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Sexualverbrechen im Wirtshaus
ОглавлениеEine Strafkammer des Saarbrücker Landgerichtes hat am 20. September 2004 damit begonnen, mit den Mitteln des Rechts das Schicksal des fünfjährigen Pascal aus dem Stadtteil Burbach aufzuklären. Der Junge ist seit dem 30. September 2001 verschwunden.
Der Beginn des Verfahrens stand unter starkem Polizeischutz. Fünfzig Beamte sollten dafür sorgen, dass die Erregung über die mutmaßliche Bluttat nicht in Übergriffe gegen die Angeklagten ausartet. Die Staatsanwaltschaft sieht in Pascal das Opfer eines Mordes. Sie wirft den Angeklagten, neun Männern und vier Frauen, vor, entweder direkt an der Vergewaltigung und Ermordung von Pascal beteiligt gewesen zu sein oder aber sich der Beihilfe zu schwerem sexuellen Missbrauch und Kindesvergewaltigung schuldig gemacht zu haben. Der Verlesung der Anklageschrift durch Oberstaatsanwalt Josef Pattar folgten die teils als schwachsinnig geltenden Angeklagten meist ohne Zeichen der Erregung. Lediglich eine der Frauen weinte. Die meisten Angeklagten verweigern die Aussage. Nur zwei Beschuldigte kündigten an, sich zu den Vorwürfen zu äußern.
Der Prozess um den Tod des fünfjährigen Jungen sprengt mit seinem Vorwurf die Dimensionen gewöhnlicher Sexualverbrechen dieser Art. Wenn sich die vorgetragenen Beschuldigungen der Staatsanwaltschaft gegen die dreizehn Angeklagten bewahrheiten sollten, dann ist Pascal nicht - wie meist in ähnlichen Fällen - Opfer eines alleine handelnden und durch seine außergewöhnliche Triebstruktur zum Verbrecher gewordenen Täters geworden. Es war vielmehr ein bunter Haufen von Stammgästen einer in ihrem Erscheinungsbild als heruntergekommen wirkenden Kneipe im Saarbrücker Stadtteil Burbach gewesen, der sich - nicht zuletzt dank der mit Skrupellosigkeit und Geschäftssinn gleichermaßen ausgestatteten Wirtin Christa W. - zu einer Interessengemeinschaft mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung eines Jungen entwickelt hatte.
Pascal kam, so die Auffassung der Anklagevertretung, am 30. September 2001 entweder "während der schweren Misshandlungen" in einem Hinterzimmer der "Tosa- Klause" gewaltsam zu Tode, oder aber er ist "erst danach" umgebracht worden. Der Oberstaatsanwalt glaubt, dass Pascal möglicherweise deshalb sterben musste, weil er damit gedroht hatte, die Vorfälle seinem Vater zu berichten. Auch hätten sich die Verletzungen, die ihm beigebracht wurden, nicht verbergen lassen.
Die Mitglieder der "Tosa-Gemeinschaft", wie die Staatsanwaltschaft in Anspielung auf den Namen der Kneipe in der Hochstraße von Burbach die dreizehn auf der Anklagebank sitzenden Männer und Frauen nannte, waren wohl mit verteilten Rollen an den ihnen angelasteten Verbrechen beteiligt. Sechs von ihnen - zwei Frauen und vier Männer - sind des Mordes sowie des sexuellen Missbrauchs angeklagt. Sie sollen Pascal am 30. September 2001 in das Hinterzimmer der Gaststätte, die in einem kleinen freistehenden, einstöckigen Haus untergebracht war, gelockt haben. Anschließend sei Pascal der Reihe nach von ihnen vergewaltigt worden. Die Hauptangeklagte Christa W., so die Vorwürfe, habe für jeden Akt des Missbrauchs des kleinen Jungen zwanzig Mark verlangt und diese Summe auch gleich abkassiert. Christa W. habe darüber hinaus die Tortur des Jungen gefilmt beziehungsweise fotografiert.
