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Kapitel 1
Mord in der Altstadt

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Ein Sommergewitter zur späten Nacht steht über der Stadt und entlädt sich mit Urgewalt. Blitze schlagen in den nahen Rhein, gefolgt von furchtbarem Donnern.

Das unebene Pflaster dampft unter meinen Füßen und der Sturm zerrt an den Regenschirmen, die wir vergebens über uns halten.

Vor fünfzehn Minuten am Bahnhof angekommen, befinde ich mich bereits in der historischen Altstadt, doch die Dunkelheit und die Eile, mit der die alten Damen vor mir herstürmen, lässt keine Beschaulichkeit aufkommen.

Von der wilden Idee gepackt, einem alten Schulkameraden eine wichtige Botschaft zukommen zu lassen, überqueren wir den Speyerbach. Wir lassen das metallene Klostertor zur Heiligen Bernadette zur Rechten liegen und biegen in die nahe Bärengasse ein, die fast in vollkommener Dunkelheit vor uns liegt.

Wir passieren kleine Häuser, eng aneinander gebaut, so als stützen sie sich gegenseitig und das uralte Pflastergestein kündet von ihrem Alter.

Ulla Erler findet sofort die richtige Hausnummer und betätigt den Türklopfer, aber nichts regt sich in dem alten Haus, obwohl das Licht im Innern brennt.

Erneut und sehr energisch schlägt sie den Metallring gegen die dazugehörige Platte, da öffnet sich die Eingangstür wie von allein. Sie quietscht nicht, doch ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie es getan hätte.

Die gespenstische Stille lässt die alten Mädchen an der Türschwelle verharren und ungute Vorahnungen lassen sie vielsagende Blicke wechseln.

Wieder ist es Ulla Erler die voranschreitet, den zusammengefalteten Schirm wie zum Schutz gegen die Brust gepresst. Doktor med. Grete van Potgieter, meine mütterliche Freundin, folgt, eine Hand an Ullas Regenjacke geklammert und ebenfalls den Schirm schlagbereit erhoben.

Wieder donnert und blitzt es über dem Rhein, als drehe sich das Gewitter auf der Stelle. Draußen prasselt der Regen wie Steinchen auf das alte Pflaster und spritzt in den Flur herein.

Schritt für Schritt tasten sich die alten Freundinnen den Flur entlang und rufen leise nach Oskar. Aber die Totenstille im ganzen Haus drückt mehr aus als tausend Worte.

An der Holzdiele zum Wohnbereich bleiben die Damen wie versteinert stehen, schreien aber nicht und betrachten stumm das Szenario.

Ich dränge näher, spähe in den Raum und sehe, was geschehen ist, ziehe mein Handy und wähle die Notrufnummer 110, die mir Ulla diktiert.

„Inger Babajaga, in der Bärengasse 13 hier in Speyer. Ich möchte einen Mord melden. Ja einen Mord!“, muss ich wiederholen, als würde ich holländisch sprechen anstatt deutsch.

Plötzlich scheint der Beamte am anderen Ende der Leitung begriffen zu haben und belehrt mich, als wüsste ich das nicht selbst zur Genüge, wie ich mich zu verhalten habe, damit keine Spuren verwischen.

Selbst von diesem düsteren Ort aus hören wir die Sirenen der Polizeiwagen, die aus der nahen Station ausrücken.

„Die wären zu Fuß schneller hier, bei all den Einbahnstraßen, es ist doch nur ein Katzensprung über den Speyerbach!“, knurrt Frau Erler ungehalten, was einer Siebzigjährigen aber nachgesehen werden kann.

In geübter Manier nehme ich den Tatort in Augenschein, ohne ihn zu betreten oder etwas zu berühren. Auch wenn ich nur eine holländische Psychologin bin, so ist das nicht mein erster Tatort, den ich sehe.

„Inger, mein Kind, nutz die Zeit und nimm alles auf, was wir zur Lösung der Fälle benötigen. Die Sirenen sind erst auf dem Eselsdamm, du hast bestimmt noch drei Minuten!“, zischt Gretchen in mein Genick, denn größer ist sie nicht und jedes Mal bekomme ich eine Gänsehaut, wenn sie das tut.

Wie ein Kartograf teile ich den Innenraum des Geschehens in kleine Bereiche auf und speichere meine Beobachtungen. Nicht die Leiche in ihrem Blutbad hat mein Augenmerk, sondern alles drum herum.

An der linken Wand ein Glasschrank, antik aus dunklem Holz. Feines Kristall schimmert heraus, mindestens genau so alt.

Im rechten Winkel dazu steht ein schönes Sofa, Kissen und eine Decke unordentlich, als hätte Oskar noch vor kurzem darauf geschlafen.

