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4. Was Literaturwissenschaftler lernen

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Textkenntnis und mehr

Wenn es bisher den Anschein hat, als ob literaturwissenschaftliches Arbeiten lediglich daraus besteht, tagtäglich am Schreibtisch zu sitzen, dann muss das hier (teilweise) korrigiert werden. Die Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kann sehr vielfältig sein und sehr verschiedene Fähigkeiten und Kenntnisse erfordern. Das ist bereits in der Skizze wissenschaftlichen Arbeitens angedeutet worden, als dort von Bibliotheken, Archiven, Tagungen und der Lehre die Rede war. Literaturwissenschaftliches Arbeiten heute besteht nicht nur daraus, Aufsätze und Bücher zu schreiben und über die eigenen Spezialgebiete gelehrt zu dozieren. Wissenschaft heute ist viel mehr: Literaturwissenschaftliche Kompetenz besteht darin, sich in der Literatur des jeweiligen Fachgegenstands, also zum Beispiel in der deutschsprachigen Literatur in ihrer Gesamtheit, auszukennen und sein Wissen stets zu erweitern. Wenn sich die Literaturwissenschaft aber darauf beschränken würde, würde sie zurecht an Bedeutung verlieren. Denn keine Gesellschaft leistet sich eine Wissenschaft, die sich auf die Verwaltung von Wissensbeständen beschränkt. Insbesondere dann, wenn sehr schnell zu belegen ist, dass niemand diese Wissensbestände auch nur einigermaßen aufnehmen, speichern und wiedergeben, und erst recht, wenn niemand sie anwenden und verwenden kann.

Ein einfaches Rechenbeispiel zeigt, dass es nichts weniger als überheblich ist zu behaupten, irgendjemand sei in der Lage, auch nur die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts in Gänze zu kennen.

Man kann nicht alles lesen

Ein Wissenschaftlerleben dauert vielleicht 50 Jahre. Nehmen wir an, dass ein fleißiger Literaturwissenschaftler pro Woche zwei Bücher liest, (die, sagen wir zwischen 200 und 300 Seiten umfassen), dann bringt er es in seinem gesamten beruflichen Leben auf etwa 5200 Bücher inkl. Sekundärliteratur. Das ist viel und eine beeindruckende Leistung, aber eine flächendeckende Kenntnis lässt sich auf diese Weise nicht ansammeln, zumal nicht am Beginn einer wissenschaftlichen Karriere. Nach drei Jahren Studium kommen Sie auf etwas mehr als 300 Bücher und gelten damit als ausgebildeter Fachmensch. Kein Wunder also, dass viele Studierende aber auch erfahrene Literaturwissenschaftler darunter leiden, sich in ihrem eigenen Fach nicht wirklich auszukennen und kaum alle als kanonisch geltenden Texte der Primär- und Sekundärliteratur zu kennen. Wissenschaftler müssen also in jedem Fall extrapolieren, das heißt lernen, von dem, was sie wissen, auf anderes zu schließen. Sie müssen sich aber auch beschränken, um überhaupt ernsthaft ihr Fach zu betreiben (nicht zuletzt hieraus bezieht der literarische Kanon seine Legitimität). Leselisten helfen hier, auch wenn sie problematisch sind.

Praxisrelevanz

Außerdem wird jede Wissenschaft heute (und gerade die Literaturwissenschaft) auf mehr drängen, und sei es, dass sie sich als Schreibschule oder als Vorbereitungsinstanz für andere, praktische Tätigkeiten versteht, etwa für den Deutschunterricht oder eine Tätigkeit im Verlagswesen.

Literaturwissenschaftliche Kompetenzen

Schaut man sich die literaturwissenschaftliche Tätigkeit an, dann besteht sie aus mehreren, vielfältigen Tätigkeitssegmenten:

Themenfindung

Problematisierung

Gegenstandsbefragung

Recherche

Reflektion

Abstraktion

Diskussion

Ableitung und Hinleitung

Darstellung und

Wiedergabe.

