie weiter und bekümmern Sie sich nicht um mich.“
Ich bin bis zum heutigen Tag nicht gewiss, ob sie es absichtlich gethan; wenn es der Fall gewesen, so gewährte es mir einige Befriedigung, dass sie einen weit kräftigeren Rippenstoss erhielt, als sie vorausgesetzt haben mochte. Jedenfalls aber brachte der unbedeutende Zwischenfall in Bracknells Stimmung eine bedeutende Umwandlung hervor. Selbstverständlich that es ihm furchtbar leid, einer Dame weh gethan zu haben, und diese Selbstanklage mag durch das Bewusstsein, vor kurzem so hart über sie geurteilt zu haben, noch verschärft worden sein. Er blieb neben ihr sitzen, nachdem sie Jim liebevoll weggedrängt hatte und die andern auf ihr Verlangen das Spiel fortsetzten, und ich sah, dass sie rasch und eifrig sprachen. Ihr Zwiegespräch ward bald darauf unterbrochen, allein es hatte immerhin lange genug gedauert, um Bracknells Wangen höher zu färben und seine Augen nachdenklich blicken zu machen. So wie ich Miss Hilda kannte, war ich vollständig überzeugt, dass sie ihn entweder noch einmal unterjochen oder sich an ihm rächen wollte, und was auch ihr Plan sein mochte, sie hatte allem Anschein nach Aussicht, ihn glänzend durchzuführen.
Als ich dies am folgenden Morgen gegen meine Mutter äusserte, die immer gern einen ausführlichen Bericht über jede Gesellschaft entgegennimmt, die ich besuchte, schüttelte sie den Kopf.
„Ach, mein lieber Harry,“ seufzte sie, „du bist zu schnell bereit, den Menschen schlimme Motive zuzutrauen, und beschäftigst dich überhaupt zu viel mit dem Studium des Bösen — angenommen nämlich, dass die arme Hilda überhaupt böse ist. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich viel lieber Mildred beobachten, oder ist sie etwa zu gut, um anziehend zu sein?“
„Willst du mir damit den Vorschlag machen, mich in Lady Mildred zu verlieben?“ fragte ich.
„Nein, mein lieber Junge, wahrhaftig nicht — was würde Lord Staines dazu sagen? Ueberdies fürchte ich, du würdest einigermassen zu spät kommen. Hast du denn wirklich Mildreds Geheimnis nicht erraten, Harry — du mit deinem rechnenden Scharfblick?“
Jeder hat seine Schwächen, und unter den vielen, zu denen ich mich bekennen müsste, wenn man mich eidlich darüber vernähme, steht obenan die, dass ich mir einbilde, mit Leichtigkeit in Herz und Kopf meines Nebenmenschen lesen zu können. Nun war es mir aber wahrhaftig entgangen, dass Mildred ihr Herzchen an Jim verloren hatte, meine Eitelkeit gestattete mir jedoch nicht, diese beschämende Thatsache anzuerkennen, und ich bemerkte an Stelle einer direkten Antwort nur, dass ein Unterschied sei zwischen Anziehend- und Interessantsein, und dass böse Menschen zu studieren interessanter sei als gute, weil für gewöhnlich die Gründe ihrer Handlungsweise tiefer liegen.
„Das scheint mir auch,“ stimmte meine Mutter zerstreut bei. „Armer Jim!“
„Ich weiss wahrhaftig nicht, weshalb du ihn bemitleidest,“ versetzte ich gereizt, denn ich verargte es meiner Mutter, etwas gesehen zu haben, was mir entgangen war. „In dieser vortrefflichsten aller Welten dienen uns ja alle Dinge zum besten.“
„Ich glaube, dass alles, was geschieht, zu unserm Besten dient,“ antwortete sie einfach, „fürchte aber, dass du daran zweifelst. Wir dürfen uns nicht anmassen, zu denken, dass es besser für unsern Freund wäre, Mildred zu heiraten als Hilda, die ja auch sehr viel nette Eigenschaften hat. Armer Jim!“
Meine Mutter gestattet sich zuweilen einen harmlosen Humor, der sie sehr erfrischt. Nach diesem letzten Stossseufzer sah sie halb abbittend zu mir auf und wir lachten eine Weile herzlich miteinander. Ich glaube, dass sie so deutlich wie ich kommendes Unheil ahnte, dass sie es aber vorzog, nicht darüber zu sprechen, ehe es da war, woran sie wahrscheinlich wohl that.