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Wie es begann oder Wie vor 310 Jahren ein Kurfürst zum König wurde
ОглавлениеVor über Einhundertzehn Jahren, am 9. Januar 1901, schrieb Franz Mehring für „Die Neue Zeit“ einen Artikel mit dem Titel: „Der Ursprung des preußischen Königtums“ Darin hieß es: „Seitdem der 200. Geburtstag der preußischen Königskrone in Sicht ist, hat sich ein Haufe loyaler Archivare und Professoren abgemüht, das Bild des ersten Hohenzollernkönigs möglichst schön zu färben, was eine schwierige oder vielmehr eine unlösbare Aufgabe ist. Es ist unmöglich, den Berg der Verachtung fortzuwälzen, unter dem Friedrich I. bereits zu seinen Lebzeiten begraben war. Niemand hat dieser Verachtung einen kräftigeren Ausdruck gegeben als sein Enkel, der sogenannte große Friedrich. Dessen Verachtung allein genügt schon als Beweis dafür, dass nicht einmal Gründe der preußischen Staatsraison bei der Erwerbung der Königskrone mitgesprochen haben ... Allein aller Aufwand byzantinischer Geschichtsklitterei hilft nicht über die Tatsache hinweg, dass die preußische Königskrone geschaffen worden ist, um den französischen Despoten Ludwig nachzuäffen, um in der königlichen Dignität einen Vorwand zu haben, die schon von dem sogenannten großen Kurfürsten ausgemergelte Bevölkerung von einer bis zwei Millionen armen Menschen bis auf das letzte Blut in ihren Adern und das letzte Mark in ihren Knochen auszusaugen ... Alle brandenburgischen Minister und Räte waren gegen die Annahme der Königswürde, weil sie der Staatsraison nicht nur nicht entsprach, sondern selbst direkt widersprach.“
Für Mehring war der preußische Staat ein „Element der nationalen Dekomposition“, eine „feudale Ruine“, ein „mittelalterlicher Ständestaat“, eingeschachtelt in die drei Geburtstände „des allmächtigen Adels, der unmündigen Städte und der unfreien Bauern“.
Nach der Behauptung der bürgerlichen Geschichtsschreibung soll nun aber doch „ein Staat und ein deutsches Fürstentum“ den rettenden Weg aus der nationalen Misere gezeigt haben, nämlich „der preußische Staat und das hohenzollernsche Fürstenhaus“. Für diese These wurden von den preußischen Hofhistorikern zwei Legenden gebastelt, so Mehring, von denen „die ältere die nationale und die jüngere die soziale Mission der Hohenzollern in blendendes Licht stellt. ... Tatsächlich ist die eine so erfunden wie die andere.“ Doch das hindert die heutigen Preußenschwärmer nicht daran, solche Legenden, ergänzt durch die Lobpreisungen der immer wieder herbeigezauberten „preußischen Tugenden“, lauthals zu bejubeln.
Franz Mehring, ein unermüdlicher Analytiker preußisch- deutscher Zustände, stellte auch fest, dass es in der Geschichte kaum eine Klasse gibt, „die so lange Zeit so arm an Geist und Kraft und so überschwänglich reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die deutschen Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts. Schamlos entartet, wälzten sie sich in allen Lastern und Sünden.“ Vertrags- und Bündnismöglichkeiten missbrauchten sie dazu, „Fleisch und Blut ihrer Untertanen an ausländische Despoten als Futter für Pulver zu verkaufen, um die Mittel für ihren prahlerischen Luxus zu gewinnen ...“ Der preußische Staat, so schlussfolgert er weiter, ist „groß geworden durch permanenten Verrat an Kaiser und Reich, durch anhaltende Verletzung von Völkerrecht und Menschenwürde, dadurch, dass sich die preußische Monarchie auf ein rein militärisches, orientalisches und despotisches Regierungssystem gegründet hatte. Der erste König dieses Systems war Friedrich I. (als Kurfürst: Friedrich III.), dessen Selbstkrönung in Königsberg zum Anlass genommen wurde, ein „Preußenjahr 2001“ auszurufen und dieses wie ein „Volksfest“ zu feiern.
Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, meinte damals: „Wenn ich alles habe, was zu der königlichen Würde gehört, auch noch mehr als andere Könige, warum soll ich dann auch nicht trachten, den Namen eines Königs zu erlangen“. In Dänemark, Schweden und Sachsen hatten sich längst gekrönte Häupter etabliert. So gab es für ihn Nachholbedarf. Er wusste wohl, dass das teuer würde und er Verbündete und Fürsprecher brauchte, die nicht umsonst zu haben waren. Die besten Vermittler saßen in Wien, am Hofe des Kaisers. Es waren der Jesuit Vota (Beichtvater des Kaisers Leopold I.) und der polnische Graf Zulinski (Bischof von Emsland). Auf deren Betreiben billigte die „ständige Staatskonferenz“ in Wien am 27. Juli 1700 die Zuerkennung einer Krone an Friedrich III. Der Kaiser hatte „nichts dagegen“, ließ jedoch keine Zweifel daran, dass an sein Entgegenkommen Bedingungen geknüpft waren. Er brauchte Soldaten. Allein die Bestechung kostete den Krönungskandidaten sechs Millionen Taler. Prinz Eugen soll dazu geäußert haben, man täte gut daran, die Befürworter dieser Krone aufzuhängen. Aber gegen alle Widerstände, auch am eigenen Hof, zelebrierte Friedrich III. am 18. Januar 1701 seine Krönung in seiner Geburtsstadt Königsberg. Von da an nannte er sich Friedrich I., König in Preußen. Anerkennung gewährten nur der österreichische Kaiser, der Zar, Polen, England, Dänemark und die Niederlande, während sich Ludwig XIV., Karl XII., der Papst und andere verweigerten.
