Читать книгу Science Fiction Dreierband 3007 - Drei Romane in einem Band - W. W. Shols - Страница 9
1
ОглавлениеDas schien heute ihr größter Tag zu werden.
„Es versteht uns“, behauptete Dr. Addison. „Es versteht immerhin, dass wir Leben verkörpern, dass wir in gewissem Sinne seinesgleichen sind.“
„Okay“, nickte Leutnant Melrose grinsend. „Hauptsache, wir wissen erst einmal umgekehrt Bescheid. Es scheint sich tatsächlich um etwas Lebendiges zu handeln.“
Addison warf ihm einen empörten Blick zu, den er aber nicht bemerkte, weil sie beide hintereinander in der engen Kabine saßen. „Eines Tages werde ich mich mit ihm unterhalten“, versicherte er mit übertriebenem Optimismus.‟ In diesem Augenblick war er zu jeder Übertreibung bereit, nur um sich gegen die phlegmatische Interessenlosigkeit des Piloten zu wehren.
„Haben Sie seine Bewegung gesehen? Wir haben ganz still gelegen. Einzig und allein der Lautsprecher war in Aktion. Das Ding reagiert akustisch. Es kann uns hören ...“ Addison gab sich keine Mühe, seine Aufregung zu verbergen.
Obwohl das Wesen keinerlei sichtbare Sinnesorgane trug, hatte er das Gefühl, dass es ihn durch den Bildtauscher fasziniert anstarrte. Zwischen ihnen lag die statische Leichtmetallkonstruktion der Schiffswand. Der Bildtauscher – praktisch nichts anderes als ein Videoskop, das nach beiden Seiten empfing und sendete – wirkte wie eine dicke Quarzglasscheibe. Die einander so fremden Wesen waren sich seltsam nah, obgleich die so unterschiedlichen Atmosphären jeden für sich abkapselten und eine niemals überbrückbare Grenze zwischen ihnen aufzurichten schien.
Das kleine Zwei-Mann-Boot lag fest verankert auf dem harten Grund. In seinem Inneren herrschte gute, stets sich erneuernde Sauerstoffatmosphäre. Wie ein sich abkapselndes Geschwür klammerte es sich in der von Natur aus feindlichen Umgebung fest. Draußen dagegen herrschten Methan und Ammoniak; eine Welt, in der sich das fremde Wesen zu Hause fühlte.
Fünfmal waren die Menschen bereits in den letzten Monaten von ihrer Station auf Kallisto aufgebrochen, um den größten Planeten des Sonnensystems zu erforschen. Bei der dritten Expedition hatten sie diese, kompakten gliederlosen Wesen entdeckt. Erscheinungen, die sich bewegten und die Flucht ergriffen, sobald sich der Mensch näherte. Heute blieb eines von ihnen unbekümmert liegen und schien keine Angst mehr zu haben.
Angst? An der Richtigkeit dieser Definition ließ sich zweifeln. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, dass es wirklich Angst war, was die fremden Wesen zu ihrem Verhalten zwang. Niemand konnte überhaupt etwas mit Sicherheit sagen, soweit es das Leben auf Jupiter betraf. Sie standen ganz am Anfang ihrer Forschung. Sie wussten weniger über ihn als ein Frosch über die Dinge jenseits seines Schilfufers.
Leutnant Melrose schüttelte sich. Er übertrieb dabei gehörig, nur um zu zeigen, wie wenig sympathisch er die fremde Umgebung fand.
