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2. Text und Literatur:
Gegenstände der Literaturwissenschaften
ОглавлениеTextwissenschaften
Textwissenschaften sind anders als andere Wissenschaften. Das hat vor allem mit dem Gegenstand zu tun. Texte gehören zwar zweifelsohne zu den beobachtbaren Sachverhalten, aber sie gehören zweifellos zu einer anderen Kategorie von „Gegenständen“ als Strömungsverhältnisse in Luftschichten, als Sporen unter einem Mikroskop oder als das Verhalten von Einzelmenschen in Massenversammlungen. Über deren Beschreibung mag es zwar unterschiedliche Ansätze und Auffassungen geben. Dahinter steckt aber der Wunsch nach einer möglichst präzisen Beschreibung, die nutzbringend eingesetzt werden kann. Literaturwissenschaftler beschäftigen sich vor allem, so Jürgen Schutte, mit der „Literatur als ‚gesellschaftliche[s] Verhältnis‘ und als […] spezifische kommunikative Tätigkeit des Menschen“ (Schutte 1993, S. 3). Auch in den Literaturwissenschaften gibt es den Wunsch nach Modellen, die die Vielfalt der Realität in sich aufheben können. Aber statt von Modellen und Formeln sprechen die Literaturwissenschaftler lieber von Strukturen, Typen oder Mustern. Literaturwissenschaftler verwenden in der Regel Texte. In diesen Texten stellen sie Verbindungen her oder sie präsentieren Erklärungs- und damit Deutungsversuche (also Hypothesen und Denkmuster).
Themen der Literaturwissenschaft
Die Gegenstände der Literaturwissenschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten, also etwa seit 1967 deutlich verändert. Durchgängig bis heute bildet die Auseinandersetzung mit dem literarischen Kanon eine wichtige, wenn nicht die wichtigste thematische Konstante in der Literaturwissenschaft. Gelegentlich wird die Etablierung der Weimarer Klassik, also der Literatur der Autoren um Goethe und Schiller, als eines der wichtigsten Verdienste der frühen Germanistik bezeichnet. Zugleich hat sie sich aber seit den 1960er Jahren in viele nicht minder wichtige Teilbereiche ausdifferenziert. Zu diesen Teilbereichen gehören:
die Kinder- und Jugendliteratur
die Massen- und Trivialliteratur
die Arbeiter- und proletarische Literatur
die Erzähltheorie
die Forschung zur Sach- und Fachliteratur
die literaturhistorische Lexikografie
die Forschung zu einzelnen Epochen und Themen, die nicht auf Autorinnen und Autoren fokussiert ist
Studien zu Autorinnen und Autoren, die vom Kanon nicht berücksichtigt oder mittlerweile wieder vergessen worden sind
die Exilforschung
die Literatur des Dritten Reiches
interdisziplinäre Themen unter Einschluss von Musik, Film oder Theater
kulturwissenschaftliche Themen
Gender und Geschlecht
Performance
sozialhistorische Themen.
Funktion von Texten
Der Gegenstand aller Literaturwissenschaften ist im Zentralbereich des gesellschaftlichen Lebens angesiedelt, denn Text ist das wichtigste Beschreibungs-, Simulations- und Reflexionsmedium der Gesellschaft. Keine Gesellschaft ist denkbar ohne Symbolisierungs- und Simulationsformen, die als Kommunikationsmedien fungieren. Je komplexer die Gesellschaft und entwickelter das technologische, soziale und wirtschaftliche System ist, desto bedeutender werden sie. Schrift und Text übertreffen dabei noch Bild, Musik, Kunst oder mathematische Formeln, weil sie der Wissensspeicherung, dem Nachvollzug von Ereignissen und der Reflexion von Erfahrung dienen und weil die Fähigkeit zu ihrer Rezeption weit verbreitet ist. Lesen und schreiben zu können gehört zu den Grundkompetenzen unserer Kultur. Außerdem sind Texte kommunikations- und handlungsorientiert und auf diese Weise in die Alltagspraxis integriert. Das heißt, dass Texte nicht nur der stillen Lektüre vorbehalten sind, sondern zum einen der Verständigung zwischen Menschen dienen, auch der unter Wissenschaftlern. Zum anderen dienen sie der Anleitung zum Handeln: Von Gebrauchsanleitungen bis zu stark abstrahierten Texten, die für den ungeübten Leser oft unverständlich und extrem selbstbezüglich zu sein scheinen, sollen Texte immer letztlich Handeln in Gesellschaft möglich machen. Das kann direkt und unmittelbar geschehen (Handlungs- und Betriebsanleitungen). Das kann aber auch sehr vermittelt geschehen. Da aber menschliches und das heißt gesellschaftliches Handeln über Medien vermittelt wird, müssen diese Medien (d.h. vor allem Texte) einerseits mit Bedeutung aufgeladen werden und andererseits verstanden, interpretiert werden. Texte sind damit nicht per se handlungsorientiert, sie können sich auch auf die grundsätzlichen Bedingungen menschlichen Handelns beziehen, diese Basis entweder konstruieren oder sie erkennbar machen. Das geschieht durch unterschiedliche Textsorten.
