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Kapitel 3
Die 1938er

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Mein erster Tag in Speyer wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ulla Erler, ehemalige Lehrerin für Mathematik, Englisch und Sport, lässt uns durch die Stadt rennen wie Turnierpferde.

Bis 13 Uhr hat sie ihre Liste abgehakt und sitzt mit uns im Garten des Domhofs.

Mir qualmen die Füße, denn das Pflaster der Maximilianstraße ist nur für Wanderschuhe geeignet.

Das Studium der Wein- und Bierkarte erhellt meine Laune, deshalb bemerke ich nicht sofort, dass ich dem Rapport lauschen soll, den die Damen von sich geben.

Wir bestellen Bier und Schlachtplatten, was ein typisches Pfälzer Essen sein soll. Mit bangem Erwarten, was der Kellner mir vor die Nase stellen wird, lausche ich den energischen Worten der Freundinnen.

„Dass du im Bilde bist, Ingerchen!“, beginnt Ulla mit ungebrochenem Elan ihre Rede.

„Die Gerichtsmedizin in Mainz hat die Leichen noch nicht frei gegeben, wir müssen bis zum Montag warten. Die Priorin, Schwester Bryonia, hat uns unterrichtet, dass die Kripo Ludwigshafen noch keine Hinweise auf den Täter hat, außer ein paar Flusen und einen flüchtigen Fußabdruck.

Ich wiederhole deshalb noch einmal mit Nachdruck: wir müssen uns noch mehr um den Fall kümmern!“

Der Kellner bringt das Bier und ich staune nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Vor jedem von uns steht ein Stein, wie man mir erklärt, gefüllt mit Speyerer Gerstensaft. Der Eichstrich auf dem Glaskrug mit Henkel zeigt einen vollen Liter.

„Was auf dem Oktoberfest ein Maß genannt wird und vornehmlich in Steinzeug serviert wird, heißt bei uns ein Stein, meist in Glas abgefüllt!“, belehrt mich meine Gastgeberin. Dann fasst sie gekonnt mit der Linken in den Griff und stemmt das Gefäß in Augenhöhe.

Grete nimmt die Rechte und macht es ihr gleich. Ich muss beide Hände benutzen und dann stoßen wir an.

„Auf die 38er!“, jubeln die Alten und ein Ruck erschüttert meine Hände, bevor ich durstig trinke.

Über die Schaumkrone hinweg und am Glasrand vorbei erkenne ich einen kleinen Mann mit schütterem Haar, der seinerseits den Stein erhoben hält und mir zuprostet. Hustend stelle ich mein Gefäß ab und fixiere mein Gegenüber. Gretchen und Ulla folgen meinem Blick und ich finde eben noch die Zeit, zu keuchen:

„Schon drei Mal habe ich diesen Mann heute gesehen!“, da schreien die Frauen auf, wie vom Teufel gebissen, werfen die Stühle hinter sich um und rennen auf den Fremden zu.

Der Kellner spurtet herbei, wirft sein Handtuch über die Schulter und stoppt. „Nichts passiert“, sagt sein Gesichtsausdruck und er verschwindet.

Ich bleibe, wo ich bin und ducke die Nase hinter den Stein Bier, denn alle Gäste schauen auf meine Begleiterinnen, die den kleinen Mann scheinbar erdrücken wollen.

Gretchen hüpft und der Mann drückt seinen Kopf an Ullas massige Brust. Er grinst von einem Ohr zum anderen und hat sogar die Augen geschlossen, während Ulla sein kahles Haupt streichelt und küsst.

Der Kellner trägt drei große Teller zu meinem Tisch und ich studiere die Auflage. Ein Berg Sauerkraut, das herrlich duftet, daneben ein Leberknödel. Kesselfleisch und hausgemachte Wurst, gekocht wie gebraten, liegen heiß auf dem Teller. Dazu gibt es frisch gebackenes Bauernbrot und Senf in Töpfchen gefüllt. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, aber ich kann noch nicht loslegen.