„Eine Qualle aus dem Atlantik wäre mir lieber“, behauptete er. „Was uns aber die Schöpfung hier vorsetzt, hat gewiss nicht die Aufgabe, jemals in einen Kontakt mit uns zu treten. Dieser Bursche hat uns nicht mehr zu sagen als ein Sandhaufen. Sie finden keine Intelligenz auf Jupiter, Doc. Glauben Sie mir das! Begnügen Sie sich damit, den Allgemeinzustand dieses Planeten zu erforschen.“
„Was hier erforscht wird, überlassen Sie getrost den Wissenschaftlern“, gab Addison gereizt zurück. „Das Ding hat uns zur Kenntnis genommen, und es läuft nicht weg. Sie sollten getrost einmal intensiver hinsehen und sich klarwerden, wie faszinierend dieser Anblick ist.“
„Ich gucke schon die ganze Zeit. Aber was hilft’s wenn er uns nicht sieht? Er hat keine Augen, keine Ohren, keine Nase ...“
„Dann wissen Sie mehr als ich. Über die Anzahl der Sinne dieser Entität kann man absolut noch nichts sagen. Eine biologische Erforschung dürfte zudem schwierig sein. Wir müssen den Umweg über die Verhaltensforschung machen. Wenn wir beweisen können, dass es uns hört, wissen wir auch, dass es Ohren besitzt, ganz gleich, ob man sie nun sehen kann oder nicht.“
„Na schön“, nickte Melrose obenhin. „Forschen Sie! Wir haben noch einen ganzen Standardtag Zeit für diese Späße. Die Rückkehr ist für spätestens in zweiundzwanzig Stunden notwendig. Sie gestatten, dass ich mich inzwischen ein bisschen schlafen lege.“
Addison hatte nichts dagegen. Der Leutnant würde ihn bei seiner Kleinarbeit nur stören. Vor Allem, wenn er seine völlig unwissenschaftlichen Bemerkungen nicht unterdrückte.
Die Antischwerkraftmaschine lief automatisch. Sie absorbierte einen wesentlichen Anteil der natürlichen Schwerkraft des Jupiter. Trotzdem wog man hier immer noch ungefähr das Doppelte als normal. Und die Männer, die seit Monaten auf dem Mond Kallisto Quartier bezogen hatten, waren längst an eine wesentlich geringere Gravitation als auf der guten Mutter Erde gewöhnt.
Melrose schob seinen Sitz vor und klappte ihn zu einer Liege zurück. Addison dagegen kroch noch näher an den Bildschirm heran und kämpfte fanatisch gegen die mächtige Schwerkraft des Planeten. Er blieb sitzen und starrte auf den lebendigen Klumpen, der draußen vor seinem Empfänger hockte.
„Er bewegt sich mehr wie ein Fisch, wie ein Tier, das in einer Flüssigkeit lebt. Aber da draußen ist kein Wasser und auch nichts in dem gleichen Aggregatzustand. Ich denke mir, die Bewegungen eines Lebewesens müssen auf Jupiter einfach so vorsichtig und behäbig sein, weil die enorme Schwerkraft es verlangt. Ich denke mir, sie haben hier einen ganz anderen Lebensrhythmus. Sie leben langsamer, sie leben länger. Vielleicht eine halbe Ewigkeit ...“
Melrose gab keine Antwort. Er schien tatsächlich zu schlafen.
Dr. Addison schielte nur mit einem Auge zu seinem Vordermann hin und konzentrierte sich gleich wieder auf den Bildschirm. Er war dem Piloten nicht einmal böse. Diese Offiziere von der Space Force waren für einen ernsten Wissenschaftler sowieso die reinsten Ignoranten. Sie taugten gerade zum Chauffeur und blieben immer eine Klasse unter dem akademischen Niveau. Addison hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu ereifern.
Er starrte auf den Klumpen, der jetzt wie ein toter Gegenstand dasaß. Nur seine streng blaue Färbung hob ihn von dem Gelb und Schwefelgrün der kahlen Nachbarschaft ab. In der ölig flimmernden Atmosphäre waren ein paar treibende Lichtreflexe sichtbar. Auf Jupiter war es niemals ganz windstill. Dafür sorgten schon die gegensätzlichen Temperaturen auf dieser unausgeglichenen Welt.
Aus der äußeren Methan und Ammoniak-Atmosphäre drangen dann und wann Hagelschauer. Wasserstoff ist frei reichlich vorhanden und verbindet sich – wo irgend möglich – mit dem weniger häufigen Sauerstoff. Die Hagelschauer hätten längst eine kilometerdicke Eisschicht um den Planeten gelegt, wenn nicht seine innere Glut das verhinderte. Wo diese gegensätzlichen Tendenzen sich trafen, gab es den Kompromiss einer annähernd festen Planetenoberfläche. Und dort musste sich auch Leben gebildet haben. Bescheidenes Leben.
Addison erinnerte sich, wie er in früheren Jahren alle Hypothesen bekämpft hatte, die dem Jupiter das Leben absprechen wollten. Fast gegen seine wissenschaftliche Überzeugung hatte er das getan, weil der geringe Sauerstoffgehalt der Jupiter-Atmosphäre tatsächlich auf eine tote Welt hindeutete. Seine Bedenken waren weniger logisch untermauert, sondern mehr einem sentimentalen Gefühl entsprungen. Es konnte einfach nicht wahr sein, dass die Natur den größten und erhabensten Planeten des Sonnensystems so stiefmütterlich behandelt hatte.