Die Maßlosigkeit des Kurfürsten zeigte sich auch im Aufwand, der für die Krönungsfeier betrieben wurde. Für Friedrich I. war es das Ereignis des Jahrhunderts. Schon im Sommer 1700 ließ er die Ausstattung vorbereiten: Dekorationen, kostbarste Kleidung für sich und die zukünftige Königin, Kostüme für den Hofstaat, geeignete Kutschen für die lange Reise und obendrein noch die Stiftung eines neuen Ordens, des „preußischen Adlerordens“ in Schwarz und in Rot. Am 17. Dezember 1700 rollte der kurfürstliche Krönungswurm los - in einer unvorstellbaren Größenordnung. 1 800 Wagen und Kutschen ratterten nach Osten ins 600 Kilometer entfernte Königsberg: die königliche Familie, der ganze Hof, alle Würdenträger, alle Bediensteten, Köche und Künstler, militärische Bewachung, Nahrungsmittel, Getränke und das ganze Gepäck. Es müssen 3 000 bis 4 000 Personen gewesen sein, die den rollenden Hof begleitet haben. Die Jahreszeit und die Wetterbedingungen ließen nur kurze Tagesabschnitte zu. Regen, Schnee und eisige Kälte lassen darauf schließen, dass nach manchen Karambolagen die Abende in den jeweiligen Unterkünften mit heftigen Gelagen verbracht wurden. So ist es erstaunlich, dass der ganze Tross schon am 29. Dezember in Königsberg eintraf. Ein knappes halbes Jahr ununterbrochene Feierlichkeiten und Feste erwarteten ihn. Die Nacht vor dem Krönungstag war schließlich nass und kalt, voller Regen und Schnee. Am anbrechenden Tag aber schien die Sonne. Krönungswetter!
Krönungswetter herrschte also am 18. Januar 1701 in Königsberg. Das offizielle Programm ließ an verschwenderischer Opulenz nicht zu wünschen übrig: Selbstkrönung und Krönung der Kurfürstin durch Friedrich mit sehr reich ausgestatteten, teuren Kronen endeten mit einer gleich von zwei Bischöfen (die Herr Friedrich als Kurfürst noch flugs ernannt hatte) vorgenommenen Salbung, damit die neue preußische Krone mit dem Segen des „Gottesgnadentums“ erstrahlen konnte. Dieser Akt fand in einer lutherischen Kirche statt, obwohl Friedrich I. und seine Frau Calvinisten waren. Für einen fanatischen Preußenschwärmer ein bemerkenswertes Beispiel für die „preußische Tugend“ der „Toleranz“.
Nach dem ganzen offiziellen Tamtam folgte der gemütliche Teil des Krönungstages: Essen, trinken, tanzen, Ochs am Spieß, Wein aus dem Brunnen, Feuerwerk und Kanonade. Zwischen Berlin und Königsberg waren überall Tafeln mit Sinnsprüchen und Herrschaftsformeln aufgestellt. „A DEO DESTINATA“ (Von Gott gegeben), hieß es in Königsberg. In Löbenicht war zu lesen: „Des Adlers Flug ist hoch, weit höher ist der Ruhm, den unser Souverän erlangt, zum Eigenthum.“ In Friedrichswerder lautete die Formel: „TERRORI AC TU TELAE“ (Schrecken und Schutz). Und die französische Kolonie in Berlin kleidete ihre Ergebenheit in den Spruch „TERROR ET ORBIS AMOR“ (Terror und Liebe des Erdkreises). Zu dem gelegentlichen „FRIDERICUS MAGNUS“ gesellte sich das häufige „VIVAT FRIDERICUS; REX IN PRUSSIA“. Ebenfalls sehr häufig war die Darstellung des preußischen Adlers, der im Flug aus einer Wolke heraus gekrönt wird.
Der Prunk der mit ungeheurem Aufwand erfolgten Eigenkrönung war trotz allen Aufwands ein ziemlich „hohler Pomp“, wie das gelegentlich auch solide Historiker zum Ausdruck gebracht haben. Gleichzeitig war dies aber auch eine Machtdemonstration, deren Wirkung vor allem auf das einfache Volk und auf zutiefst ergebene Höflinge abzielte.
Am 8. März - nach wochenlangen Gelagen - reiste die Hofgesellschaft schließlich wieder aus Königsberg ab. Das Königspaar verblieb noch eine Weile am Krönungsort und traf erst am 6. Mai wieder in Berlin ein, empfangen von einer perfekt organisierten Huldigung durch das Berliner Volk in der nun königlichen Residenz. Alle Kirchenglocken läuteten, am Alexanderplatz waren mehrere Triumphbögen aufgebaut. Die auf 200 Spreekähnen montierten Kanonen schossen Salut um Salut. Und zum Abschluss gab es wieder ein Feuerwerk. Berlin bekam seine erste „Königstrasse“ und sein erstes „Königstor“ - auf Anordnung des frisch gebackenen „REX IN PRUSSIA“.