Allerdings sind entsprechende Aufnahmen bis heute nicht aufgetaucht. Die anderen sieben Angeklagten hat die Staatsanwaltschaft der Beihilfe zu sexuellem Missbrauch und Kindesvergewaltigung beschuldigt, weil sie mit ihrem "Wachdienst" den Tathergang im Hinterzimmer der Klause erst ermöglicht hätten. Unter dieser Gruppe von Beschuldigten befinden sich auch zwei Frauen und ein Mann, die darüber hinaus die Tötung Pascals unterstützt haben sollen. Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklagevorwürfe unter anderem auf Aussagen, wonach die Musikbox der "Tosa-Klause" während der Misshandlungen lauter gestellt worden war, um die Schmerzensschreie des Opfers zu übertönen.
Im ersten Prozess um den Missbrauch an dem fünfjährigen Pascal war am 17. Oktober 2003 ein 49 Jahre alter Kinderschänder zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe mit sofortiger Einweisung in die Psychiatrie verurteilt worden. Im Landgericht Saarbrücken verurteilte ihn Richter Volker Allmers am Freitag wegen Vergewaltigung in vier Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch. Bei dem Urteil rechnete er dem geistig zurückgebliebenen und alkoholkranken Mann verminderte Schuldfähigkeit sowie sein Geständnis an. Zudem habe er „deutliche Scham und eine gewisse Reue gezeigt”, sagte Allmers.
In der Verhandlung hatte auch Oberstaatsanwalt Josef Pattar dem 49jährigen verminderte Schuldfähigkeit sowie sein Geständnis strafmildernd angerechnet. Das Urteil entspricht seinem Antrag, dem sich auch der Pflichtverteidiger angeschlossen hatte. Dabei sprach sich Pattar klar für die sofortige und lebenslange Einweisung des Mannes in die Psychiatrie aus. Gerichtspsychiater Prof. Michael Rösler hatte zuvor erläutert, der Angeklagte mit einem IQ von rund 60 sei geistig zurückgeblieben, alkoholkrank und pädophil veranlagt. Dies führe zu einer „erheblich verminderten Schuldfähigkeit”.
Die Eltern Pascals sowie des anderen missbrauchten Jungen traten in der Nebenklage auf. Die Anwältin der Familie des zweiten Opfers, eines Spielkameraden Pascals, zeigte sich vor Gericht erschüttert, dass in der Saarbrücker Tosa-Klause offenbar Sex mit Kindern zum gängigen Angebot zählte und „auf dem Bierdeckel” abgerechnet wurde.
Der Angeklagte nahm das Urteil mit gesenktem Kopf entgegen. Er hatte zugegeben, Pascal mehrfach und auch am 30. September 2001 - dem Tag seines Verschwindens - in der Bierklause vergewaltigt zu haben. Dabei habe das Kind geschrien und er ihm den Mund zugehalten. Für den Kindersex zahlte er der Kneipenwirtin damals nach eigener Aussage - wie in allen Fällen vorher - 20 Mark (rund 10 Euro). Auch einen anderen Jungen hatte er wiederholt missbraucht. Für den vermuteten Mord an Pascal galt der 49jährige nie als verdächtig.
Dem am 20. September 2004 mit der Verlesung der Anklageschrift eröffneten Hauptverfahren waren äußerst schwierige Ermittlungen vorausgegangen. Bis heute ist die Leiche von Pascal, der am Abend des 30. September 2001 von seinem Vater als vermisst gemeldet wurde, nicht gefunden worden. Eine Sonderkommission der saarländischen Polizei ging 450 Hinweisen und Spuren nach und vernahm mehr als tausend Personen. Erst zur Jahreswende 2002/03 ergaben sich im Zusammenhang mit einem anderen Kindesmissbrauchsverfahren, in dem es um einen Spielkameraden von Pascal ging, neue Hinweise.
Die jetzige Hauptangeklagte Christa W. und die Tosa-Gemeinschaft hatten offenbar Kontakte zu Pascals Vater unterhalten, der seinen Sohn wiederholt in die Kneipe mitgenommen hatte. Im Zuge der weiteren Ermittlungen und Verhaftungen verdichteten sich Vermutungen, wonach die Leiche Pascals am Abend des 30. September in einen Sack gepackt und mit einem kleinen Lieferwagen, der der Tosa-Wirtin gehörte, in eine Sandgrube im zu Frankreich gehörenden Schöneck gebracht und dort vergraben worden war. Eine mithilfe von Spürhunden der rheinland-pfälzischen Polizei unternommene aufwendige Suche auf dem sandigen Gelände der Grube blieb jedoch ohne Ergebnis.
