Читать книгу Der unheimliche "Erste Diener des Staates" - Walter Brendel - Страница 4
Einleitung
ОглавлениеMan schreibt das Jahr 1786. Ein erwachender Maitag bereitet seinen rötlichen Schimmer über die langgestreckte Terrassenfront des Schlösschens Sans Souci. Durch eine der großen Fenstertüren der Fassade, die geöffnet ist, fällt das Morgenlicht in ein Zimmer hinein, an dessen Rückwand in einem Lehnstuhl zusammengesunken ein Greis sitzt. Sein Gesicht ist umrahmt von einem alten, verdrückten, dreikantigen Filzhut Geradezu auffällig sticht die scharfe, spitze, leicht gebogene Nase aus dem kleinen Gesicht heraus. Wer ist der kranke Mann im schäbigen blauen Uniformrock ist? Unverkennbar, es ist der bewunderte und gefürchtete Preußenkönig, den man schon seit vierzig Jahren den „Großen" nennt.
Gerade hat die zierliche Standuhr, die mit dem Bild des römischen Kaisers Titus geschmückt und die dem Titus zugeschriebene mahnende Inschrift: „Diem perdidi" trägt, auf dem Kaminsims fünf helle silberne Schläge getan.
Auch heute will der Greis im Lehnstuhl nicht, „den Tag zu verlieren". Indem er den Menschen etwas Gutes stiftet? Aber wer weiß denn, was gut oder nicht gut ist für das Pack, für das man arbeitet! Trotzdem - gearbeitet muss werden! So hat er es am Vorabend befohlen und ist schon vor fünf Uhr aufgestanden.
Aus dem Bett stand er schon länger nicht mehr auf. Nein. Vom Kanapee, wo er neuerdings wegen Atemnot die Nächte verbringen muss. Vom Kanapee nebenan hat er sich von zwei Kammerhusaren in den Lehnstuhl setzen lassen. Nun steht nur noch der wichtigste der Kammerhusaren, Schöning, der langjährige Hausgenosse und Kämmerer des Königs, wartend an der Seite des Lehnstuhls. Er kennt seinen launischen Herrn sehr genau. Während wie jetzt ein trockener Husten den schmächtigen Körper des Königs schüttelt, muss ein Kammerdiener warten können, als ob er nichts bemerkte. Eine unerschütterliche Geduld und eine ebenso unerschütterliche respektvolle Sorgsamkeit haben es Schöning eingebracht, dass er zu den wenigen in der Umgebung des Königs gehört, die von Seiner Majestät nie mit einem bösen Wort oder mit verächtlichen Gesten oder gar mit Schlägen bedacht werden.
Er weiß natürlich auch, was dem König jetzt in der kühlen Morgenstunde nottut: Starker Kaffee, Kaffee, der mit Senfkörnern gekocht und dem nach dem Aufbrühen ein kräftiger Schuss Genever zugesetzt worden ist. Die Senfkörner sind ein ausdrücklicher Befehl des Königs, obwohl Schöning genau wie der Leibkoch Noel die Achseln darüber zuckt. Wiederholt hat ja der König erklärt, sein Schlaganfall vom Vorjahre habe ihn nur deshalb getroffen, weil während der Manöver in Schlesien ein dummer Teufel von Koch dem Kaffee keine Senfkörner beigefügt habe, aber ebenso oft hat Schöning sein Lächeln verborgen. Es gehört zu seinen Eigenschaften, nur innerlich und wehmütig zu lächeln, und weiß genau dass ein Vierundsiebzigjähriger, der zu Pferde stundenlang bei der Truppenschau ohne Mantel dem Unwetter getrotzt hat auch nach dem Genuss von Kaffee, der reichlich mit Senfkörnern gekocht gewesen wäre, einen Schlaganfall riskiert hätte. Aber ein König hat natürlich das Recht, sich selbst so falsch zu behandeln, wie es ihm beliebt. Gehören seine Marotten vielleicht doch irgendwie zu seiner Größe?
Schöning selbst ist von der guten Wirkung des Wacholderbranntweins im Kaffee überzeugt und hat ja dem König diese recht angenehme Medizin empfohlen, als Seine Majestät mit Champagner versetzten Kaffee nicht mehr mochte. Jetzt scheint der Hustenanfall des Königs vorbei zu sein. Schöning blickt zur Ausgangstür, worauf sofort ein zweiter Kammerdiener näher kommt: Der alte Neumann, der in aufmerksamer Haltung, ein Tablett mit drei kleinen Tassen Kaffee in der Hand, wartend zwischen Tür und Angel gestanden hat. Schöning nimmt ihm eine Tasse ab und hält sie dem König ehrerbietig vor die kurzsichtigen, heute sehr matten Augen.