Im Zentrum ein niederer Tisch, darauf Salzgebäck und zwei Gläser Wein, noch unberührt, wie es mir scheint.

Ein Mobiltelefon, griffbereit für die Leiche im Sessel. Gegenüber ein weiterer Sessel, das Kissen ist zerknautscht. Dort scheint der Täter gesessen zu haben, nach der Aufstellung der Weingläser zu schließen.

An der Wand zu meiner Rechten ist ein großer Fernseher angebracht, dessen moderne Art im Gegensatz zur antiken Einrichtung steht.

Die Polizeiwagen fahren von der rückwärtigen Seite die Bärengasse herein und ich nutze die letzten Momente.

Die Leiche sitzt in ihrem Sessel, die Hände in die Lehnen verkrallt. Der Kopf hängt hinten über das Kopfteil, bis zur Wirbelsäule abgetrennt.

Das Blutbad ist unaussprechlich. Selbst in die Gläser ist es gespritzt, über den Tisch bis zum leeren Sessel, an die Decke und die gegenüberliegende Wand, aber das Meiste steht unter dem Tisch, wo Oskar im Todeskampf den Teppich mit den Füßen zu einem Wulst zusammengeschoben hat.

Ulla und Gretchen nehmen die Beamten in Empfang und führen sie zu mir an die Tür zum Wohnzimmer.

Der erste Eindruck überwältigt auch sie, doch die berufliche Routine setzt sich über alle menschlichen Gefühle hinweg.

Ich setzte mich im Flur auf den Boden, mit dem Rücken zur Wohnzimmerwand und versenke in scheinbarer Übelkeit meinen Kopf auf die Knie.

Was die Beamten nicht wissen und auch nicht zu wissen brauchen, während ich so dasitze, nehme ich restliche Eindrücke in Bildern in mich auf, die mir von den jüngsten Ereignissen vor Ort erzählen.

Neugierige und auch die Presse drängen zur Vordertür herein, was aber die Polizisten sofort verhindern.

Die Verhöre beginnen und Ulla führt das Wort, während Grete dafür sorgt, dass ich noch unbehelligt bleibe. Sie, als meine Ärztin sorgt für mich, was die Beamten sofort verstehen und so verschafft sie mir die Zeit, wichtige Informationen zu sammeln.

Ein Großaufgebot an Spezialisten trifft ein, die alle Spuren sichern. Auch uns werden Fingerabdrücke abgenommen, obwohl ich die ganze Zeit über Handschuhe getragen habe.

Ich gebe Auskunft, warum ich eben zu dieser Zeit den Oskar Metzger aufsuchen wollte. Also berichte ich wahrheitsgemäß und so kurz und knapp wie möglich.

„Gegen sechs Uhr heute Morgen traf Frau Dr. med. van Potgieter bei mir in Wijk bij Duurstede in Holland ein. Bat mich, ich solle sie nach Speyer begleiten zur Beerdigung ihrer alten Klassenkameradinnen Liesel Bäcker und Maria Steiger, die wie Ihnen bereits bekannt sein dürfte, beide in der Nähe ermordet wurden.

Da sie eine gute alte Freundin von mir ist, und ich gerade nichts anderes vorhatte, fuhren wir mit dem nächstbesten ICE hierher.

Doch Frau Ulla Erler“, womit ich auf die große starke Frau zeige, die meinen Aussagen lauscht wie ein Fuchs, „empfängt uns am Bahnhof in Speyer mit der fürchterlichen Vorahnung, dass noch weitere Lehrerkollegen in Gefahr sein könnten.

Bevor ich ihren Gedankengang noch nachvollziehen konnte, stellten wir unser Gepäck in ihren Hausflur und stürmten hierher.

Was wir vorfanden, wissen Sie bereits. Ich benachrichtigte Ihren Kollegen in der Zentrale, alles Weitere ist Ihnen bereits bekannt!“

Meine Personalien werden aufgenommen, alles nur der Routine wegen und ich muss immer wieder bestätigen, dass ich das Opfer weder kannte noch mit ihm in anderweitigem Kontakt stand und allmählich wird mir die Sache sehr lästig.

Mein Magen knurrt, vom Durst gar nicht zu reden, ich sehne mich nach einem ruhigen Plätzchen, an dem ich meine Gedanken sortieren kann.

Mit einem vielsagenden Blick signalisiere ich den alten Damen, dass wir uns vom Tatort entfernen sollten. Ulla regelt das mit den Beamten, die in Anbetracht der späten Uhrzeit vollstes Verständnis zeigen. Noch einmal bestätigt Frau Erler, dass sie jederzeit in der Maximilianstraße 7 erreichbar ist, ansonsten per Handy.