Die nicht geständige Hauptangeklagte, die 51 Jahre alte Wirtin Christa W., hatte lange das besondere Vertrauen der saarländischen Justiz genossen. Die frühere Jugendschöffin beim Saarbrücker Amtsgericht war auch amtlich bestellte Betreuerin der mitangeklagten, geistig zurückgebliebenen Andrea M. und zudem Pflegemutter von deren Kind. Die beiden weiteren weiblichen Angeklagten sind eine Putzfrau sowie die Ehefrau eines der männlichen Angeklagten. Zu dieser Gruppe gehören Gelegenheitsarbeiter oder Arbeitslose, oft mit Alkoholproblemen. Die Angeklagten sitzen zum Teil seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft. Sie wurden, um Absprachen unter ihnen zu verhindern, bis zum Beginn des Hauptverfahrens auf Haftanstalten im Saarland, in Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen verteilt.
Im Mordfall Pascal hat die 40-jährige Andrea M. den Tod des Fünfjährigen geschildert und dabei vorherigen Aussagen teilweise widersprochen. Der Junge sei im Hinterzimmer der Gastwirtschaft "Tosa-Klause" am 30. September 2001 von einem Mitangeklagten vergewaltigt und dabei von ihr an den Schulterblättern heruntergedrückt worden, sagte Andrea M. am 04. Oktober 2004 vor dem Landgericht Saarbrücken.
Danach bewegte sich Pascal demnach nicht mehr. Die laut Gutachten als geistig zurückgeblieben eingestufte Frau bestritt aber, sein Gesicht bewusst in ein Kissen gedrückt zu haben. "Es war keine Absicht", beteuerte die 40-Jährige, verstrickte sich aber auch in Widersprüche.
"Pascal hat sich nicht mehr bewegt, gar nicht mehr". Er habe nicht mehr geatmet, erinnerte sich Andrea M. am Montag vor dem Landgericht Saarbrücken an den Tod des Fünfjährigen. Mit stockender Stimme schilderte die laut Gutachten geistig zurückgebliebene Frau, wie Pascal am 30. September 2001 im Hinterzimmer der Gastwirtschaft "Tosa-Klause" ums Leben gekommen sein soll. Sie selbst drückte ihn nach eigener Aussage nach unten, als er von einem Mitangeklagten vergewaltigt wurde. Erneut gab es Widersprüche in dem komplizierten Verfahren: Zahlreiche Aussagen der 40-Jährigen deckten sich nicht mit der Darstellung einer Angeklagten, die bereits vorher ausgesagt hatte.
Andrea M. kam nach eigener Aussage am 30. September gegen Mittag in die "Tosa- Klause". Irgendwann am Nachmittag, genau konnte sie sich nicht mehr erinnern, forderte Kneipenwirtin Christa W. sie auf, Pascal in das Hinterzimmer zu bringen. Der Kleine habe geweint und gestrampelt, als sie ihn auf den Arm genommen habe und ins "Kämmerchen" gebracht habe. Dort soll ihn zunächst der Angeklagte Dieter S. missbraucht haben, danach ein weiterer Beschuldigter. Ob sich noch jemand an dem Kind vergangen habe, wusste sie nicht am Montag mehr.
Zuletzt ging dann Martin R. nach ihrer Darstellung in das Hinterzimmer. Als Pascal angefangen habe zu schreien, habe Christa W. zu ihr gesagt, sie solle dafür sorgen, dass der Junge ruhig sei. "Das hört man auf der Straße." Auch Martin R. forderte sie dazu auf. Andrea M. drückte den Jungen nach eigenen Worten an den Schultern nach unten. Erst habe dabei der Kopf auf der Seite gelegen, so dass er Luft bekommen habe. Irgendwann habe der Junge dann mit dem Gesicht im Kissen gelegen.
Aber nachgeholfen habe sie nicht, beteuerte die 40-Jährige. Aber mit dem Kopf auf der Seite konnte Pascal doch weiter schreien, hielt ihr ein Richter bei der Vernehmung entgegen. Ob sie also nicht doch seinen Kopf in das Kissen gedrückt habe?