Doch nach dem ganzen kostspieligen Rummel wurde Bilanz gezogen: Die Kassen des Königs waren leer, wie eigentlich immer. Aber irgendwie mussten die Krönungsschulden bezahlt werden. Unausweichlich fest stand die gegenüber dem österreichischen Kaiser eingegangene Verpflichtung, ihm Zug um Zug 30 000 preußische Soldaten als Kanonenfutter für dessen spanischen Erbfolgekrieg gegen Ludwig XIV. zu liefern; das war fast das ganze Heer. Der Krieg dauerte 13 Jahre - von 1700 bis 1713. In zahlreichen Schlachten auf spanischem, holländischem, italienischem, ungarischem und deutschem Territorium wurden die spanischen und französischen Heere von einer Militärallianz aus Habsburg, England, den Generalstaaten, Hannover und preußischen Hilfstruppen unter dem Oberbefehl von Prinz Eugen und von Herzog von Marlborough geschlagen. Allein die Schlacht bei Malplaquet, die größte Schlacht dieses Krieges, kostete 40 000 Tote. Es war einer der opferreichsten Kriege des 18. Jahrhunderts. Am Ende stand der Friede von Utrecht (1713) mit einem - wie immer in solchen Fällen - Kompromiss. Die 30 000 Mann Kanonenfutter für diesen Krieg des Kaisers und seiner Verbündeten, die von Friedrich auch 13 Jahre lang unterhalten werden mussten, waren der erste Kostenpunkt für die Königskrone, der Gewicht hatte. Der zweite waren die ungeheuren Bestechungsgelder für die Herren des Wiener Hofes, die der Kurfürst für die Befriedigung seines Königswahns gekauft hatte. Doch es gab noch einen dritten Posten. Die Kosten der byzanthinisch- prunkvollen Krönung nahmen erst Gestalt an, als der ganze Aufwand bilanziert wurde: Die Königsmacherei hatte an die sechs Millionen Taler gekostet. Die zahlte das Volk - in Gestalt einer Krönungssteuer.
Dies voraussehend hatte auch Eberhard Dankelmann gemeinsam mit allen anderen Ministern und Räten gegen die Krönung Einspruch erhoben. Er war daraufhin aller Ämter enthoben, seines ganzen Vermögens beraubt und zu lebenslänglicher Haft in die Festung Spandau eingeliefert worden. Der noch despotischere Nachfolger auf dem Königsthron, Friedrich Wilhelm I., hat Dankelmann (nach 16 Jahren Haft) zwar wieder auf freien Fuß gesetzt, sein Vermögen aber einbehalten und ihn nach Cottbus verbannt“.
In seinen schwärmerischen Erinnerungen an „Meine Vorfahren“ (erschienen im Verlag für Kulturpolitik, Berlin, 1929) hat Wilhelm II., der letzte aus dem Feldwebelgeschlecht der Hohenzollern auf dem preußisch deutschen Thron (preußischer König und deutscher Kaiser), den „Pracht liebenden“ König als Schöpfer der „viel berühmten, viel begeiferten, völlig missverstandenen Institution des auf der ganzen Welt vorbildlichen Preußischen Offizierskorps [gelobt, W.B.], dessen Leistungen und Taten die kriegsgeschichtlichen Annalen als unübertroffen geschildert haben“. Für ihn ist König Friedrich I. auch der „Schöpfer der Preußischen unvergleichlichen Armee“.
Schon etliche Jahre vor seiner Königskrönung hatte sich in Europa herumgesprochen, dass Friedrich III., Nachfolger des „Großen Kurfürsten“, ein ungeheuer eitler und törichter Wicht sei, dem man nahezu alles aufschwatzen könne, wenn es nur pompös genug zu werden versprach. Er hatte die öffentlichen Kassen bald geplündert, um sich und seine Umgebung mit allerlei wertvollem Schmuck, Porzellan, teurem Mobiliar und sonstigem Prunk auszustatten. Eine vergoldete Luxus-Galeere, bestückt mit 22 Kanonen und ausgestattet mit Silbergerät im Wert von 100 000 Talern, hatte er in Holland herstellen lassen - (für einen „Seekrieg“ auf der Havel?). Für das Potsdamer Schloss hatte er prächtige Möbel und 36 Marmorwerke angeschafft. Auch eine wertvolle Münzsammlung, seltene Porzellanvasen und 168 kostbare Wandteppiche gehörten zum kurfürstlichen Vermögen. Ausschweifungen und rauschende Feste kennzeichneten den Lebens- und Regierungsstil des Herrn Friedrich, der, ergänzt durch den Unterhalt zahlreicher Günstlinge und Mätressen, riesige Summen verschlang.