Und jetzt bewegte sich dieser blaue Klumpen. Schon seit Monaten grassierte die Aufregung unter den Expeditionsteilnehmern, seit man festgestellt zu haben glaubte, dass die Jupiter-Wesen vor ihnen wegliefen. Männer wie Dr. Baily hatten freilich zu bedenken gegeben, dass es sich auch um rein physikalische oder chemische Reaktionen handeln könne. Das Leben an sich sei damit noch längst nicht bewiesen.
Und heute war eines dieser Wesen einfach hocken geblieben und hatte sich sogar mit seinem gliederlosen Körper nach der Methode einer Schnecke hergerobbt. Das war ein Beweis für die Neugier.
Und wo Neugierde ist, da muss auch Leben sein.
„Wenn das Ding wenigstens ein Auge zeigen würde! Oder ein Ohr.“
Vor zehn Minuten hatte Addison ein paar Sätze über den Außenlautsprecher gesagt. Und da hatte sich das Wesen einen Augenblick lang wie toll gebärdet. Jetzt lag es wieder ganz ruhig da und dachte noch immer nicht an einen Rückzug.
Wenn man es mit bekannten Erscheinungsformen verglich, so hatte es Ähnlichkeit mit einem Kaktus. Sein Körper war in regelmäßigen senkrechten Reihen mit Stachelbüschen besetzt. Diese tausend Nadeln waren ununterbrochen in Bewegung und wahrscheinlich auch für das monoton summende Geräusch verantwortlich, das über das Außenmikrofon hereingetragen wurde.
Addison fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Melrose begann gerade, leicht zu schnarchen, und er musste ihn anstoßen, um dieses dümmste Geräusch eines Menschen zu unterbinden. Wahrscheinlich wäre es nicht weiter schlimm gewesen, den Jupitermann mit einem Schnarchen zu konfrontieren, aber Addison war durch und durch Ästhet, und daher ging ihm so etwas gegen den Strich.
Nachdem der Schlaf des Leutnants ruhiger geworden war, entschloss sich der Arzt, seine spekulativen Gedanken zu bremsen und dafür zu arbeiten. Nur mittels einer sorgsam durchdachten Versuchsreihe bot sich die Chance, über die Verhaltensweise des Wesens ein gewisses System aufzustellen.
Heute musste er allerdings improvisieren, denn niemand hatte damit gerechnet, dass ein Wesen vom Jupiter so nahe herankommen würde. Er nahm noch einmal das Mikrofon und sprach ein paar Sätze.
„Guten Tag, Sir! – Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen. Es hat uns sehr beeindruckt, dass Sie Ihre Scheu endlich abgelegt haben und Vertrauen zu uns fassen. Wir kommen in friedlicher Absicht, das möchte ich auf jeden Fall einmal vorausschicken. Wir kommen, um zu lernen. Weil uns die Neugier des Forschers treibt, der alle Geheimnisse des Weltalls zu ergründen sucht.“
Addison deklamierte noch ein paar Sätze weiter. Dabei war er sich längst im Klaren darüber, dass sein Text nicht mehr Sinn hatte, als wenn er von eins bis hundert zählen würde. Was wusste der Jovianer schon vom Weltall? Was wusste er vom Forscherdrang? Vielleicht war ihm nicht einmal der Unterschied zwischen Krieg und Frieden bekannt.
Trotzdem! Er reagierte. Er begann wieder zu vibrieren und zu tanzen. Er sah possierlich aus. Addison dagegen fragte sich, ob es wirklich possierlich war. Nicht auf den Anschein, sondern auf die objektive Bedeutung kam es an. Dieses Schütteln und Zittern konnte ebenso die Äußerung von Zufriedenheit wie auch eine Drohung bedeuten.
Trotzdem war Addison im Augenblick froh, dass Melrose schlief. Der Leutnant hätte bei solchen Befürchtungen wahrscheinlich gleich mit dem Daumen an der Waffe reagiert. In dieser Situation aber konnte nur der Mut des friedlichen Wissenschaftlers weiterhelfen.