Praxisrelevanz hat Literatur (und damit auch Literaturwissenschaft), weil Literatur Realität in mehrfacher Hinsicht verarbeitet: als Abstraktion, metaphorisch, symbolisch, als Spiegel, als Reflex, als Simulation, als Spiel. Sie funktioniert auch als ihr Gedächtnis.
Literatur und Realität
Die Literatursoziologie hat sich immer aufs Neue am Verhältnis von Literatur und Realität abgearbeitet und dabei immer neue Erklärungsvarianten ausgebildet. Dabei ist als grundsätzliches Ergebnis zum einen festzuhalten, dass der Referenzbereich von Literatur immer Realität ist. Zum anderen aber ist Realität für Menschen nur medial erfassbar. Es mag sich dabei um Medien handeln, die zur körperlichen Ausstattung von Menschen gehören (die Augen zum Beispiel), oder um Medien, die von ihnen selbst als technische Applikationen entwickelt wurden (Fernseher oder Bücher). Spätestens diese Erkenntnis begründet den zweiten Referenzbereich von Literatur, nämlich die Literatur selbst. Texte beziehen sich auf Texte (oder andere Medien), weil nur sie kommunikative Funktionen übernehmen können. Texte beziehen sich aber auch deshalb auf Texte, weil sie einem gemeinsamen Kontinuum angehören, das von spezifischen Regeln und Konstituenten bestimmt wird, nämlich von den Regeln und Elementen der Textproduktion.
Kulturelles Gedächtnis
„Literatur ist, emphatisch gesprochen, eine spezifische Form des kulturellen Gedächtnisses, die intensive Beschäftigung mit Literatur ist gesellschaftliche Erinnerungsarbeit“ (Jeßing, Köhnen 2007, S. IX). Ohne Zweifel sind Gedächtnis und Erinnerung wichtige Aufgaben der Literatur und damit auch der Literaturwissenschaft. Nicht zuletzt die Besonderheiten der deutschen Geschichte verweisen uns ganz energisch darauf, dass eine Bewältigung der Gegenwart ohne Kenntnis ihrer Entstehung nicht möglich ist. Aber die Aufgaben von Literaturwissenschaft gehen darüber hinaus. Daraus lassen sich aber bereits weit reichende Konsequenzen ziehen: Denn auch die Beschäftigung mit den historischen literarischen Beständen ist eben auch eine Beschäftigung mit den Reflexions- und Simulationsweisen, wie sie in diesen Texten aufgehoben sind. Auf diese Weise lässt sich erkennen, wie andere Menschen in anderen Situationen gedacht und gehandelt haben oder ggf. gehandelt hätten. Die Beschäftigung mit dem Archiv Literatur erhellt damit nicht nur vergangene Verhältnisse, ihre Vorformen oder die Genese der gegenwärtigen, sondern eben auch die Wahrnehmung von Differenz und Alterität: Jeder gesellschaftliche Zustand, jedes Problem und jede Lösung wird wahrnehmbar und prüfbar, auch prüfbar darauf hin, wie sie mit der eigenen Gegenwart zusammenhängen oder welche Alternativen zur Gegenwart sie denkbar machen. Das hat politisch und ideologisch positive wie negative Seiten. Qualität hat diese Herangehensweise in jedem Fall.
Literatur als Simulationsmedium
Das heißt: Literatur ist zwar ein „Sonderfall der Kommunikation“, aber dieser Sonderfall hat mehr Aufgaben als nur Erinnerungsarbeit zu leisten oder Gedächtnis zu sein: Zu diesen Aufgaben gehören Unterhaltung und Zeitvertreib ebenso wie die Anleitung zum selbständigen Denken, die Kritik vergangener und heutiger, ja auch die Vorwegnahme künftiger Entwicklungen und die Diskussion von drängenden Problemen: also Simulation, Reflexion und Diskussion.
Enger und weiter Literaturbegriff
Bisher ist der Begriff „Literatur“ verwendet worden, ohne ihn genau zu bestimmen. Dass er vom Begriff „Text“ abzugrenzen ist, dürfte klar geworden sein. „Literatur“ meint vor allem Belletristik, also schöne Literatur. Das aber ist nur ein „enger“ Begriff von Literatur, der von der Praxis in den Literaturwissenschaften und in der Literaturproduktion der Autoren längst überholt ist. An die Stelle des engen ist ein weiter Literaturbegriff getreten, mit dem alle Texte in den Fokus der Literaturwissenschaften rücken, die über einen eingeschränkten praxisorientierten Charakter hinausgehen. Alles was nicht Fach-, Sach- oder Gebrauchstext ist, ist Literatur.
Gattungen
Damit umfasst der Literaturbegriff deutlich mehr als nur die drei Kerngattungen Lyrik, Dramatik und (erzählende) Prosa, die im 18. Jahrhundert durchgesetzt wurden. Selbstverständlich gehören heute Autobiografien, Reiseberichte, Reportagen, Briefe, Essays, Features, Filmskripte, Hörspiele, Flugblätter, Text-Bild-Montagen, transmediale Formen insgesamt und vieles andere mehr zur Literatur oder sagen wir besser zum Gegenstandsbereich, der von Literaturwissenschaftlern untersucht und behandelt wird. Text ist in Abgrenzung dazu jede schriftliche oder schriftlich fixierte (als Buchstabenfolgen) Form der Kommunikation.