Literaturwissenschaftler müssen lesen, schreiben und reden können. Sie müssen logisch zu denken vermögen und sie müssen Sachverhalte unterschiedlicher Provenienz, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, in Zusammenhang bringen können. Sie müssen von wenigen erkennbaren Elementen auf große Zusammenhänge schließen können. Sie müssen in der Lage sein, Informationen zu erkennen und sie angemessen zu verarbeiten.

Sieht man die literaturwissenschaftliche Tätigkeit so, dann bleibt vom „grauen Ärmelschoner“ und vom „schön schreibenden Ästheten“ wenig übrig. An deren Stelle treten Wissenschaftsarbeiter, die vielfältig gebildet und einsetzbar sind und die zahlreiche Kompetenzen ausgebildet haben.

Literaturwissenschaftler als Textarbeiter

Literaturwissenschaftler entwickeln sich also mehr und mehr zu einer Art Textarbeiter. Im Kernbereich des Faches finden sich zwar immer noch die bekannten Themen und Gegenstände: in der Germanistik zum Beispiel literarische Texte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Aber an den Rändern und in der beruflichen Praxis, für die sich Literaturwissenschaftler zweifelsohne qualifizieren, sind es weniger diese Gegenstände als die Kompetenzen, die in der Beschäftigung damit eingeübt werden, die von Bedeutung sind. Solche literaturwissenschaftlichen Kompetenzen, die also beinahe nur nebenbei entwickelt werden, sind

sich rasch in neue Themen einzuarbeiten und das Ergebnis dieses Arbeitsprozesses zusammenzufassen und zu präsentieren.

Dafür müssen Literaturwissenschaftler lernen, aus Indizien und Hinweisen angemessene Folgerungen zu ziehen und zu präsentieren.

Dafür müssen sie auch in der Lage sein, Beziehungen zwischen kulturellen Teilsystemen wahrzunehmen (etwa Literatur zu Kulturbetrieb oder Technikkultur) und produktiv zu bearbeiten. Der Zusammenhang zwischen den Medien, die uns zur Verfügung stehen, und den Gewohnheiten, die wir in der Bildung und Unterhaltung annehmen, ist zum Beispiel offensichtlich: Kalender „provozieren“ Kalendergeschichten, Telefone motivieren zum Gespräch, Bücher dazu, sich zurückzuziehen (auch in der Öffentlichkeit).

Konkrete Gegenstände müssen unabhängig davon, ob sie einem nah oder fern, bekannt oder unbekannt sind, abstrakt wahrgenommen werden, um sie beschreiben und verstehen zu können.

Hinzu kommt, dass Literaturwissenschaftler sich intensiv damit beschäftigen, sachlich korrekt, in argumentativen Schritten und insgesamt zusammenhängend zu schreiben.

Das schließt die formale Korrektheit ebenso ein wie den Anspruch, adressatengerecht zu schreiben.

Literaturwissenschaftliche Berufe und Kompetenzen

Literaturwissenschaftler werden bis heute meistens Lehrer. Genauer wäre es aber zu schreiben, dass es viele Lehrer gibt, die ein literaturwissenschaftliches Fach studiert haben. Egal aber ob Studierende in die Wissenschaft, in die Schule, in die Medien oder sonst wohin gehen, um zu arbeiten, Vermittlung wird ein bedeutender Teil ihrer Tätigkeit bleiben. Bereits im Studium werden solche Kompetenzen ausgebildet. Bereits bei der Vorbereitung und Umsetzung von Referaten und Thesenpapieren spielen Überlegungen eine Rolle, wie denn die Ergebnisse der eigenen Arbeit am besten vermittelt werden.

Hinzu kommen Kompetenzen etwa bei der Organisation und Durchführung von Tagungen, bei der Akquisition von Drittmitteln, bei der Strukturierung und Leitung von wissenschaftlichen Einheiten, was zum Beispiel auch Kompetenzen bei der Personalführung einbezieht. Das Ziel der heutigen wissenschaftlichen Karriere ist generell der Wissenschaftsmanager, der unabhängig von seinem fachlichen Profil Wissenschaft organisiert. Lesen und Schreiben allein reicht für eine wissenschaftliche Karriere heute nicht mehr aus. Auch außerhalb der Wissenschaft sind weitere Kompetenzen und Kenntnisse gefragt.

Literaturwissenschaftliche Arbeitstechniken

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