Er schwieg und schaltete das Mikrofon für einen Moment ab. Das Wesen sackte sofort in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Dabei wechselte auch seine Farbe um eine Nuance. Während des Tanzes hatte es sich leicht ins Violett gewandelt, jetzt strahlte es wieder tiefblau. Aber es lief nicht weg.
Dr. Addison entschloss sich, zufrieden zu sein. Er war ein ungeduldiger, wissensdurstiger Mann, hatte aber gleichzeitig gelernt, dass wissenschaftliche Forschung ein Abenteuer in der Zeitlupe war. Neue Erkenntnisse muss man sich in der Regel mit viel Geduld zusammentragen.
Er schaltete die Röntgenanlage auf den Bildtauscher. Vielleicht gelang es ihm, den Körper des Jovianers optisch zu durchdringen. Wenn er gleichzeitig eine Aufnahme davon machte ...
Das wäre ein sensationelles Ergebnis!
Er war durchaus begeistert von seiner Idee. Einen besseren Vorschlag hätte kaum jemand machen können. Jeder Handgriff saß. Er konnte das Ergebnis kaum abwarten.
Der Schalter rastete ein. Mit der linken Hand regulierte er die Welleneinstellung. Der rechte Zeigefinger drückte den Auslöser.
Im selben Augenblick geschahen zehn Dinge auf einmal.
Die Sicht auf der Bildscheibe durchdrang den fremden Körper. Die Robot-Kamera aktivierte und machte fünf Aufnahmen pro Sekunde. Aus dem Lautsprecher in der Pilotenkanzel drang ein Schrei. So spitz, dass Addison das Gefühl hatte, ein Messer treffe auf sein Trommelfell.
Er hielt sich die Ohren zu, als es bereits zu spät war.
Auf dem Bildschirm sah er die blaue Kugel davonschweben. Mit der Geschwindigkeit eines Düsenbootes jagte sie über die spröde Landschaft und verschwand dann in einer Felsspalte. Mit dem Grad der Entfernung hatte das erschreckende Geräusch abgenommen.
Addison ließ die Hände sinken und schaltete die Röntgenkamera auf Null. Er hatte einen Fluch auf den Lippen. Doch damit kam ihm Melrose zuvor.
„Zum Teufel, Addison! Sind Sie übergeschnappt? Ein solches Geschrei gibt’s nicht einmal in einem Affenkäfig.“
„Wir sind auch nicht in einem Affenkäfig, sondern auf Jupiter.“
„Okay! Ihre Belehrung ist nicht sehr witzig, Doc. Jupiter ist zwar groß genug, dass Sie sich in den meisten Fällen wie ein Kannibale benehmen können. Aber bitte nur, wenn Sie allein sind.“
„Schon gut, Sie Schreihals ...“
„Schreihals!“ Melrose lachte wütend und humorlos. „Sie nennen mich einen Schreihals? Sie ...?“
„Sie irren sich, weil Sie geschlafen haben, Leutnant“, erklärte der Arzt leidenschaftslos. „Den hat der Jovianer ausgestoßen. Nicht ich.“
Melrose blickte sich um und sah den Wissenschaftler durchdringend an. „Sie sind doch nicht inzwischen verrückt geworden, nicht wahr?“
„Sie meinen, weil die Jovianer bisher keinen Laut von sich gegeben haben, müssten sie auch stumm sein. Bitte!“ dabei zeigte Addison auf den Bildschirm. „Er hat geschrien und ist dann weg gerannt.“
Melrose drehte jetzt auch seinen Körper nach, während er sich bisher nur den Hals verrenkt hatte. Seine Wut schien abzuklingen. Immerhin interessierte ihn das.