Dessen Gesicht belebt sich, als der wohlbekannte Duft des doppelt gewürzten Kaffees ihm angenehm in die Nase steigt. Er fasst mit beiden Händen gierig nach der Tasse, lässt aber die linke Hand gleich wieder sinken - nicht, weil sich die Tasse zu heiß anfühlt, nein, weil ihn in dieser Hand ein Gichtschmerz heftig durchzuckt hat. Schöning, der darauf vorbereitet war, hat seinerseits die Tasse nicht losgelassen und so kann jetzt der König hastig das heiße Getränk schlürfen, indem er mit seiner Rechten die Tasse in die richtige Lage zu den dünnen Lippen dirigiert. Nun lässt es sich freilich dabei nicht vermeiden, dass aus dem zahnlosen Munde des Greises ein Bächlein Kaffee über das spitze Kinn auf die gelbe Weste fließt, die der König unter dem blauen, offenstehenden Uniformrock trägt. Doch das stört weder den König noch den Kammerhusar. Erst gestern hat Seine Majestät bei der gleichen Prozedur, da das Bächlein sogar stärker als heute rieselte, mit spöttisch guter Laune, aber grimmigen Tonfalls gerufen: „Ah, ce fripon de cafe! Will sich mit den infamen Tabaksflecken auf meiner Weste melieren!" - wobei das Grimmige des Tones sich wohl dadurch erklären ließ, dass der König schon seit Wochen auf den früher so sehr geliebten spanischen Tabak verzichten muss.
So wie immer nimmt Schöning gute, schlechte oder unbestimmte Laune seines Königs mit unverändert ruhiger Würde hin. Die Wertschätzung von Seiten des Königs basiert vor allem darauf, dass ihm niemals weder eine Andeutung von Kritik, noch ein Zeichen von beifälliger Zustimmung anzumerken ist.
Die bis dato halbgeschlossenen Augen des Königs haben sich nach dem Genuss des dritten Tässchens Kaffee groß und weit geöffnet und nehmen sogar ein wenig von dem früheren Glanz an. Nun erst scheint ihm die sanfte Helligkeit des jungen Morgens bewusst zu werden: „Tiens! Werden später draußen sitzen können!"
Zunächst aber kommt wieder die Quälerei. Langsam lässt sich der König sein linkes Bein bis über die Knie in einen alten hohen Reiterstiefel hineinquälen, während das rechte Bein ausgestreckt auf einem Taburett liegenbleibt. Es ist dick mit Linnen umwickelt und scheint schon bei der leisesten Berührung zu schmerzen, wie jetzt, als ihm der alte Soldatenmantel darüber zurechtgerückt wird, damit von der weißen Umwickelung nichts mehr zu sehen ist. Das andere Bein im großen Reiterstiefel steht nun martialisch fest, fast drohend, auf dem Parkett - in seltsamem Missverhältnis zu der kleinen, im Lehnstuhl hockenden Gestalt. So aber ist der König bereit, sich fremden Augen zur Schau zu stellen. Die Augen seiner Kammerhusaren sind schon längst keine Fremden mehr. „Eh bien! Die Stilisten! Die Kujone!"
Schöning wundert sich längst nicht mehr über die kratzbürstige Bezeichnung des Königs für die Herren Kabinettssekretäre, diese bürgerlichen „Subjekte", die Regierungsanordnungen des Königs mündlich zu empfangen, schriftlich zu fixieren und nach erfolgter Namensunterschrift durch den König streng vertraulich an die entsprechenden Dienststellen weiterzuleiten haben. Er gibt den Befehl stumm, nur mit einem Blick, an den Kammerhusaren Neumann weiter, und von dem wird dieser Befehl dann nebst einer devoten Verbeugung ins Vorzimmer weitergereicht.
Alsbald erscheint ein Kabinettssekretär im Zimmer, einer von dem vieren, die seit einer halben Stunde im Vorzimmer warten. Schöning lässt den Sekretär bis auf drei Schritt an den Lehnstuhl des Königs herantreten und nimmt dann selber an Stelle des alten Neumann den Wachtposten an der Tür zum Vorzimmer ein. Die tägliche Zeremonie beginnt.
Oft genug haben die Kabinettssekretäre einer Musterung durch das königliche Auge standhalten müssen, kaum je so lange wie heute. Es kostet ihnen unsägliche Mühe, starr, ohne mit einer Wimper zu zucken, auszuharren. Gebe Gott, dass der König die Erlaubnis zu sprechen nur aus Altersschwäche und Vergesslichkeit hinauszögert! Endlich erfolgt - erlösend für den jeweiligen Vortragenden - die kleine Bewegung der königlichen Hand.