Die sachlich-solide Geschichtsschreibung ist sich ziemlich einig darin, dass der erste König in Preußen ein „Affe“ und ein „Unhold“ war. Ein zeitgenössischer Historiker (Gallus) schrieb schon damals: „Friedrichs Regierung war elend, ... er war ein schwacher, ein unfähiger Regent. Er regierte sein Land auch gar nicht; Weiber und Günstlinge taten es. An seinem Hofe wohnte die Intrige, die Hinterlist, die Schmeichelei, Laster jeder Art. Er selbst wer mehr als eitel. Sein Hang zur Pracht, zur Verschwendung ging bis ins Kindische... Er schwamm in Vergnügungen, während das Volk in Tränen zerfloss. Tausende starben eines elenden Hungertodes, indessen er schwelgte. Ehrliche, rechtschaffene Leute wurden gestürzt und verjammerten ihre Tage in dumpfen Kerkern, wirkliche Bösewichte, Blutegel des Landes, bekamen sogar, wenn sie in Ungnade gefallen waren, noch ungeheure Jahrgelder.“
Unter den vielen Geld- und Postenjägern, die Berlin, die Stadt der „unbegrenzten Möglichkeiten“, angezogen hatte, waren zwei von besonderem Kaliber: Der Pfälzer Johann von Kolbe und die Tochter Katharina des Emmericher Schankwirts und Weinhändlers Rickers. Beiden gelang am Hofe des Kurfürsten eine rasante Karriere. Die Schankwirtstochter stieg nach der (ihre niedere Herkunft kaschierenden) Eheschließung mit dem adeligen v. Kolbe zur offiziellen Mätresse des Herrn Friedrich auf, und dieser verschaffte dem 1696 vermählten Paar vom immer geldbedürftigen Kaiser den Freiherrentitel und ernannte den nunmehrigen Reichsfreiherrn Kolbe v. Wartenberg zu seinem Kammerherrn. Anno 1707 gewährte der neue Kaiser in Wien, Josef I., dem Grafen Kolbe v. Wartenberg und dessen Gemahlin - durch Vermittlung Friedrichs I. - eine ganz besondere Gnade, indem er die zu einem stattlichen Umfang angeschwollenen Kolbeschen Domänen in den Rang einer reichsunmittelbaren Grafschaft erhob. Damit waren die Wartenbergs allen übrigen regierenden Häusern im Deutschen Reich ebenbürtig. Die Domänen hatte das schlaue, korrupte Paar mit dem in Brandenburg/Preußen zusammengerafften Geld aufgekauft, ständig von der wärmenden Sonne ihres sie liebenden Königs begleitet. Graf Wartenberg war in schneller Folge Generalerbpostmeister in Preußen geworden (mit der Berechtigung zur Einbehaltung von drei Prozent aller Einnahmen), dann Marschall von Preußen (anlässlich der Krönung), gleichzeitig Kanzler des von Friedrich gestifteten Hohen Ordens vom Schwarzen Adler (mit der Devise SUUM CUIQUE - Jedem das Seine) und endlich Premierminister mit einem Jahresgehalt von 100 000 Talern, eine für damalige Verhältnisse geradezu märchenhaft hohe Besoldung in einem solchen Amt. Der frischgebackene König hatte in seinem eitlen Stolz alle Maßstäbe verloren.
Neben Wartenberg gab es noch zwei weitere Schmarotzer am Königshof - die Herren Wartensleben und Wittgenstein. Dieses raffinierte Räubertrio muss die Plünderungen der öffentlichen Kassen bei ziemlich hellem Licht betrieben haben, denn das Volk hat es bemerkt, und der Volksmund hat die drei Diebe mit bitterer Ironie als „Das dreifache Weh“ bezeichnet. Als Vierte im Bunde betätigte sich die nunmehrige königlich-preußische Marschallin und Mätresse en titre, die Gräfin Katharina v. Wartenberg. Sie sorgte dafür, dass der königliche Liebhaber, in dessen Krönungsjahr sie ihren 25. Geburtstag feierte, sie mit Unmengen Diamanten, Schmuck und Gold, mit Gemälden und Teppichen, mit Häusern und Ländereien sowie mit immer neuen Schatzanweisungen überschüttete, die sie und ihr Gemahl Zug um Zug zu Bargeld machten.
Stabsoffiziere der Bundeswehr halten Totenwache bei Friedrichs Umbettung 1991
Die königlichen Kassen, Arsenale und Kasernen waren schon so gut wie leer. Der König hatte keine Regimenter, kein Pulver und kein Geld mehr. Dem Drängen entsetzter Beobachter musste er schließlich nachgeben und das räuberische Trio mitsamt der Mätresse aller Ämter entheben und Untersuchungen gegen sie einleiten. Eine Fülle von Missetaten wurde aufgedeckt - Bestrafungen und Wiedergutmachungen folgten allerdings keine. Wartenberg und seiner Frau überließ der „dankbare“ Monarch ihr komplettes zusammen geraubtes Vermögen. Sie erhielten lediglich die Aufforderung, Preußen alsbald zu verlassen. Das taten sie, nahmen aber von ihrem üppigen Besitz alles mit, was sich transportieren ließ. Den Rest verkauften sie. Wiederum handelte es sich um Millionen. Übrig blieb lediglich das Schloss Monbijou, das König Friedrich „seiner“ schönen Katharina (in Berlin, an der Oranienburger Straße) hatte bauen lassen. Sie schenkte es ihm zurück, und der blöde Monarch war so beeindruckt von dieser Geste, dass er seiner abziehenden Mätresse eine jährliche Pension in Höhe von 24 000 Taler gewährte. Millionenschwer verließ das Paar das von ihm ausgeplünderte Preußen. Er starb bereits ein Jahr später in Frankfurt/M. Sie zog nach Paris und vergnügte sich dort noch ca. 20 Jahre.