Nein, sie habe das nicht gewollt. "Es war keine Absicht", antwortete sie.
Andrea M., deren eigener Sohn auch von dem mutmaßlichen Kinderschänder-Ring missbraucht worden sein soll, ging nach eigener Aussage einige Zeit nach dem Tod des Jungen mit dem Mitangeklagten Dieter S. in das Hinterzimmer und legte die Leiche in einen blauen Müllsack. Andere Angeklagte waren nach ihrer Erinnerung nicht dabei. Die Mitangeklagte Erika K. hatte dagegen ausgesagt, sie selbst habe den Müllsack aufgehalten. "Das stimmt nicht", behauptete nun Andrea M., denn diese sei "überhaupt nicht in dem Kämmerchen" gewesen.
Andrea M. will den blauen Müllsack mit der Leiche des Jungen zunächst hinter die Theke gestellt haben, "beim Verkaufsfenster in die Niesche". Dann habe sie drei oder vier Kognak mit Cola getrunken und später den Sack in den Kastenwagen der Wirtin gebracht. Warum haben Sie das gemacht, wurde sie gefragt. Schweigen. Können Sie das nicht sagen, hakte der Richter nach. "Nee". Mit Christa W. und Dieter S., so ihre Aussage, fuhr sie dann zu einer Kiesgrube in Frankreich. Dort suchte die Polizei später wochenlang vergeblich nach der Leiche. Dieter S. habe dort mit einem Spaten ein knietiefes Loch gegraben, und sie habe die Leiche hineingelegt.
Andrea M. zeigte in ihrer Vernehmung Anzeichen von Schuldgefühl. So sagte sie auf die Nachfrage eines Richters, sie empfinde sich noch heute als Schuldige. Im Laufe ihrer Aussage verstrickte sie sich in zahlreiche Widersprüche. So musste sie auf Nachfragen mehrfach einräumen, in Vernehmungen bei der Polizei teilweise andere Aussagen gemacht zu haben. Sie widersprach zudem Aussagen der Mitangeklagten Erika K., die an vorherigen Verhandlungstagen den Tod des Jungen geschildert hatte.
Erika K. hatte nach eigener Aussage beobachtet, wie Pascal in dem Hinterzimmer von Martin R. missbraucht wurde und Andrea M. ihm dabei den Kopf in ein Kissen drückte. Die 51-Jährige gab ferner an, sie selbst habe den Müllsack aufgehalten, in den Pascal gelegt worden sei. Andrea M. behauptete dagegen, die Mitangeklagte sei gar nicht in dem Hinterzimmer gewesen.
Erstmals hat einer der 13 Angeklagten im Pascal-Prozess am 11. Oktober 2004 über regelmäßige Vergewaltigungen von Kindern in der „Tosa-Klause" ausgesagt. Der mehrfach vorbestrafte Siggi D. sagte vor dem Saarbrückener Landgericht, er habe mitbekommen, wie etwa zwei Mal in der Woche ein Spielkamerad von Pascal im Hinterzimmer der Kneipe vermutlich vergewaltigt worden sei. Er habe Stöhnen gehört und gesehen, wie Gäste der Wirtin Christa W. Geld gegeben hätten.
„Ich bin davon ausgegangen, dass es Kindesmissbrauch war", sagte Siggi D. Als Täter benannte er die Mitangeklagten Martin R., Jupp W. und Dieter S., sowie den bereits zuvor wegen Missbrauchs verurteilten Peter S. Diese Männer habe er in das Hinterzimmer gehen sehen, in das auch die Kinder gebracht worden seien.
Er selbst habe aber nicht an den Vergewaltigungen teilgenommen, sagte der 43jährige, der anfangs von nur wenigen Vorfällen gesprochen, sich aber immer wieder in Widersprüche verwickelt hatte. Er habe Christa W. vorgehalten, „dass das eine Schweinerei wäre“. Die Kneipenchefin habe ihm jedoch befohlen zu schweigen, „sonst würde was passieren". Dies habe ihn derartig eingeschüchtert, dass er immer wieder in die „Tosa-Klause" gegangen sei.