„Hm, schon möglich, Doc. Der Rest des Schreis klingt mir jetzt noch in den Ohren. Ein solches Organ habe ich Ihnen bis heute auch nicht zugetraut. Was haben Sie mit dem Burschen angestellt?“
„Ich wollte eine Röntgenaufnahme von ihm machen. Das heißt, ich habe sie gemacht. Ich fürchte fast, die Jovianer vertragen die Strahlung nicht. Jedenfalls ist er weggerannt und hat diesen Schrei fabriziert.“
„Sehr intelligent. Jetzt haben Sie die Bescherung. Wenn Sie Pech haben, kriegen wir ab dato keinen von ihnen mehr vor die Linse.“
„Wer konnte das ahnen“, verteidigte sich Addison. „Und vorher habe ich ihm noch eine Rede über unsere friedfertigen Absichten gehalten.“
„Wenn er die über sich hat ergehen lassen, wird sie ihm nicht geschadet haben. Wissen Sie genau, dass seine Flucht eine Reaktion auf die Röntgenstrahlen gewesen ist?“
„Es geschah alles im selben Augenblick. Also dürfen wir das schon mit Sicherheit annehmen.“
„Hm, immerhin etwas. Auf Schallwellen reagiert er, indem er tanzt oder sich doch irgendwie bewegt. Röntgenwellen dagegen sind ihm unsympathisch, vielleicht sogar schmerzhaft. Ein Freudengeheul kann es nicht gewesen sein, weil er ja weggelaufen ist. Andererseits sind Röntgenstrahlen auch nicht unmittelbar tödlich für Jovianer. Sonst müsste jetzt eine Leiche vor der Tür liegen.“
Dr. Addison spielte an der Einstellung des Videoskops. Dadurch gelang es ihm, den Blickwinkel zu ändern. Mehr aber auch nicht. Der Spalt, in dem der fliehende Jovianer verschwunden war, ließ sich vergrößern, dass man die Poren darin erkennen konnte. Doch nach wenigen Metern machte der Gang einen Knick und verschwand im Dunkel. Die Landschaft blieb tot. Nur der ständige Wind trieb Wolken heißen Sandes vor sich her. Das war die einzige Bewegung auf diesem Bild. Aber Leben?
Leben war es nicht.
Addison hatte wieder den Ärmel vor der Stirn, um den Schweiß abzuwischen. Es war nicht nur die Hitze, die ihn so fertigmache. Es waren die Zweifel, die jeder Hoffnung, jedem Optimismus und jeder Begeisterung folgten.
Er hatte den Faden zu dem Gespräch verloren, als ob es keinen Sinn hätte, auf Melroses Worte einzugehen. Trotzdem hatten sich ein paar Worte bei ihm festgefressen. Sie betrafen die Frage nach Leben.
„Sie reden auch in sehr willkürlichen Bildern, Leutnant.“
„Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.“
„Sie haben vorhin behauptet, Röntgenstrahlen wären nicht tödlich für die Jovianer. Der Tod aber setzt vorangegangenes Leben voraus. Glauben Sie, dass diese Dinger leben?“
„Fragen Sie mich bloß nicht so direkt, Doc! Ich weiß genau, dass das Ihr Steckenpferd ist mit dem Leben auf Jupiter. Und ich möchte es mit Ihnen nicht auf die Dauer verderben.“
„Schönen Dank! Sie sind wenigstens ehrlich. Es ist Ihnen völlig gleichgültig, was bei unserem ganzen Forschen herauskommt. Sie tun nur Ihre Pflicht. Sie fahren uns dahin, wohin wir müssen, und bringen uns auch eines Tages wieder nach Hause. Eventuell ...“
„Ich habe die feste Absicht, Doc. Trotzdem bin ich nicht so stumpfsinnig, wie Sie gerade behauptet haben. Meine Definitionen sind vielleicht, wissenschaftlich gesehen, manchmal schief oder sogar falsch. Aber, beim Weltall, interessant wäre es schon, zu wissen, ob diese Bewegungen hier Leben sind oder nur irgendeine Reaktion. Sie sollten noch einmal versuchen, den Jovianer wieder herzulocken. Und wenn es nur dazu reicht, dass wir ihn wieder tanzen lassen.“
„Tanzen!“, stöhnte Dr. Addison. „Das ist auch so ein verdammt oberflächliches Wort.“
„Wie wollen Sie es sonst nennen?“
„Ich weiß nicht, was diese Bewegung bedeutet. Wir müssten Vokabeln benutzen, die viel weniger Bestimmtes ausdrücken. Die nicht mehr sagen, als wir wirklich wissen.“
„Dann schweigen Sie lieber ganz, mein Lieber.“
Der Zynismus des Leutnants besaß ein Fünkchen Wahrheit. Das musste Addison schon zugeben. Mit Zynismus jedoch kam man nicht weiter.