Das alles geschah vor dem Hintergrund eines ständig gewachsenen Elends im neuen Königreich. Arm waren die Leute im Land schon immer gewesen. Jetzt - unter der Herrschaft des Verschwenders Friedrich - waren sie bettelarm geworden. Und nun suchte auch noch (1709-1711) eine Pestepidemie die östlichen Landesteile heim. Allein Ostpreußen verlor durch diese Seuche mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung (etwa 200 000 Menschen).
Berlin und Umgebung blieben von der Pest verschont. Dort hatte sich, dem Lotterleben am Hofe folgend, ein buntes Leben und Treiben entwickelt. Es gab Stadtküchen, Restaurants und Imbissstuben, Kaffeehäuser und Konditoreien, Zucker- und sogenannte Feinbäcker, schließlich auch Kaufhäuser und etliche Hotels nach französischem Muster. Es gab eine bescheidene Oper, es gab literarische Zirkel, es gab Konzerte. Den König interessierte das alles sehr, und es gefiel ihm großartig. Nur: Er ging nicht hin.
Der elende, unfähige Regent starb im Februar 1713 in seinem Schloss in Berlin. Er starb ... vor Schreck! Seine verrückt gewordene dritte Frau, Königin Sophie Luise, wurde in einem abgelegenen Flügel des Schlosses unter Verschluss gehalten. Eines Tages entwich sie ihren Pflegern, schlug sich durch bis zu dem in seinem Lehnstuhl eingenickten Gemahl, der plötzlich eine weiße unheimliche Gestalt erblickte, eine grauenhafte Erscheinung mit blutigen Händen, die ihn zu bedrohen schien. Entsetzt schrie er auf, und eine der folgenden Herzattacke setzte seinem Lotterleben ein Ende.
Und nun, 310 Jahre danach, wird er gefeiert wie ein Held, wie ein großer Preuße, an dem nichts von dem zu entdecken ist, was irgendwann einmal von preußischen Hofhistorikern als „preußische Tugenden“ erfunden wurde. „Toleranz“ könnte man ihm vielleicht zubilligen. Nicht jene, die Preußenschwärmer entzückt, sondern eine „Toleranz“, die dem Betrug, der Geltungssucht, der Bereicherung, der Bestechung, der Verschwendung gezollt wird. Auch bei seinen Nachfolgern wird man die gefeierten Merkmale „preußischer Tugenden“ nicht entdecken können. Sie sind unausrottbarer Bestandteil der Hohenzollern-Legenden, die die Hofhistoriker, Hofdichter und Hofjournalisten im 19. Jahrhundert erfunden und unaufhörlich ausgestreut haben - mit entsetzlichen Wirkungen bis auf den heutigen Tag.
***
Der König sitzt immer noch auf der Terrasse. Starr bleibt die spitze Nase nach vorn gereckt, das große Auge, viel zu groß für das kleine Gesicht, blickt unbewegt geradeaus auf die Stelle in der Terrassenmauer, wo sein schäbiger Körper - wie alle Welt weiß - demnächst bestattet werden soll und wo schon jetzt seine einstigen Lieblinge, die Windhunde, ruhen. Ein Frederic Le Grand hat es nicht nötig, in geweihter Erde begraben zu werden. Man ist nicht umsonst Philosoph... Ah, seine graziösen Windhunde! Wenn sie doch noch in der Sonne ihr Spiel vor ihrem königlichen Herrn trieben! Wenn der Hundefavorit noch neben ihm auf einem seidenbezogenen Stuhl läge! Aber nach dem Tod seines Lieblings, der entzückenden Biche, will der König kein Windspiel mehr in seiner Nähe dulden und überlässt im Potsdamer Hundezwinger die vierzig Windspiele ihren Wärtern.
„Ja, ja, gute Gesellschaft, die regt an!" entfährt es nach einer Weile dem König leise mit einem kleinen Seufzer. „Passe!"
Wenn man wenigstens noch Zähne im Mund hätte und mehr Luft in der Lunge, um Flöte spielen zu können! Heute - Dieu le sait - würde es Mich ganz besonders enchantieren. Mir selber in der schönen Sonne ein kleines Flötenkonzert zu geben. Weit ist es nicht her mit Meinem Flötenspiel trotz der vielen Schmeicheleien, die man Mir darüber gesagt hat, aber was schadet das! Mir hat es Spaß gemacht, il m'amusa. Passe! Auch das: passe! Was ist Mir noch geblieben? Ein bisschen Gier auf gutes Essen! Eh bien: ein Zeichen, dass Ich noch nicht ganz abgestorben bin! Und da wollte Mir der Scharlatan von Leibarzt eine schleimige Diät aufschwatzen! Das wäre Mir ein jämmerlicher König, der nicht äße, was ihm konveniert...'