Draußen herrscht trotz Regen Hochbetrieb. Die Schaulustigen sind immer noch aktiv. Die Reporter stürzen sich auf uns, aber Ulla schirmt Gretchen und mich wie eine Glucke unter den ausgebreiteten Flügeln solange ab, bis die Türen des bereitstehenden Polizeiwagens ins Schloss fallen und wir den Heimweg antreten.

Im Stillen gebe ich den alten Mädchen recht, der Fahrweg ist länger als der Fußmarsch. Dafür halten wir die Regenschirme ungenutzt in unseren Händen und brauchen nicht durch den Nebel zu laufen, der die ganze Speyerer Altstadt durchwabert als wären wir im Herzen Londons.

Die Koffer in der Hand steigen wir eine Treppe hinauf, wo sie uns die Schlafzimmer zuweist, aber für Ruhe scheint es noch nicht Zeit zu sein, denn sie befiehlt uns sofort in die Küche, zu einer ersten Krisensitzung, wie sie es nennt.

Ich streife meine nassen Sachen ab und schlüpfe in einen Jogginganzug, dann suche ich die Küche auf, in der Hoffnung, endlich etwas zu essen zu bekommen.

Erstaunt sehe ich die Alten am Tisch sitzen als wäre nichts weiter geschehen. Tuschelnd wie zwei Schulmädchen stecken sie die Köpfe zusammen und kichern aus Freude sich wieder zu sehen.

Zu meiner eigenen Freude sehe ich den Teller mit belegten Broten, verziert mit Paprikastreifen und Gurken. Salatblättchen quellen heraus und obenauf je ein Tupfer Mayonnaise. Die Schnittchen sind gut und Ulla, wie ich Gretchens Freundin nennen darf, reicht mir eine Tasse Tee. Die Freundinnen trinken zum Wiedersehen ein Glas Sekt.

„Extra trocken“, sagt Ulla. „Das erspart das teuere Lifting. Die Gesichtshaut zieht sich glatt, bis ich hinter den Ohren eine Ziehharmonika habe, die ich unter dem Haarschopf geschickt verberge!“

Gemeinsam kichern die Zwei erneut wie Schulmädchen und ich brauche etwas länger, um die Pointe zu verstehen.

Gretchens Sprache hat sich, obwohl sie seit fünfzig Jahren in Holland lebt, seit der Ankunft in Speyer merklich verändert. Deutsch ist für mich zwar wie eine zweite Muttersprache, aber ich habe schon immer Probleme mit den vielfältigen Dialekten.

Also studiere ich ausgiebig die belegten Schnittchen, wähle nur die mit Mayonnaise als Basis und betrachte die Frauen.

Ulla Erler ist eine imposante Person. Noch immer mindestens 170 cm groß, obwohl sie durch das Alter leicht gebeugt ist. Die mächtige Haarmähne ist meliert, wie Pfeffer und Salz gemischt und die dunklen Augenbrauen weisen darauf hin, dass Ulla einmal dunkelhaarig war. Die graubraunen Augen erinnern mich an eine Wölfin, sind aber freundlich und weise. Das Dreifachkinn und der große Busen geben der mächtigen Erscheinung eine so starke Mütterlichkeit, dass ich mich sehr zu ihr hingezogen fühle.

Wie sie so da sitzen, die alten Damen, in ihre Erinnerungen vertieft, fühle ich auch keine negativen Eigenschaften oder versteckte Gefühle. Beide sind so offen in ihren Wesen, wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem ich als Psychologin mühelos lesen kann.

Aber ich fühle auch die machtvolle Entschlossenheit, als sie sich vom Küchentisch erheben und zu ernsten Dingen schreiten, wie sie es nennen.

Bei aller Wiedersehensfreude wenden sich die Freundinnen nun den Morden und Ullas Recherchen zu.

Ich decke die verbliebenen Schnittchen ab und stelle sie auf die Anrichte. Dabei lausche ich Ullas ersten Berichten zum Mord an Liesel Bäcker.

Neugierig geworden folge ich mit einer weiteren Tasse Tee und wähle mir einen bequemen Sessel am Fenster, von wo aus ich einen schönen Blick zum Dom habe.

„Gretchen, meine Liebe, ich habe alles zusammengetragen, was ich von den 38ern gefunden habe“.

Von meinem Sessel aus beobachte ich Gretchen, die zwei verblichene Klassenfotos studiert. Das Erste zeigt nur Mädchen, das andere nur Jungen.

„Warum hast du das der Buben auch hier aufgestellt?“, fragt Gretchen höchst erstaunt und Ullas Blick wird sehr ernst.