„Ich habe gesprochen, und der blaue Klumpen hat sich bewegt“, überlegte er laut. „Er muss also für Schallwellen empfindlich sein.“
„Vielleicht hat er doch getanzt“, sagte Melrose vorsichtig und ohne jeden Spott. „Nennen Sie es doch einfach Tanzen, Doc, solange Sie nichts Besseres darüber wissen. Eine falsche Voraussetzung ist immerhin mehr als gar keine.“
„Das klingt fast wissenschaftlich, vorausgesetzt, Sie meinen es ernst.“
„Ich meine, dass wir noch einen halben Tag Zeit haben, und dass Sie etwas tun sollten. Reden Sie etwas Feierliches über den Außenlautsprecher. Sagen Sie den Jovianern, dass es uns leid tut, sie erschreckt zu haben, dass wir es nicht wieder tun wollen, und dass wir ihre Freunde sind. Und wenn Sie Ihrem Charme nicht mehr trauen, dann versuchen Sie zu singen.“
Das war wieder der alte Zynismus, dachte Addison. Aber trotzdem! Jetzt würde er es gerade tun!
Er schnappte das Mikrofon aus der Halterung und stellte den Sender ein. Dann sang er. Heiser und rau – zum Weglaufen. Seine Stimme überschlug sich ein paarmal und wechselte von einer Tonart in die andere. Addison war im höchsten Grade unmusikalisch.
„Hören Sie auf!“, wimmerte Melrose. „Damit vertreiben Sie höchstens noch Sanddünen von der Oberfläche.“
„Können Sie es besser?“
„Dazu verweigere ich die Aussage. Sonst gibt es hier noch einen Sängerwettstreit. Wir sind aber von höherer Warte verpflichtet, uns zu vertragen. Deshalb schlage ich vor, Sie lassen ein Tonband ablaufen. Ich habe hier schwarz ein paar Privatbänder in meinem Bestand. Schräger Queezly Toon, der neuste Schrei.“
„Um Himmels Willen! Da wäre konkrete Musik noch besser. Haben Sie nicht etwas Gefühlvolles?“
„Uralte klassische Romantik, natürlich. Zum Beispiel die Ouvertüre zum Rosenkavalier.“
„Rosenkavalier? Kenne ich nicht. Aber spielen Sie ihn!“
Leutnant Melrose griff über sich unter die niedrige Decke der Kabine. Dann hatte er ein halbes Dutzend 2-Zentimeter-Spulen in der Hand und suchte das Gewünschte heraus. Etwas später erklang Strauß aus dem Lautsprecher. Melrose war ein Musikfanatiker in jeder Hinsicht und genoss die bekannte Melodie. Addison war zu jung, um einen solch alten Komponisten zu erkennen, aber er fand es auch nicht schlecht. Beide lehnten sich zurück und lauschten. Geistesabwesend starrten sie unter die Decke ins Leere. Es wurde ein Ohrenschmaus. Alles Sichtbare um sich herum vergaßen sie. Wenigstens für drei oder vier Minuten.
Dann kam der Schrei des Leutnants.
„Die Jovis, Doc! Sehen Sie doch bloß hin!“
Auf dem Bildschirm wimmelte es plötzlich von blauen Kugelwesen. Sie quollen aus dem Felsspalt und wurden immer mehr. Sie wälzten sich heran, umzingelten das Schiff und drängten gegen seine Wand.
Melrose und Addison schoben sich ein paar Zentimeter aus ihren Sitzen hoch, als ob es unter ihren Hosen zu heiß geworden sei.
„Verrückt!“, stöhnte der Arzt. „Da haben Sie uns was Schönes eingebrockt. Klassische Romantiker!“
Melrose rutschte wieder zurück. In diesem kritischen Augenblick konnte er sich keine unbequeme Körperstellung leisten. Seine Finger tasteten nach den Feuerknöpfen der Bug-Kanonen.
„Davon lassen Sie jetzt die Hände!“, drohte Addison und fasste wütend nach dem Hals seines Vordermannes. „Wenn die uns jetzt in die Mangel nehmen wollen, dann tun sie es auch. Und sobald Sie einen Schuss abgeben, ist unser Leben überhaupt nichts mehr wert.“
Die drängenden Massen draußen sahen durchaus bedrohlich aus. Trotzdem wäre es der reine Wahnsinn gewesen, mit Gewalt etwas gegen sie zu unternehmen. Hier standen sich zum ersten Male zwei einander fremde Arten gegenüber, die nichts über den anderen wussten. Nur eins wusste Addison! Nämlich, dass die Vernunft bei dieser Begegnung dabei war. Wenigstens auf einer Seite. Auf die Vernunft würde es ankommen!