Bei diesen lukullischen Gedanken verspürt der König eine rumorende Bewegung in seinem Gedärm: ,Ah, das Digestivmittel Meines braven Schöning scheint wieder einmal anzuschlagen. Was hatte sich der doch untertänigst zu verordnen erlaubt? Ein Gemisch von Rhabarber, Glaubersalz, Salpeter und Krebsaugen? Eh bien! Hoffen wir, dass die Krebse bei ihrem Durchmarsch durch Mein elendes corpuscule so diskrete Augen haben wie Meine Kammerhusaren, wenn Ich ihnen auf dem fauteuilcloset das spectacle eines Landesvaters faisant caca vorführe..." Immer deutlicher kündigt sich ein Darmkolikanfall an. Der König ist damit durchaus einverstanden, denn er ist überzeugt, dass die Kolik eine Milderung seiner Gichtschmerzen bewirkt. Diese angenehme Erwartung wird freilich gestört durch die Aussicht, dass zunächst die widerliche Prozedur der Darmentleerung vor sich gehen muss.
Bald ist es soweit. Unwirsch greift der König nach dem kleinen Silberglöckchen und schellt. Ein Kammerhusar wartet ja immer in Hörweite. Der Lehnstuhl mitsamt dem kleinen König wird von den beiden Kammerdienern eilig in das Schloss zurückgetragen.
Inzwischen murmelt der König grimmig vor sich hin: „Der Monsieur Selle könnte sich mal wieder sehen lassen! Der Quacksalber weiß vielleicht ein Mittel gegen die mechanten Koliken." Schöning kennt das Mittel, das helfen würde: eine vernünftige Diät! Aber er schweigt natürlich. Außerdem weiß er, dass der König neuerdings erwägt, den berühmten Doktor von Zimmermann, den hannoverschen Leibmedicus, nach Sans Souci kommen zu lassen. Die herzoglich-hannoversche Verwandtschaft hat angeboten, dass sie sich für einige Zeit von ihrem Leibarzt trennen wäll, wenn damit dem großen Friedrich ein Gefalle geschieht ...
Am nächsten Vormittag lässt sich der König im Lehnstuhl auf die Terrasse hinaustragen. Er ist von der Anstrengung des Vortages noch ermattet, fühlt sich aber doch erleichtert und schmerzfreier. Eine Stunde bleibt ihm noch bis zur Mittagsmahlzeit, die auf die Minute genau eingenommen wird und ihm heute besonders gut schmecken dürfte.
Wohlig lässt er sich von der Sonne wärmen. Nach einer Weile wirft er sogar die Pelzdecke von seinen Knien auf die Erde. Abgenutzt und schäbig, wie das meiste, was dem König an Gegenständen dient, ist dieser einst kostbare Zobelpelz, ein Geschenk der Zarin Elisabeth. Ein behagliches Überlegenheitsgefühl weckt der alte Pelz in Friedrich, und er sinniert vor sich hin: Ja, ja, deine alte Feindin Elisabeth! Zwei gute Taten hat das liederliche und saufige Weibsstück immerhin vollbracht, den wohltuenden Zobel hat sie Mir, um Mich zu bestechen, geschenkt, und später, anno 1762, im Siebenjährigen Krieg, ist sie genau zur richtigen Zeit gestorben: mon Dieu, das Wasser stand Mir schon bis zum Halse! Wäre damals nicht der Blödian Peter Zar geworden - ob Ich dann heute so schön in der Sonne auf Meiner Terrasse säße? So ein Simpel! Hat, obwohl Russe, Mich glühend bewundert! Na ja, von seinem Großvater Peter dem Großen hatte er verzweifelt wenig an sich!' Während dieser Überlegungen hat ein mokanter Zug um den schmallippigen Mund des alten Mannes gespielt, aber nach einer kleinen Weile wird sein Gesichtsausdruck wieder sanft und melancholisch, während er seine lässigen Gedanken weiter spinnt.
In solches Sinnen verstrickt, das ihm ein spöttisches Vergnügen zu bereiten scheint, verliert sich der alte Mann immer mehr ins Träumen mit offenen Augen und ist nahe daran, einzunicken.
Aber dann: „Ah! Die Mittagsmahlzeit! Pas mal!" Und so unternehmungslustig ist der König auf einmal gestimmt, dass er sich partout zu Fuß ins Zimmer begeben will und begibt. Schöning, der Nacht- und Morgendienst gehabt hat, ist dienstfrei. Er richtet es übrigens gern so ein, dass er bei der umfänglichen Mittagsmahlzeit des Königs nicht zugegen ist. Natürlich verbirgt er ganz einwandfrei seinen Kummer, wenn er sehen muss, wie der König falsch und viel zu viel isst, aber er leidet innerlich schwer darunter, was alles an Nahrung in dem kleinen, kranken Körper des Königs Platz findet. Der König gießt siedend heiße Bouillon in sich hinein und hinterher einen großen Esslöffel voll gestoßener Muskatblüten. Der übermäßig scharfe Würzgeruch der Speisen steigt würdig in die Nase und der russische Kaviar, von denen der König eine gehörige Portion vertilgt, schmeckt vorzüglich. Nun, es liegt zwar auf der Hand, dass Könige sich nicht von Schwarzbrot, Gemüse und dicker Milch ernähren können, aber jetzt schiebt den königlichen Esser große Mengen ganz ordinärer dicker, harter Erbsen in sich hinein. Danach eine fetttriefende Aalpastete, die der König mit besonderer Gier zu sich nimmt. Sicherlich die geeignetste Speise, um den geschrumpften Kriegshelden wieder zu der früheren mächtigen Größe anschwellen zu lassen! Doch plötzlich: Der König hört auf zu essen, sitzt eine Weile schwer atmend da und fängt dann an, unter Aufbäumen seines kleinen Körpers heftige Stöhnlaute auszustoßen. Der Kammerhusar ist kaltblütig mit einer Porzellanschale zur Stelle.