„Ich fürchtete, ohne es genauer benennen zu können, dass auch die Buben betroffen sind und wie du selbst miterlebt hast, hatte ich Recht!“

„Erinnerst du dich an ihn?“, flüsterte Ulla.

„Oh ja, der Oskar Metzger, an den erinnere ich mich sehr gut. Er hat mir den Hof gemacht, aber seine feuchten Hände machten mir eine Gänsehaut!“

Und doch füllen sich die Augen meiner Freundin mit Tränen. Lange betrachtet sie das alte Bild, bis sie es auf den kleinen Beistelltisch zurückstellt und eine Kerze entzündet, als Gedenken für die Toten.

Auch mich erfasst ein Schauer und mein Blick wandert erneut zum Dom, als könnte er mich vor der Traurigkeit bewahren, die über die Frauen kommt. Gretchen liest den Zeitungsbericht.

„Da steht nichts darin wie Liesel und Maria ihr Leben verloren haben!“, aber ihr fragender Blick zu Ulla macht ihr Hoffnung, dass diese vielleicht eine Ahnung haben könnte.

„Ich kenne die Putzfrauen vom Kloster, die haben mich genau informiert“.

Gretchen hält die bedeutungsschwere Pause kaum aus, die Ulla zum Luftholen braucht. Schnaubend wie ein Pferd sammelt die starke Frau all ihren Grips und fährt dann endlich fort.

„Wie bei Oskar, Kopf ab bis zur Wirbelsäule. Einen Draht mit zwei Holzgriffen, im Genick verdreht und ein Blutbad wie in einer Schlachterei!“

Mir wird übel bei der sachlichen Schilderung und ein intensiver Blutgeruch steigt mir in die Nase. Die Frauen haben eine Gabe, das Leid und die nackten Tatsachen so voneinander zu trennen, als seien sie alte Polizisten.

„Also derselbe Täter?“, stellte Gretchen eiskalt fest und Ulla nickt.

Mit einem Blick zu mir vergewissert sich meine alte Freundin, ob ich auch ja alles gehört und verstanden habe, aber ich winke sofort ab. Dieser und auch die anderen Fälle, gehören nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Wenn ich auch in Holland von den Behörden ab und an zur Mitarbeit gebeten werde, so lehne ich eine Einmischung hier kategorisch ab.

Enttäuscht wendet sie sich dem schweren Holztisch zu, der das Zentrum des gemütlichen Wohnzimmers bildet, zieht sich einen Stuhl heran und studiert die Zeitungsausschnitte und handgeschriebenen Zettel, die durcheinander liegen.

Mir wird der Boden zu heiß und bevor Gretchen mich mit ihrem Dackelblick dazu bringt meinen festen Standpunkt zu überdenken, ziehe ich mich lieber in das kleine Schlafzimmer zurück, das Ulla für mich gerichtet hat.

Es ist ja so eine Sache mit fremden Betten und ich bin da keine Ausnahme, aber als ich das uralte Bett sehe, 180 cm lang und 100 cm breit muss ich grinsen. Gott sei Dank, dass ich nicht so groß bin wie Maarten, der hätte sich wie ein Rollmops zusammendrehen müssen. Aber für meine 160 cm reicht das alte Ding bestimmt.

Doch im Bad muss ich weiter grinsen, denn auch hier scheinen die letzten hundert Jahre spurlos an allem vorübergegangen zu sein.

Neugierig drehe ich am Wasserhahn und tatsächlich fließt Wasser heraus. Keine Schwengelpumpe, wie ich fast befürchten musste, als ich die Zinkbadewanne auf geschwungenen Füßen erblickte. Ein Brausekopf hängt darüber und ein Plastikvorhang schützt den alten Holzboden.

Doch die Toilettenspülung ist das Tollste. Eine uralte Zugvorrichtung mit Keramikgriff an einer Kette, die ich mich fast nicht zu benutzen traue. Doch sie hält meinem Zug stand. Die Decke bleibt, wo sie ist, aber der Rheinfall von Schaffhausen macht nur halb soviel Getöse wie die Toilettenspülung.

Zurück in meinem feinen Schlafzimmer beschließe ich meine Koffer erst morgen auszupacken.

Ich öffne das Fenster, wie ich das immer tue, und werfe mich juchzend in das quietschende Bett. Sofort versinke ich in den dreiteiligen Matratzen, kämpfe mit den dick gefüllten Federbetten und befreie mich von dem Federballast, der für einen sibirischen Winter geeignet wäre. Jetzt ist alles urgemütlich und während ich in dem schaukelnden Bett noch an meine Pritsche auf Vaters Lastkahn denke, bin ich eingeschlafen.

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