Das Tonband dudelte weiter. Die beiden Männer dachten in der Erregung an alles andere, nur nicht an die Orchestermusik.
„Sie drücken das Boot ein“, stöhnte Melrose.
„Sie lassen die Finger von den Waffen, Leutnant. Ich sitze hinter Ihnen und bin deshalb der Stärkere. Ich werde verhindern, dass Sie mein Totengräber werden.“
„Das Grab schaufeln Ihnen schon die anderen da draußen. Oder wahrscheinlich werden sie nicht einmal das tun. Vielleicht sind es Kannibalen und fressen uns.“
„Auf Jupiter gibt es kein Fleisch. Also auch keine Kannibalen.“
„Dann fressen sie Blech und Plastik. Himmel, Doc! Die Biester kriechen uns aufs Dach! Hören Sie nicht, wie es draußen schabt und kratzt?“
„Stellen Sie das Tonband ab!“, befahl der Arzt.
Melrose gehorchte. Die plötzliche Stille war schmerzhaft. Nur noch das Schaben und Kratzen an der Außenwand. Dann hörte auch das auf. Die drei Wesen auf dem Boot hatten sich fallen lassen und lagen auf dem harten Jupiter-Boden. Die Masse zog sich ein Stück zurück und bildete einen Kreis. In respektvoller Entfernung erstarrte die Bewegung wieder. Addison wurde an Pinguine erinnert. Genauso teilnahmslos wartete die Menge der blauen Wesen. Das feine Summen ihrer Nadelbüschel drang zu den Menschen ins Schiff. Sonst blieb es still.
Melrose atmete auf.
„Wenigstens eine Atempause“, grollte er. „Aber ich möchte wissen, wie das weitergehen soll.“
„Die Musik hat sie angelockt. Die Musik hat sie unter Umständen sogar verrückt gemacht“, behauptete Addison. „Ich werde wieder zu ihnen sprechen ...“
„Lieber wär’s mir, Sie machten noch ein paar Röntgenaufnahmen. Nur das gibt uns Luft.“
„Natürlich! Besser noch als alle Ihre Kanonen zusammengenommen. Aber das ist nicht meine Absicht. Seien Sie jetzt vernünftig, Leutnant. Ich werde zu ihnen sprechen. Wahrscheinlich überschätzen Sie unsere Gefahr. Falls es überhaupt eine gibt.“
„Okay! Erst gut zureden wie ein alter Vater und dann naiv daherreden! Auf dem Jupiter ist es immer gefährlich, Doc.“
„Schon gut! Streiten können wir uns zu Hause.“
Dr. Addison nahm das Mikrofon und hielt seine Rede. Er gebrauchte durchaus feierliche Worte und versprach sich sogar ein paarmal dabei. So aufgeregt war er. Doch auch das hatte seinen Sinn. Melrose wurde von seiner Angst und seinem Zorn abgelenkt und hatte Gelegenheit, über das verrückte Pathos seines Kameraden erhaben zu sein.
Addison sprach nicht länger als zwei Minuten von Freiheit, Vernunft und Rassenverbrüderung. Er sprach, nur um etwas zu sagen. Auch diese Taktik stieß auf eine Reaktion.
Die Jovianer begannen abzuwandern. Es war wie auf einem Fußballplatz zwei Minuten vor Spielende. Die hinteren Reihen lichteten sich zuerst. So, als ob ein paar Leute nicht ins allgemeine Gedränge kommen wollten. Dann setzte die Massenwanderung ein.
Es dauerte ziemlich lange. Alle mussten durch den engen Felsspalt. Es dauerte länger als der Anmarsch, ging aber recht diszipliniert vor sich.
„Ich habe es mir gleich gedacht“, war Melrose jetzt obenauf. „Ihr Text ist ihnen zu banal. Die erwarten etwas ganz anderes von einem guten Agitatoren.“
Addison war trotzdem zufrieden.
Denn nicht alle wanderten ab. Einer blieb. Ein einziger blauer, plumper Jovianer.
„Ob das der von vorhin ist?“, wollte Melrose wissen. „Man kann sie so schlecht unterscheiden.“
Man konnte sie überhaupt nicht unterscheiden.