Langwierig und mit Pausen geht das Erbrechen vor sich, schließlich steigert es sich zu großer Heftigkeit und, was herauskommt, ist mit Blut und Eiter untermischt.
Diesmal ist der König, der das Erbrechen sonst nicht sehr wichtig nimmt, stark angegriffen. Matt, mit geschlossenen Augen hockt er wie halbtot im Lehnstuhl. Der Kammerhusar stellt ganz sachlich bei sich fest: Das muss man Ihm lassen - so eine Kotzstrapaze bei dem kleinen schwachen Körper, das wird Ihm so leicht niemand nachmachen!
Am Nachmittag nimmt Schöning seinen Dienst wieder auf Eine Minute, bevor die Kaminuhr fünf silberne Schläge gibt tritt er lautlos vor den Lehnstuhl des Königs. Es ist die Stunde in welcher der König seine Kabinettssekretäre empfängt, um die von ihnen im Laufe des Tages ausgefertigten Briefe zu unterzeichnen. Tages- und Arbeitsablauf ist dem König in Fleisch und Blut übergegangen. Beim ersten der fünf Schläge der Kaminuhr hebt er den ganz auf die schmächtige Schulter gesunkenen Kopf erkennt Schöning und erteilt ihm mit der gewohnten kleinen Handbewegung die Erlaubnis, einen Kabinettssekretär vorzulassen. Die wenigen Augenblicke, die vergehen, bis dieser vor dem König steht, hat Seine Majestät benutzt, den alten Filzhut zurechtzurücken und eine einigermaßen herrscherliche Haltung einzunehmen.
Begrüßung und Arbeit gehen stumm vor sich. Schöning hat den Tisch mit dem Schreibgerät an die Seite des Lehnstuhls gerückt, sodass der König mit der rechten Hand leidlich bequem unterschreiben kann. Der Sekretär nennt nur die Person oder die Amtsstelle, an die das Schreiben gerichtet ist, und reicht es dann dem König hin. Der wirft einen flüchtigen Blick darauf, verzichtet auf Prüfung des Inhalts und greift zur Gänsefeder. Der Sekretär ist geschickt im Festhalten des Briefbogens, so dass der König nicht die gichtige Linke zu Hilfe zu nehmen braucht. Mit jeder Unterschrift, die der König zu leisten hat, wird seine Laune schlechter. Es ärgert ihn, dass er das bisschen „Friedrich" nur immer zittriger aufs Papier bringt.
Mit einer kleinen Handbewegung wird der Sekretär jetzt vom König verabschiedet. Der König nimmt nun die Hilfe Schönings in Anspruch und lässt sein rechtes Bein von der Umhüllung befreien. Da zeigt es sich, dass die Anschwellung zurückgegangen und eine starke Flüssigkeitsabsonderung eingetreten ist.
Gar nicht befriedigt ist Schöning. Er hat sich von Doktor Selle belehren lassen, dass der Abgang von Blutwasser zwar zeitweilig eine Linderung der Schmerzen mit sich bringe, aber keineswegs die gefährlichste Verschlimmerung ausschließe. Doch der König ist gutgelaunt und äußert plötzlich Appetit auf Melonen. Damit ist Schöning durchaus einverstanden. Das königliche Gewächshaus liefert Südfrüchte verschiedenster Art. Bald ist Schöning mit zwei ziemlich großen Melonen zur Stelle. Er kennt seinen Herrn, und wirklich verspeist der König die ihm dargereichten Melonenscheiben sämtlich bis auf den Schalenrand mit sichtlichem Genuss.
Obwohl die siebente Nachmittagsstunde kaum erst angebrochen ist, deutet sodann der König seinen Wunsch an, zur Nacht gebettet zu werden. Er wird vom Lehnstuhl auf das hochlehnige Kanapee nebenan gehoben. Die Nachttoilette besteht eigentlich nur darin, dass ihm der große schwere Reiterstiefel vom gesunden linken Bein mühsam abgezogen wird. Den schäbigen blauen Uniformrock und die schmutzige gelbe Weste behält er an. Mit dem Oberkörper aufrecht, nur die Beine ausgestreckt, sitzt der König mehr, als dass er liegt. Die alte Zobeldecke der Zarin Elisabeth wird über die Füße gebreitet, und das Kanapee-Nachtlager ist fertig. Die hohen Fenstertüren und die Vorhänge werden geschlossen. Wegen der Klarheit des Maiabends herrscht aber noch eine zarte Dämmerung im Zimmer.
