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I. Wissenschaftliches Arbeiten 1. Was ist Literaturwissenschaft?
ОглавлениеGesellschaftliches Zentralmedium Text
Am Anfang steht eine banale Feststellung: Wissenschaftliches Arbeiten besteht in den Literaturwissenschaften in der Regel darin, Texte zu lesen, um daraus wieder Texte zu machen. Ein wissenschaftliches Studium zu absolvieren bedeutet deshalb vor allem, diejenigen Kompetenzen zu erwerben, die es Ihnen ermöglichen, wissenschaftliche Texte zu produzieren. Das klingt profan und nicht besonders bedeutend, ist es aber nicht: Denn ohne Texte ist unsere Gesellschaft nicht denkbar. Texte zu verstehen, einzuordnen und zu produzieren ist zwar auf den ersten Blick nichts Besonderes. Erst ein zweiter Blick macht deutlich, dass der Gegenstand literaturwissenschaftlichen Arbeitens 1. bedeutender Teil unserer persönlichen Lebenswelt ist und 2. die Erkenntnis von Wirklichkeit ermöglicht. Wir greifen auf Realität nicht direkt, sondern vermittelt über Sprache zu. Wenn wir uns anderen vermitteln wollen, brauchen wir Vermittlungsinstrumentarien, also Medien. Und das meistbenutzte und wohl leistungsfähigste Medium ist das Medium Text. Neben Texten gibt es ohne Zweifel noch andere Varianten von Sprache und (allgemein formuliert) Symbolformen: Gegenstände, Bilder, Formeln und Töne. Aber auch sie müssen aufgezeichnet werden und auch sie sind nichts anderes als Vermittlungsinstrumente, die zwischen uns, den anderen und der Realität stehen. Alle diese Medien müssen aufgezeichnet, archiviert, ausgewertet, analysiert und interpretiert werden und sie beschäftigen sich gleichzeitig damit. Das aber ist die Aufgabe der jeweiligen Fachwissenschaft, für die Literatur eben die der Literaturwissenschaft.
Besondere Bearbeitungsform von Realität
Literarische Texte nun sind besondere Bearbeitungsformen von Realität. Ihre wissenschaftliche Analyse legitimiert sich also genau daher: Fragen an literarische Texte sind immer Fragen nach dieser besonderen Verarbeitungsform von Realität.
Erkenntnisinteresse klarstellen
Das geschieht zumeist mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse. Warum ist es interessant zu wissen, woher Brecht seine Anregungen für die Dreigroschenoper bezog? Oder Sie wollen zeigen, dass in Heinrich Manns Roman Der Untertan eine bestimmte Mentalität kritisiert wird, nennen wir sie „Untertanengeist“, die die Entwicklung des obrigkeitshörigen Denkens im Wilhelminischen Deutschland befördert hat. Oder Sie interessiert die Entwicklung des Frauenbildes in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Jedes dieser Themen steht im Zusammenhang mit spezifischen Fragen an die Gesellschaft, an ihre Konstruktion und die Möglichkeiten ihrer Änderung. Erkenntnisinteresse und die Erklärung von Zusammenhängen sind unverzichtbare Bestandteile von Wissenschaft. Deshalb müssen Sie sich am Beginn Ihrer Arbeit damit beschäftigen, herauszuarbeiten, „warum“ Sie sich „womit“ beschäftigen: Gegenstand, Erkenntnisinteresse und deren Ausrichtung stehen also am Beginn.
Nutzen von Wissenschaft
Wissenschaft insgesamt ist Teil eines Prozesses, in dem es – allgemein gesagt – um die Verbesserung unserer Lebensbedingungen geht. Dazu trägt jedes wissenschaftliche Fach bei, auch die Literaturwissenschaft. Der Fortschritt von Wissenschaft und Fächern jedoch ist teilweise nur indirekt diesem generellen Interesse verpflichtet. Jedes Fach beschäftigt sich auch mit Themen und Aufgaben, die nur die wissenschaftlichen Fächer selber interessieren: Sie dienen dazu, sie funktionsfähig zu halten, sie dienen der Selbstvergewisserung, sie stellen die Grundlagen dafür bereit, dass jede Wissenschaft angemessen funktionieren kann.
Funktion der Spezialthemen
Sich über die Spezialthemen einer Wissenschaft lustig zu machen, ist einfach: Sich über Editoren oder Archivrecherchen, in denen zum Teil Jahre intensiver Arbeit stecken, zu amüsieren, ist billig, wenn man sich nicht die Mühe macht, zu prüfen, warum solche Arbeiten wichtig sein können. Die Kluft zudem zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Wissenschaften und unserem Alltagsleben rührt nicht zuletzt daher, dass viele wissenschaftliche Themen für die jeweils andere Seite unwichtig und nicht nachvollziehbar sind. Auch wenn man jede Wissenschaft jederzeit der Prüfung unterziehen muss, was an ihr relevant ist oder nicht, hat jede Wissenschaft grundsätzlich ihren Platz im gesellschaftlichen und kulturellen Gefüge.