Dem Gelegenheitsarbeiter und früheren Alkoholiker Siggi D. wird Beihilfe zum sexuellen Missbrauch vorgeworfen. Laut Anklage soll außerdem er es gewesen sein, der den fünfjährigen Pascal am 30. September 2001 in das Lokal gelockt habe. Nach den Aussagen der Angeklagten Erika K. und Andrea M. wurde Pascal anschließend dort vergewaltigt und getötet.
Pascals Mutter Sonja T. sagte, sie habe von sexuellen Misshandlungen ihres Sohnes nichts bemerkt. Sie habe den Fünfjährigen regelmäßig beim Duschen nackt gesehen und ihm beim Waschen geholfen, aber dabei keine Auffälligkeiten entdeckt, sagte die 45-Jährige vor dem Landgericht. "Pascal hätte mir gesagt, wenn er negative Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht hätte", sagte die Frau, die als Küchenhilfe arbeitet.
Allerdings habe der Junge bis zu seinem Verschwinden vor drei Jahren nachts eingenässt. Sie bestätigte die vorherige Aussagen ihres Lebensgefährten Heinz K., wonach Pascal am 30. September 2001 spurlos verschwand.
Mehrere Suchaktionen nach der Leiche von Pascal, die in einer Kiesgrube im deutsch-französischen Grenzgebiet in Schoeneck bei Saarbrücken verscharrt worden sein soll, waren allerdings trotz Einsatzes von Spürhunden und Bodenradar ergebnislos verlaufen.
Im Saarbrücker Fall Pascal gerät die Anklage zunehmend in Not. Sind die Geständnisse der zum Teil geistig behinderten Angeklagten falsch? Schlüsselfigur ist ein neunjähriger Junge.
Das alles soll eine Lüge sein? Nur erfunden? Sarah, 17, ist Zeugin im Mordfall Pascal, der vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken verhandelt wird. Auf die Frage nach ihrem Beruf gibt sie "Hauswirtschaft" an. Hausfrau? Sie wagt kaum den Mund aufzumachen.
Als der fünfjährige Pascal am Spätnachmittag des 30. September 2001 in Saarbrücken verschwand, war Sarah mit den Stiefschwestern des Jungen auf einer Kirmes im Stadtteil Burbach. Einige Leute meinten sich später zu erinnern, dass sich dort auch Pascal aufgehalten habe.
Im Zuge der Ermittlungen, wer den Fünfjährigen zuletzt gesehen hat - er war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hätte gegen 18.30 Uhr zu Hause sein sollen -, wurden im Oktober 2001 unter anderen auch die Stiefschwestern und die damals 14jährige Sarah vernommen. Sie habe Pascal auf der Kirmes nicht bemerkt, sagt Sarah zu den Vernehmungsbeamten, sie kenne ihn ja gar nicht. Man glaubt ihr nicht.
Die Beamten schlagen eine andere Tonart an. Ob Sarah Angst habe. Man sehe ihr es doch an. Sie wird unsicher. Man redet ihr ins Gewissen. Man bohrt weiter. Sie bricht in Tränen aus. Wieso Tränen? Sie brauche bloß die Wahrheit zu sagen.
Sarahs Vater wird geholt, sie darf mit ihm unter vier Augen sprechen. Der Mann versichert der Polizei danach, seine Tochter habe Pascal wirklich nicht gesehen. Man glaubt es nicht. Der Druck wird stärker. Sarah wird gefragt, ob die Stiefschwestern etwas mit dem Jungen gemacht hätten. Sarah beteuert: Nein! Es geht trotzdem weiter: Ob die Schwestern ihr erzählt hätten, was sie mit Pascal gemacht haben? Ob sie, Sarah, Angst vor der Polizei habe? Ob sie ein schlechtes Gewissen plage? Die Beamten holen zum Beweis einen Klassenkameraden herbei, der Pascal gesehen haben will. Also los, was ist jetzt! Irgendwann beschreibt sie stockend, wo der Junge auf der Kirmes stand. Der Druck wird jetzt noch massiver. Warum sie dies verschwiegen habe? Ob sie etwas mit dem Verschwinden des Kindes zu tun habe? Ob sie erpresst werde? Warum sie erpresst werde? Was man ihr angedroht habe?