Mit viel Trara verfrachten die Mädchen den kleinen Mann samt Hut und Bierkrug an unseren Tisch.

„Das ist der Ernst. Auch ein 38er!“, jubelt Ulla und himmelt den Mann an meiner Linken an.

Der Kellner bringt einen vierten Teller, ebenfalls eine Schlachtplatte, steuert zuerst den verlassenen Tisch an, sieht den Gast dann aber bei uns und bringt ihm den Teller. Weiterer Jubel schallt durch den Garten, als die 38er die Übereinstimmung der Speisen erkennen und dann prosten sie sich zu, dass die Gläser knirschen.

Ernst erhebt sich noch einmal und wieder muss ich das Besteck aus der Hand legen, weil ich eine Ansprache befürchte. Doch Ernst reicht mir die Hand, dreht die meine um und haucht ein Küsschen darauf.

„Ernst Gotterbarm!“, stellt er sich vor und ich nenne meinen Namen. Dann erst darf ich essen.

Ich beschließe nie mehr mit Gretchen hierher nach Speyer zu fahren, das ist mir zu stressig. Mit zwei so alten Schachteln kann eine so junge Frau, wie ich es bin, nicht mehr Schritt halten.

Mit Messer und Gabel bewaffnet gestikulierend, ist Ulla ins Gespräch mit Ernst, über die Ereignisse des Morgens vertieft. Gretchen übersetzt unverständliche Gesprächspassagen für mich ins Holländische, damit ich nahtlos folgen kann.

Ernst kann seinen Blick gar nicht mehr von Ulla losreißen und sein Schnurrbart ist bereits mit reichlich Senf und Sauerkraut behängt, weil er nicht sieht, wohin er seine Gabel schiebt.

„Also, alles kurz und knapp geschildert, ergeben meine Recherchen folgendes Bild!“, erläutert Ulla ihrem Zuhörer.

„Die Liesel Bäcker war das erste Opfer, mit einem Draht erdrosselt, der das Fleisch bis zur Wirbelsäule durchschnitt. Sie kam vom Kloster allein die Stuhlbrudergasse herauf, schob ihr Fahrrad und wurde auf der Höhe der Bäckerei Höchemer von hinten ermordet. Keine Zeugen, keine Geräusche, kein Raub, kein Sexualverbrechen. Als der Bäcker seinen Laden öffnet, findet er die Nonne im Rinnstein und ruft die Polizei. Das war am Montagmorgen.

Das zweite Opfer, die Maria Steiger, geht am Dientagabend, wie jeden Abend, nach der Vesper durch den Klostergarten und prüft, dass alle Schlösser verschlossen sind. Am Fahrradschuppen trifft sie auf ihren Mörder - Schlinge zu, Kopf ab.

Eine Mitschwester findet die Maria kurz darauf und alarmiert die Polizei, aber erneut nur wenig Spuren und kein Hinweis auf den Täter“.

Empörte Blicke von den Nachbartischen, die den lauten Worten Ullas gelauscht haben, werden von den 38ern schlichtweg ignoriert. Sie sind in ihrem Element.

Ich schaue nur gelegentlich von meiner Schlachtplatte auf und betrachte kauend das Sudhaus, in dem die hauseigene Brauerei den wunderbaren Gerstensaft braut.

„Ich erfuhr das Drama noch am selben Abend und rief das Gretchen zu Hilfe, erstens, weil die eine 38er und zweitens mit der Inger befreundet ist!“, womit sie auf mich deutet und alle meine Befürchtungen bestätigt. Zerknirscht lausche ich und bestelle ein weiteres Bier.

„Was du nicht wissen kannst, die Inger ist doch eine Polizeipsychologin!“, wobei sich Ulla verschwörerisch zu Ernst über den Tisch beugt und ihm mit ihrer Gabel beinahe in die Nase sticht.