„Vielleicht suchen sie doch Kontakt mit uns. Was schließen Sie aus den letzten Beobachtungen, Leutnant?“
„Ich sagte es schon. Ihre Rede hat sie gelangweilt.“
„Und was noch?“
„Mehr wüsste ich nicht.“
„Dann will ich es Ihnen sagen. Der Versuch hat drei Teile. Röntgenstrahlen sind bedrohlich, abschreckend oder wenigstens unangenehm für sie. Die menschliche Stimme erscheint ihnen langweilig. Lediglich, um nichts zu verpassen, stellen sie einen Beobachter bei unserem Lautsprecher auf, der ihnen eventuell später noch berichten kann. Bei klassischer Musik dagegen geraten sie in Ekstase. – Stimmt das so weit?“
„Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Nur halte ich es trotz allem immer noch für ein mageres Ergebnis.“
„Wissenschaftler haben mehr Geduld als Soldaten“, philosophierte der Arzt mit belehrendem Unterton.
„Irrtum!“, widersprach der Leutnant. „Man sagt: die halbe Zeit seines Lebens wartet der Soldat vergebens. Wenn das keine Geduld erfordert!“
„Okay! Um das zu beweisen, können Sie mir weiterhelfen. Nehmen wir an, der Bursche da draußen ist unser alter Freund. Wir werden ihm jetzt ...“
Melrose sollte nie mehr erfahren, welchen genialen Einfall Dr. Addison in diesem Augenblick hatte.
Hinter ihnen erklang das Alarmzeichen der Kallisto-Station, das sich durch einen automatischen Sendeimpuls selbst einschaltete. Melrose drückte sofort die Empfangstaste und meldete sich.
„Hier Professor Graham“, kam eine dünne, entfernte Stimme zu ihnen. „Kehren Sie sofort zur Zentrale zurück, Leutnant! Wir haben ...“
Hier brach die Verbindung ab.
Melrose rief noch ein paarmal zurück, bekam aber keinen Kontakt mehr mit der Kallisto-Station.
„Begreifen Sie das, Doc?“
„Es wäre nicht das erste Mal, dass atmosphärische Störungen eine Verständigung unmöglich machen. Was soll oben schon los sein? Sie haben den Befehl gehört. Starten Sie.“
Melrose hatte im Prinzip nichts dagegen. Der Jupitermond Kallisto, auf dem sie ihre Zentrale für die Jupiter-Forschung eingerichtet hatten, war ihm wesentlich sympathischer als der große Planet. Er machte sich sofort daran, die Maschine zum Start vorzubereiten. Bevor er aber abhob, hielt Addison ihn noch zurück.
„Moment, Leutnant! Dieser Jovi-Stamm ist mir interessanter als jeder andere, dem wir bisher begegnet sind. Ich möchte diesen Ort genau wiederfinden.“
„Die Koordinaten sind automatisch im Elektronenspeicher festgelegt.“
„Das genügt mir nicht. Ich will diesen Platz auf den Quadratmeter genau wiederfinden. Sie haben doch Sendebojen an Bord.“
„Okay! Aber kein vorbereitetes Programm. Graham hatte es sehr eilig, wenn ich richtig gehört habe. Ich kann nichts mehr zusammenstellen.“
„Wir haben eine ausreichende Phonothek an Bord. Legen Sie irgendein Sprechband ein, das sich laufend wiederholt. Aber bloß keine Musik, damit uns die begeisterte Menge nicht aus lauter Übermut die Anlage zertrümmert.“
„Well, schon klar, Doc ... Ein Sprechband. – Dieses hier kann ich entbehren. Wahrscheinlich wird jetzt wochenlang ein einsamer Jovianer davor hocken und herauszukriegen versuchen, welches Kuckucksei ihm die langbeinigen Terraner ins Nest gelegt haben.“
Melrose machte die Boje fertig und schleuste sie aus. Ihre Sendeenergie würde für Monate reichen. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie diesen Punkt exakt wiederfinden würden.
„Okay“, stöhnte Dr. Addison abgespannt und ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. „Starten Sie, Leutnant! Ich möchte wissen, was sich der Professor zu Hause wieder ausgedacht hat.“
Melrose grinste noch einmal zurück und wandte sich dann seinen Armaturen zu.
„Der junge Graham wird Langeweile haben. Er ist mehr ein Kasernenhof-Spieß als ein Professor. Sonderübungen zur Erhaltung der Arbeitsmoral hat er uns schon lange angekündigt.“
„Sie meinen, dass es nichts Schlimmeres ist?“
„Für einen Soldaten gibt es nichts Schlimmeres, als andauernd geschliffen zu werden.“