Nach Regel und Vorschrift muss nun vor aller eigentlichen Arbeit die Speisenfolge für die heutige königliche Mahlzeit verlesen werden. Der Leibkoch Noel hat sie aufgestellt. Die Aufmerksamkeit des Königs wird dabei sehr scharf, er gedenkt nicht, sich einen der letzten Genüsse, die er noch kennt, verkümmern zu lassen. Sehr reichlich, sehr absonderlich und vor allem sehr stark gewürzt soll jede Mahlzeit sein. Aber der Leibkoch ist ja vertraut mit dem Geschmack seines königlichen Herrn. Es kommt sehr selten vor, dass der König eine Änderung des Küchenzettels befiehlt. Nur fünf Gänge sind es, die dem König heute angeboten werden, aber leider bewältigt der königliche Magen in letzter Zeit schon diese fünf nur noch mit Mühe. Nachdem der König die Speisenfolge durch ein kleines Kopfnicken gebilligt hat, kann der Sekretär mit seinem geschäftlichen Bericht beginnen.
Immer wieder schlägt der König mit seiner gesunden rechten Hand wütend auf die Armlehne seines Sessels und unterbricht den Vortragenden. Nichts kann sich mit seinen Vorstellungen decken.
Als er Letzte der Kabinettssekretäre stumm verabschiedet worden ist, ergeht an Schöning die Weisung: „Schluss für heute! Die anderen morgen!" Inzwischen sind in Sans Souci die beiden Generaladjutanten und zwei Minister erschienen, wie sie der König vormittags - immer nur einen auf einmal, versteht sich - zu empfangen pflegt. Die Generaladjutanten wohnen in Potsdam, aber die Minister haben den weiten Weg von Berlin nach Sans Souci machen müssen, vergeblich: Seine Majestät verspürt keine Neigung mehr, irgendwen zu empfangen.
Nein, er wird draußen auf der Terrasse in der Sonne sitzen und sich mit sich selbst unterhalten. Freilich wäre es reizvoller, in einer auserwählten Tafelrunde witzige Gespräche zu führen, aber sein Befinden ist zurzeit nicht so, dass er während einer fünf- bis sechsstündigen Tafelei vor unangenehmen körperlichen Zwischenfällen sicher sein kann. Deshalb muss er seine umfängliche Hauptmahlzeit leider allein einnehmen. Allein? Natürlich nicht, immer in Gegenwart von zwei Kammerhusaren. Hilfe muss immer sofort zur Stelle sein, wenn es sich nötig macht, mit Widerlichem und Allzu-Menschlichem fertig zu werden. Aber Kammerhusaren sind ja nicht indiskrete Zuschauer und schadenfrohe Beobachter, sondern kritiklose Handlanger und Helfer. Sie haben gelernt, unangebrachte Gefühlsregungen sehr schnell bis zur Unspürbarkeit zu unterdrücken. Ach, Kammerhusaren sind überhaupt die besten Ärzte! Die erlauben sich nicht wie der Monsieur Doktor Selle, ihrem König alberne Vorschriften darüber zu machen, was er essen darf und was nicht. ,Ein süffisanter Wichtikus, dieser Doktor Selle! Hätte ihn schon längst wieder zum Teufel schicken sollen! Dreist und gottes-fürchtig ist der Bursche wie die meisten Meiner lieben Berliner. Eine mechante Mischung! Wirkt bei einem Leibmedicus widerwärtig, insolent...'
In Berlin gibt es keine Zweifel, dass Dr. Christian Gottlieb Selle, Arzt an der Charité, trotz seiner Jugend - achtunddreißig Jahre - ein so guter Arzt ist, wie man einen zweiten in Deutschland höchstens in dortigen Leibmedicus Dr. Zimmermann - finden könnte.
Deshalb betreut Dr. Selle ärztlich nicht nur den König - diesen freilich vergebens -, sondern mit gutem Erfolg, weil sie seine Vorschriften befolgen, fast sämtliche Mitglieder des Königshauses, auch den Thronfolger, den „Prinzen von Preußen", und den Prinzen Heinrich, den Bruder des Königs.
An diesem Vormittag fährt Dr. Selle in seiner bescheidenen Kalesche nach dem Schlösschen Niederschönhausen bei dem Dorf Pankow, wo die Gemahlin Friedrichs von Preußen seit sechsundvierzig Jahren, seit der Thronbesteigung des Königs, einsam ihre Tage zu verbringen hat.