„Das Mädchen ist berühmt, sag ich dir, hat noch jeden Fall gelöst, der ihr vor die Nase kam. Ein echtes Naturtalent als Profilerin. Nur zu blöd, dass sie es hier nicht mehr tun will, weil die deutschen Behörden ihre eigenen Leute haben. Aber ich arbeite daran, das darfst du mir glauben!“

Drei alte Augenpaare blitzen mir wie auf Kommando zu, als ob ich eine Bosheit getan hätte. Vergebens lange ich nach meinem Stein und finde ihn nicht, weil ihn der Kellner mitgenommen hat. Verlegen rühre ich im Rest Sauerkraut, als ob ich eine Perle darin finden könnte.

„Weiter im Text. Am Mittwochabend, also gestern, telefonierte ich noch mit Oskar, dass er auf der Hut sein solle und das ich mit Verstärkung käme, um ihm alles Nähere zu erklären. Doch als wir eintrafen, Gretchen, Inger und ich, war die Haustür nur angelehnt und was fanden wir im Wohnzimmer?“

Gebannt lauschen die Gäste an den anderen Tischen und so mancher hat den Kopf in Ullas Richtung gebeugt, um ja nichts zu verpassen.

„Den Oskar, auch erdrosselt bis der Kopf ab war, mit einem Draht, auch ein 38er, auch ein ehemaliger Lehrer des Klosters zur hl. Bernadette.

Halten wir die Gemeinsamkeiten fest:

Alle drei waren 38er.

Alle waren Lehrer oder Lehrerinnen im Kloster.

Alle wohnten sie in Speyer, Nähe Dom, Nähe Kloster.

Alle waren, auf Neudeutsch gesagt: Single.

Alle waren gute, unauffällige Bürger der Stadt.

Alle wurden auf dieselbe Weise getötet.

Von wem? Warum? Und vor allem, wer noch?“

Jetzt erhebe auch ich wieder meine Augen. Was soll diese unmögliche Frage? Grete sperrt ungläubig den Mund auf, schweigt aber fassungslos. Ernst starrt Ulla an und deutet mit dem Zeigefinger auf ihren Busen und stammelt:

„He Mädchen, du warst doch auch Lehrerin im Kloster. Du bist auch eine 38er. Du wohnst auch hier in der Nähe und bist Single. Und wenn meine Recherchen all die Jahre stimmen, dann warst auch du immer ein braves Mädchen, nicht wahr?“

Ulla bestätigt mit einem majestätischen Kopfnicken. Grete schlägt die Hände vor ihren Mund. Ernst rauft sich erregt die Haare und stöhnt.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und forsche in Ullas Gesicht. Sie muss übergeschnappt sein, denke ich bei mir, aber ich sehe nichts dergleichen in ihren Ausdruck.

„Nun, Mädchen meiner Träume!“, ruft Ernst in die aufgekommene Stille.

„Ich weiche ab jetzt nicht mehr von deiner Seite. Betrachte mich als deinen Bodyguard und verfüge über mich. Ich niste mich in deinem Gemäuer ein, schlaf auch auf deinem Bettvorleger, wenn du das forderst, aber du gehst keinen Schritt mehr ohne mich, verstehst du, das ist ein Befehl!“

Erleichtertes Gekichere schlägt ihm entgegen, was nicht zuletzt vom Bier herrührt, das wir alle intus haben. Doch bevor Ernst enttäuscht dreinschauen kann, hält ihm Ulla die Hand vor die magere Brust und sie beschließen den Pakt gegen Tod und Teufel.

Gretchen ist gerührt vor Glück. Mit einem Blick zur Uhr stellt Ulla fest, dass es Zeit für einen Schönheitsschlaf ist und sie bezahlt die Zeche.

Wie Kadetten folgen wir dem Käp’ten zum Hof hinaus, leicht schwankend vom Speyerer Bier.

Ernst holt seinen Koffer und den guten Anzug aus dem Wagen, der auf dem Domparkplatz steht und dann tauchen wir in die Kühle von Ullas Haus ein.