Sarah windet sich. Und dann kommt es: Die Schwestern hätten ihr erzählt, dass sie dem Kleinen eine Eisenstange auf den Kopf gehauen hätten. Die Beamten wollen mehr wissen. Sarah gibt schließlich zu, dabei gewesen zu sein, als Pascal im Wald an der Saar mit der Eisenstange erschlagen wurde. Dass es zwei Schläge auf den Hinterkopf waren. Dass der Junge zwei Minuten lang schrie. Dass es schon dunkel war. Dass sie alles beobachtet habe.
Als Zeugin vor der Saarbrücker Schwurgerichtskammer wird Sarah wieder gefragt, ob Pascal mit seinen Schwestern auf der Kirmes war. "Nein." Ob sie ihn dort gesehen habe? "Nein." Sie druckst herum. Der Vorsitzende Ulrich Chudoba bringt aus ihr schließlich mit Mühe den Satz heraus: "Es war alles gelogen, was ich gesagt hab."
Einer der Verteidiger, der Saarbrücker Rechtsanwalt Walter Teusch, fragt nach dem Grund. Er will wissen, warum ein junges Mädchen sich eine Lügengeschichte ausdenkt, die seine Freundinnen in so schlimmen Verdacht brachte? Die ältere der Schwestern wurde damals immerhin inhaftiert.
"Gab es Streit?", fragt Teusch die junge Frau. "Haben Sie Hass empfunden?"
"Nein."
"Wieso erfinden Sie dann etwas so Schreckliches? War es die Angst, selbst eingesperrt zu werden?"
"Ja."
Sarah hat den Druck nicht ausgehalten und in ihrer Bedrängnis mit einer haarsträubenden, frei erfundenen Geschichte den Verdacht von sich auf andere umgelenkt.
Die beiden Schwestern haben sich gegen die Falschbeschuldigung nicht zu wehren gewagt. Ein bizarrer Einzelfall?
Dass vor der Polizei und vor Gericht gelogen wird, ist eine Binsenweisheit, sonst müssten Zeugen nicht ausdrücklich auf ihre Wahrheitspflicht hingewiesen werden.
Nur Beschuldigten und Angeklagten droht nicht auch noch eine Strafe wegen Falschaussage, wenn sie nicht bei der Wahrheit bleiben. Dass labile Personen rüden Vernehmungsmethoden nicht standhalten und Taten gestehen, die sie gar nicht begangen haben, dass sie nachplappern, was man in sie hineinfragt, in der Hoffnung, nun in Ruhe gelassen zu werden oder nach Hause gehen zu dürfen oder auch, um sich wichtig zu machen - es ist trauriger Alltag des Polizeigeschäfts und kein Grund zur Empörung. Denn auch die Polizei steht in spektakulären Fällen unter Druck.
Sage keiner: Man gesteht doch keinen Mord, wenn man keinen umgebracht hat. Es gab und gibt immer wieder Geständnisse, die jeder Grundlage entbehren. Es büßten und büßen Unschuldige jahrelang im Gefängnis, weil sie Taten gestehen, die sie nicht begangen haben.
Ein Zeuge sagt in Saarbrücken auf Frage des Vorsitzenden: "In einem so langen Verhör sagt man viel! Die haben mich einen 'Kinderficker' genannt! Du warst das, du warst das!, hieß es immer wieder. Die haben mir genau geschildert, was ich getan haben soll! Und dass ich ein ganz Gefährlicher bin! Ich war am Boden zerstört! Das bisschen Selbstbewusstsein, das ich in meinem Leben aufgebaut hatte, haben die systematisch kaputtgemacht. Ich habe nur noch geheult."
In Saarbrücken sind 13 Personen unter anderem angeklagt, den kleinen Pascal ermordet und/oder schwer missbraucht und/ oder Beihilfe dazu geleistet zu haben. Es gibt keine Leiche, keine Spuren, mit denen bewiesen werden könnte, dass der Junge damals in der Burbacher Tosa-Klause nach brutalem Missbrauch durch mehrere Männer zu Tode kam und auf dem Gelände einer Kiesgrube im französischen Forbach vergraben wurde, wie die Anklage behauptet.
Es steht nur fest, dass der Junge verschwunden ist. Ist er tot? Niemand weiß es. Oder lebt er womöglich? Und wenn ja, wo? Es gibt nichts als einen Brei widersprüchlicher und sich im Lauf der Zeit auffällig annähernder Aussagen von drei zum Teil geistig behinderten Angeklagten - die anderen bestreiten konsequent.