Dann verlangt der König noch einen Opiumtrank, rückt den alten schwarzen Filz tief in die Stirn und winkt seine beiden Kammerhusaren hinaus ...
Zehn Stunden, bis zum nächsten Morgen fünf Uhr, will der König allein sein. Und er bleibt es auch fast immer. Ein leises Klingeln mit dem silbernen Glöckchen, und ein Kammerhusar wäre zur Stelle. In letzter Zeit sitzt nicht mehr bloß ein gewöhnlicher Lakai, von denen es zwölf in Sans Souci gibt, sondern ein Kammerhusar vor der bloß eingeklinkten Tür und lauscht auf jenes Zeichen. Aber der eine Kammerhusar wie der andere, der ihn nach drei Stunden ablöst, wartet für gewöhnlich vergebens. Nicht, dass der König einen festen, gesunden Schlaf hätte auf Grund des Opiumtrankes! Nur stundenweise schläft er vor Mattigkeit. Aber er muss im Dunkel ruhen, um wieder gesund zu werden. Auf etwas mehr oder weniger Qual kommt es ihm dabei nicht an. Man muss doch demnächst imstande sein, eine Viertelstunde lang mit den Reiterstiefeln an den Beinen - in Denkmalshaltung - aufrecht am Schreibtisch zu stehen! Der neue französische Gesandte muss zu einem Antrittsbesuch empfangen werden! Danach werden es dann alle europäischen Höfe wissen, dass der böse, alte Kerl in Sans Souci noch immer nicht daran denkt, durch seinen Tod Europa von Furcht und Unruhe zu befreien...
***
Schöning hält es nach dem blutuntermischten Erbrechen für geraten, einen Lakaien nach Berlin zum Doktor Selle zu schicken. Der König hat ja kürzlich ärgerlich und beiläufig vor sich hin geknurrt, dass es ihm erwünscht wäre, seinen Leibarzt wieder einmal zu konsultieren. Die ungewöhnlich starke Transpiration des Königs, derentwegen im Schloss trotz der Sommerwärme Tag und Nacht das Kaminfeuer brennen muss, stimmt Schöning bedenklich.
Hinzu kommt, dass der Minister Graf von Finckenstein Schöning anvertraut hat, der hannoversche Hof sei vor einigen Tagen endgültig gebeten worden, den hannoverschen Leibmedicus, den zur Zeit berühmtesten Arzt in Deutschland, den Doktor von Zimmermann, für einige Zeit nach Potsdam zu entlassen und ihn dem preußischen König zur Wiederherstellung seiner Gesundheit vorübergehend zur Verfügung zu stellen. Schöning ist überzeugt, dass der König keinen besseren Arzt als Doktor Selle finden kann. Er fühlt sich durch eine eigentümlich zurückhaltende Zuneigung diesem so viel jüngeren Mann verbunden, und es erscheint ihm nicht mehr als recht und billig, dass Selle, ehe ein zweiter Arzt ihn verdrängt, den König nochmals behandelt. Doktor Selle ist frühzeitig von Berlin aufgebrochen. Bei dem schlechten Zustand der preußischen Straßen braucht eine bescheiden bespannte Kalesche gut und gern fünf Stunden für die Fahrt nach Potsdam.
Der Junitag ist auch in der Frühe schon schwül. Doch Selle hat ja das Verdeck seines Wagens herunterklappen lassen und träumt nun während der langen Fahrt behaglich vor sich hin, wobei ein kleines Lächeln seine Lippen umspielt. Er denkt an die Unterredung, die er gestern Abend mit seiner Frau gehabt hat. Dorothea hat gemeint, er solle doch gelegentlich eine Situation herbeiführen, in der sich der König recht über ihn ärgern müsse.
Selle hat gelacht. „Damit er mich auf eine besonders grobe Weise zum Teufel schickt?"
„Wenn nur überhaupt! Etwas Besseres könnte dir gar nicht passieren ..."
Ja, seine Dorothea hat mancherlei am König auszusetzen, und dabei ist sie doch im Übrigen so begeisterungsfähig! Selle ist immer noch sehr verliebt in seine Frau. Es hat eine Zeit gegeben, wo es ihm abenteuerlich erschienen ist, eine so hübsche, kecke Berlinerin zu fragen, ob sie etwa seine Frau werden wollte. Das war, als er, geborener Stettiner, noch in Göttingen Medizin studierte. Aber Dorothea hat es dann auf eine für einen schwerfälligen Norddeutschen einfach unbegreiflich leichte und anziehende Weise fertiggebracht, dass sie eines Tages verlobt waren. Und bald danach konnte auch geheiratet werden. Selle, inzwischen Arzt mit eigener Praxis, akklimatisierter Berliner und längst kein schüchterner Bursche mehr, hat seine Frau später manchmal geneckt, sie habe etwas von Lessings unvergleichlicher Minna von Barnhelm an sich: wirklich wunderbar, wie diese Minna ihren Tellheim zum Liebesgeständnis zu bringen wüsste...
Von diesen Gedanken seines Medicus ahnt der König nichts und hätte sie sicherlich auch missbilligt. Sein Frauenbild war nicht das Beste.