Stimmen wecken mich. Die Kirchenuhren schlagen sieben Mal. In Ullas Wohnung herrscht Hochbetrieb, alle laufen hin und her.

Im Wohnzimmer treffe ich auf die anderen Bewohner, die sich bereits in Schale geworfen haben für das bevorstehende Klassentreffen. Ulla rückt Ernst die Krawatte zurecht, zieht hier am Kragen und dort an einem Ärmel. Prüft, ob sein Scheitel durch die wenigen Haare gerade gezogen ist und er hält grinsend still wie ein Lämmchen.

Grete sitzt am großen Tisch und sortiert die Handtaschen um, wobei mein Blick auf ihre Waffe fällt.

„Holla Mädchen, hast du dafür auch einen Waffenschein?“, frage ich neugierig und sofort steht Ernst neben mir wie ein Wachhund in Habachtstellung.

„Uiii!“, ist sein ganzer Kommentar und mit Daumen und Zeigefinger nimmt er die Waffe hoch vor die Augen und dreht sie im Licht.

„Natürlich habe ich einen Waffenschein!“, erwidert Gretchen pikiert.

„Bei den vielen Narkotika, die ich im Hause haben muss, meiner verbliebenen Krebspatienten wegen, muss ich eine Waffe haben und regelmäßige Schießübungen ablegen. Die Beamten selbst haben mich beraten, nachdem mein Mann gestorben war, denn das Vorgängermodell war mir viel zu schwer geworden!“

„Das ist eine Pony-Pocketlite, wenn ich mich nicht irre. 9 mm kurz, 6 Patronenmagazin, 370 Gramm schwer!“, stellt Ulla fest und nimmt die Pistole an sich. Sie dreht und wendet das Modell in ihren Händen, als würde sie tagtäglich nichts anderes tun.

Ernst und ich staunen. Dann nimmt Ulla ihre Handtasche und genehmigt uns einen Blick auf ihre Waffe. Ernst fällt die Kinnlade herab und ihm entwischt ein fassungsloses:

„Mädchen?“, das gleichzeitig Hochachtung und Bewunderung ausdrückt. In der Hand hält sie eine Mini-Gun von Smith & Wesson, 9 mm, 8+1 Patronen, 705 Gramm schwer.

„Extra für Linkshänderinnen, wie ich eine bin!“, ergänzt Ulla mit Stolz und steckt die Waffe in die Handtasche, die sie für das Klassentreffen ausgewählt hat.

Für den Abend steht mein Entschluss fest. Ich suche mir im Domnapf einen ruhigen Tisch im Freien, mit Direktblick auf den Dom, wähle aus der Weinkarte einen lieblichen Weißherbst, der rosé in der Abendsonne glänzt.

Meine Alten sind im Nebenzimmer des Gasthauses verschwunden und ich genieße es zutiefst, endlich allein zu sein.

Die vielen Gäste um mich herum stören mich wenig, denn das Stimmengewirr aus Dialekten und anderen Sprachen ist beinahe wie Musik, die im Hintergrund abläuft.

Meine neuen Basler Sandalen habe ich gegen ein Paar leichte Lederschuhe getauscht und jetzt bewege ich genüsslich die Zehen unter dem Tisch.

Während ich den ersten Schluck Wein in meinem Mund schwenke, so wie Maarten mir das beibrachte, fällt ein Schatten über meinen Tisch und ich blicke erstaunt in die braunen Augen der Polizistin vom Morgen.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen, Frau Babajaga?“

Mit der Hand weise ich auf einen freien Stuhl zu meiner Rechten und sie setzt sich und legt ihre Mütze auf den Tisch. Neugierig erwarte ich weitere Worte aus ihrem Mund und sie winkt den Kellner fort, der nach ihrer Bestellung fragen will.

„Mein Name ist Reinhard. Kriminalkommissarin Claudia Reinhard von der Kriminalpolizei Ludwigshafen. Meine Abteilung schaltet sich immer ein, wenn im Umkreis mehrere Morde geschehen!“, flüstert die junge Frau und fixiert mich berufsmäßig, aber freundlich.