Kriterien wissenschaftlicher Arbeit
Sie können sich im Alltag ohne Weiteres für Themen interessieren, wie sie oben genannt worden sind. Sie können sich als Laie um diese Themen intensiv bemühen (das heißt ohne eine wissenschaftliche Ausbildung und ohne den dafür notwendigen Apparat) und Sie können das als Wissenschaftler/in tun. Nur, wo der Laie, der (im positiven Sinne) „Dilettant“ seinen persönlichen Vorlieben und seinen selbst entwickelten und nur für ihn gültigen Denkweisen folgen darf (und dabei oft sehr interessante Ergebnisse erzielt), muss sich der/die Wissenschaftler/in einer genauen Kontrolle unterwerfen und der Selbstkontrolle unterziehen: Wissenschaft beruht auch in den diskursiven Wissenschaften – wie in den exakten (Natur-)Wissenschaften oder den Sozialwissenschaften – auf offen verhandelten Voraussetzungen, nachprüfbaren Quellen, stringenten und konsistenten Argumentationsschritten und schließlich darauf, dass alles das, was wissenschaftlich behauptet wird, auch der Diskussion offensteht. Wissenschaft kann auch behaupten (sie muss es sogar), aber sie muss sich auch damit befassen, diese Behauptungen zu belegen und plausibel zu machen. Dazu dienen wissenschaftliche Regeln, mit anderen Worten: die jeweiligen Methoden.
Wissenschaftliches Arbeiten unterscheidet sich also von anderen Formen der Aneignung von Gegenständen oder Themen durch Regeln, die dazu dienen, ihre Ergebnisse nachvollziehbar, wiederholbar und kontrollierbar zu machen. Das bedeutet für die Naturwissenschaften, soweit sie sich als exakt und empirisch verstehen, etwas anderes als für die Geisteswissenschaften oder die Sozialwissenschaften.
Benennen und Erklären
Wissenschaften ordnen, erklären, modellieren und machen Voraussagen. Ihre Basis-Operationen sind folglich „Klassifikation, Experiment, Modellkonstruktion und die Entwicklung von Theorien oder Aussagesystemen“ (Jensen 1999, S. 914). Das geschieht in einem Umfeld, das sich stetig ändert. Damit ändern sich nicht nur die Gegenstände, auch die Wissenschaftler, ihre Methoden und selbst ihre Fragen ändern sich.
Orientierung geben, handlungsfähig machen
Wissenschaft soll Menschen in einer komplexen und sich schnell verändernden Welt Orientierung geben und sie handlungsfähig machen. Menschen sollen Handlungsmöglichkeiten erkennen, entwickeln und ihr eigenes Handeln kontrollieren können. Damit sich Menschen aber in einer sich rasch ändernden Welt bewegen können, brauchen sie auf den verschiedensten Ebenen oder Handlungsbereichen etwas, was Struktur, Ordnung oder Modell genannt werden kann. Diese Ordnung ist aber nicht den jeweiligen Handlungsbereichen eingeschrieben, sondern wir ordnen Gegenstände nach Kriterien, die wir selbst festlegen. Daraus ergibt sich ein Ordnungswie Wahrnehmungsmodell. Dieses Modell ist nichts anderes als ein Denkmuster, eine Hypothese, wie Sachverhalte oder Phänomene zu erklären sind oder wie sie funktionieren.
Erfolg statt Wahrheit
Das aber heißt, dass Wissenschaft im Grundsatz nicht an der Wahrheit orientiert ist, sondern am Erfolg – nämlich am Erfolg der Erklärung. Hier taucht jedoch kein moralisches Problem auf (das sich etwa im Widerspruch von Erfolg und Wahrheit ausdrücken könnte), sondern ein faktischer Maßstab: Wissenschaftliche Wahrheit muss sich in der Realität erproben lassen, muss erfolgreich sein.
Erfolg ist Akzeptanz ist Plausibilität
So kann es geschehen, dass Erklärungsmodelle eine lange Zeit Bestand haben, anerkannt werden und als wissenschaftlich gelten, dann jedoch von anderen Modellen abgelöst werden und ab dann als überholt und veraltet, mithin als wissenschaftlich falsch gelten. Der Erfolg eines wissenschaftlichen Denkmodells ist so gesehen nicht notwendig daran orientiert, ob es wahr ist, sondern daran, ob es akzeptiert wird. Seine Erklärungsund Lösungsansätze müssen als plausibel und angemessen gelten. Das ist aber im Wesentlichen von gesellschaftlichen und kulturellen Standards abhängig.
Prämissen und Ergebnisse
Die Schwierigkeiten, die dabei entstehen, stammen daher, dass Grundannahmen, Prämissen und Rahmenbedingungen, die zum Teil sogar unausgesprochen sein können, das Verständnis und damit die Kommunikation erschweren. Wissenschaftler/-innen können also je nach Ausgangslage zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Sachlichkeit, Sachgemäßheit, Angemessenheit
Damit wird die Seriosität von Wissenschaft nicht in Frage gestellt. Unser Verständnis von einer angemessenen und seriösen Wissenschaft ist dagegen zeitgebunden und von ihren Kontexten abhängig. Und das bedeutet, dass Wissenschaft immer auch ihre Bedingungen und Prämissen mitreflektieren muss, wenn sie angemessen vorgehen will. Objektiv ist sie nur in dem Sinne, dass, wer sie betreibt, sich um Sachlichkeit, Sachgemäßheit und Angemessenheit bemühen muss.
Wenn auch in allen Wissenschaften grundsätzlich die Ziele, Kriterien und Verfahren ähnlich sind, kann das in jedem Fach zu völlig anderen Konsequenzen führen. Jede Wissenschaft kann nur die Fragen beantworten, die ihren Gegenständen angemessen ist.