Diese Personen nähren die bösesten Vorurteile. Zwei Frauen sind unter den "Geständigen" - jede für sich das personifizierte Elend. Getretene, Geschlagene, Benutzte, die wie Abschaum an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.
Andrea Meier oder Müller oder Moser, es ist egal, wie sie heißt, im Säufermilieu von Burbach ist sie "'s Andrea", das Andrea, das Mensch. "Dem Andrea seine Kinder", das sind fünf trostlose Schicksale, ungewollte Existenzen, herumgeschubst, misshandelt, vergessen. Von keinem ist der Vater bekannt. Vier Kinder wurden zur Adoption gegeben, da Andrea weder für sich noch für andere sorgen kann. Nur das fünfte, einen Jungen namens Kevin (Name geändert), behielt sie. Er ist jetzt neun und lebt inzwischen schon in der dritten Pflegefamilie.
Schwangerschaften fing sich Andrea ein wie andere einen Schnupfen. Sie ging mit jedem ins Bett oder hinter einen Busch oder auf die nächste Toilette. "'Andrea vögelt halt gern", sagt einer der Zeugen ungeniert vor Gericht, bei der musste man nicht bezahlen. Eine andere Art von Zuwendung oder Aufmerksamkeit hat sie in ihrem Leben wohl nicht erfahren.
40 Jahre ist sie alt und sieht aus wie 60. Oft grimassiert sie, setzt ein wichtiges Gesicht auf, dann wieder lacht sie unvermittelt. Sie pendelt zwischen der Realität und dem, was sie sich gerade vorstellt. Dass sie nicht unterscheiden kann, was wirklich und was angeblich passiert ist, was sie erlebt hat und was sie vom Hörensagen weiß - es ist offenkundig und sogar verständlich. Anders ist dieses Leben nicht zu ertragen.
Seit 20 Jahren befindet sie sich unter Pflegschaft. In dieser Zeit war sie 27-mal woanders zu Hause, in Pflegefamilien, in Wohnheimen, dann in Kliniken, in Behindertenwerkstätten, in Psychiatrien, zeitweise war sie ohne festen Wohnsitz, bis sie schließlich in der Burbacher Tosa-Klause landete, wohin sie einer ihrer Freier, der Bruder der Wirtin, gebracht hatte.
Dort bekommt sie zu essen, eine Unterkunft, die Wirtin übernimmt die Pflegschaft für sie und den kleinen Kevin. Andrea darf sich in der Kneipe nützlich machen. Sie hat in der Wirtin erstmals eine Bezugsperson und durch die Stammgäste einen festen Kreis von Menschen um sich, die zwar wie sie aus der Gosse kommen, Alkohol- und Drogenkranke, Arbeits- und Berufslose - doch besser als "auf der Stroß'" ist es allemal.
Man hat Andrea 16-mal vernommen, sie muss die Ermittler zur Verzweiflung gebracht haben. Ihre widersprüchlichen Aussagen sind auf 1600 Blatt notiert. Und vor Gericht klingt wieder alles anders.
Man kennt großenteils nur die Vornamen voneinander: der Luddi, der Jupp, der Kurti, der gern Frauenkleider anzieht, der Siggi, der Peter, der all sein Geld ins Puff trägt, und so fort. Die Putzfrau Erika kommt oft zum Trinken, auch die Tanja, 's Gabi und wie sie alle heißen. "Warum haben Sie den Jupp so belastet, wenn Sie es nun ganz anders erzählen?", wird Andrea gefragt.
"Keine Ahnung."
"Aber einen Grund muss es doch geben?"
"Nee."
Was soll ein Gericht damit anfangen? Ein ums andere Mal stöhnt der Vorsitzende: "Ich geb's auf. Die Fragen kann ich mir sparen." Die Staatsanwaltschaft aber bläht diese armseligen Angeklagten, von denen sich die bürgerlichen und intellektuellen Kreise angeekelt abwenden, zur "Tosa-Gemeinschaft" auf, einer Zweck- und Interessengemeinschaft zur Ermöglichung von sexuellem Kindesmissbrauch.