Still lausche ich auf die nächsten Worte, denn die Botschaft ihrer Anwesenheit liegt offen auf der Hand, die Kripo ist neugierig auf mich geworden.

„Nach unserer Begegnung im Klostergarten sprach ich mit meinem Chef, Heiner Specht, über Sie und Ihre Fähigkeiten. Wir fragen uns, ob Sie vielleicht gewillt sind, mich nach Ludwigshafen zu begleiten und über Ihre Arbeit in Holland zu berichten, dass wir uns ein Bild machen können, wie die holländischen Kollegen arbeiten“.

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht und ich drücke mich entspannt an die Stuhllehne. Mir ist sofort klar, dass hinter der netten Anfrage mehr steckt als die Beamtin preisgibt und in Anbetracht der fortgeschrittenen Tageszeit kein Referat über die Arbeit der holländischen Profiler gewünscht wird.

Noch einmal nippe ich an dem Weißherbst und bedauere bereits, das fast volle Glas zurückzulassen.

Ich winke dem Kellner, bezahle den Wein und schreibe für Gretchen im Nebenzimmer eine Notiz, wo ich abgeblieben bin.

Während der Fahrt nach Ludwigshafen bleibe ich wortkarg und sortiere meine Gedanken. Meine Blicke wandern über die Äcker und ich versuche die großen Hinweisschilder zu lesen, die an der B9 aufgestellt sind. Sie kündigen eine Sonderausstellung im historischen Museum an, die zeitgleich mit dem Brezelfest eröffnet werden soll. Mehr verstehe ich im Vorbeifahren nicht, aber Ulla wird mich bestens informieren, wenn ich sie frage. Da bin ich mir sicher.

Claudia Reinhard führt mich in ein Büro, das für Gäste eingerichtet ist. Zwei Orchideen blühen auf der Fensterbank und ein massiger Philodendron beherrscht eine ganze Wand. Seine langen Luftwurzeln und die riesigen Blätter sehen gesund aus und strotzen nur so vor Kraft.

Ein Tisch und mehrere Stühle bilden das Zentrum und aus der kleine Küche dringt Kaffeeduft zu mir herüber.

Nach einem Anruf erscheint der Chef der Abteilung, Kriminaloberkommissar Heiner Specht. Er setzt sich mir gegenüber. Lächelnd nimmt er das Gespräch auf, wobei er sich vorsichtig an sein Vorhaben herantastet.

„Waren sie schon oft bei der Kripo? Die meisten Besucher empfinden ein Unbehagen, auch wenn sie nur als Gäste hier herkommen“, fragt mich der Mittfünfziger, wie ich tippe. Er trägt Anzug und Krawatte, ist sauber rasiert, frisiert und er riecht wie frisch geduscht.

„Ich fühle mich recht wohl hier und um ihre Frage zu beantworten, ja, ich fühle kein Unbehagen und auch keine Befangenheit, weil Sie Polizeibeamte sind. Des Weiteren habe auch ich lesen gelernt und sehe eine Akte mit meinem Namen vor Ihnen liegen. Sie haben sich bereits über mich erkundigt?“, frage ich gerade heraus, denn das ist meine Art.

„Kollegin Reinhard hat das getan und ihr verdanken Sie auch die späte Einladung. Offen gestanden treten wir auf der Stelle“, gibt der Beamte zu verstehen und ich nicke.

Frau Reinhard reicht mir eine Tasse Kaffee und ich nehme mir Milch und Zucker.

„Ich arbeite mit dem Verstand, mit Fakten, Beweisen und mit nachprüfbaren wissenschaftlichen Ergebnissen, so wie ich das auf der Polizeischule gelernt habe. Es stehen mir auch Profiler wie Sie zur Seite, aber dennoch ist Kollegin Reinhard von Ihrer Einmaligkeit überzeugt!“

Mit beiden Händen reibt er sich das Gesicht und den Hals, denn die Müdigkeit sitzt ihm sichtlich im Genick. Ich atme mehrmals tief ein und aus und beschließe dann, ihm meine Hilfe zukommen zu lassen.

„Wenn ich die ganze Situation, die Fragen, die Andeutungen und ihre müden Gesichter recht interpretiere, dann haben Sie eine weitere Leiche und noch immer keinen Hinweis auf den Täter!“, sage ich und alle Blicke sind auf mich gerichtet.

„Man muss keine Psychologin aus Holland sein, um sich nicht an fünf Fingern abzählen zu können, warum Sie mich hergebeten haben!“

Reinhard übernimmt erstaunt das Gespräch.

„Wie kommen Sie zu so einem weitreichenden Schluss? Ist das Erfahrung oder Können oder haben Sie Informationen, die wir nicht haben?“

„Sagen wir es einfach so: Ich kann zwei und zwei schneller zusammenrechnen als andere Menschen. Ich sehe Dinge, die Kollegen verborgen bleiben und Ulla Erler sagte gestern Abend sehr deutlich zu Ihrem Chef, dass sie mit weiteren Morden rechnet!“

Reinhard macht ein mürrisches Gesicht.

„Aber wie genau machen Sie das, erklären Sie mir den Unterschied zwischen Ihnen und unseren Profilern!“

Ein Lächeln zieht sich über mein Gesicht, denn das ist die Frage der Fragen schlechthin. Wie sollte man etwas erklären, das man schon immer kann, aber andere Menschen eben nicht. Ich bemühe mich um eine einfache Antwort, die der Beamtin ermöglicht mich zu verstehen, ohne mich merkwürdig zu finden oder mich gar zu glorifizieren.

„Das Ganze beruht auf einer Sensibilität, die mir meine Mutter vererbte. Ich lese in den Gesichtern, in Mimik und Gestik, stricke meine alten Erfahrungen hinein. Als Muster stehen mir die alten Psychologen und ihre Weisheiten zur Seite und ich erarbeite mir eine überprüfbare Theorie, der ich dann folge, bis sozusagen ein gestrickter Pullover vor mir liegt!“

Reinhard versteht die bildhafte Erklärung, während Specht noch an der Erkenntnis kaut.

„Ich gestehe, vom Stricken keine Ahnung zu haben! Das brauche ich in meiner Position auch nicht.“, verkündet Heiner Specht resigniert.

„Was mich dazu veranlasst hat, Sie hierher zu bitten ist vor allem der Druck, den der bischöfliche Stuhl in Speyer auf diese Behörde ausübt. Es gilt die gewaltsamen Tode zweier Nonnen endlich aufzuklären, deren Beerdigung bereits mehrfach verschoben wurde.

Wären Sie bereit mit nach Mainz zur Gerichtsmedizin zu fahren und sich die neue Leiche anzusehen? Wenn ich auch offen gestanden nicht der Meinung bin, wie Kollegin Reinhard, dass Sie mehr sehen als unsere Leute“.

Zeitdruck ist der Polizisten Leid, denke ich mitleidvoll. Vor allem wenn Ulla Recht behält. Deshalb bekunde ich mein Einverständnis.

„Sie sind als Mitarbeiterin der Polizei in Holland durch einen Eid zur Verschwiegenheit verpflichtet worden?“

Ich nicke.

„Dann mache ich Sie darauf aufmerksam, dass dieser Eid auch in Deutschland bindend ist!“

Specht erhebt sich und tritt an meine Seite. Ich muss an ihm hochschauen, um den Blickkontakt zu halten.

Sanft, aber energisch packt er mich am Oberarm und geleitet mich zu seinem Dienstwagen.

Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich noch im Hinausgehen wie Frau Reinhard mir durch ihre Gestik signalisiert, dass sie über ihren Chef triumphiert hat: Der Abend gehört uns Frauen.

Speyerer Altlasten

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