Читать книгу Eisvogel - Walter Klipfel - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеAls Julia und Mike vom Betrieb nach Hause fuhren, versuchte er sie mit einem belanglosen Gespräch von den Geschehnissen im Büro abzulenken, er wollte über den Zwischenfall mit Holger nicht mehr reden. Diese erlebten Augenblicke liefen permanent wie ein Endlosfilm vor Julias Augen ab. Sie ignorierte Mikes Gesprächsversuch vollkommen und sah immer wieder die Bilder vor sich, als Holger ihren Mann am Schlips über den Schreibtisch zog und ihn anschließend wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, sodass er hinter dem Tisch zu Boden ging. Auf einmal kamen ihr wieder die Aussagen von Frau Fröhlich in den Sinn, Mike wolle alle Vorbestellungen stornieren und zukünftig alleine alles organisieren. Gleichzeitig dachte sie an die Äußerungen und Gesichtsausdrücke ihres Vaters, als Mike seine ersten zwei Wochen im Betrieb war.
Damals nahm ihr Vater sie zur Seite und sagte: "Mein Mädchen, ich will dir nicht wehtun, dein Mike mag ja ein guter Mann für dich sein, aber … " Dann machte er eine lange Pause. Ihr fragender Blick und die Bitte ihr doch zu sagen wie er das meine, veranlassten ihn schließlich weiterzusprechen. "Wenn ich ehrlich sein will, muss ich dir leider sagen, dass dein Mike von nichts eine Ahnung hat, aber davon eine ganze Menge. Wenn er nur halb so schlau wäre, wie er sich einbildet, könnten wir ihn vielleicht gebrauchen."
Sie glaubte damals, ihr Vater hätte dies mehr zum Spaß gesagt. Seinen Gesichtsausdruck im Krankenhaus, als sie ihm sagte, Mike hätte während seiner Abwesenheit die Geschäftsleitung übernommen, konnte sie erst jetzt richtig deuten, als es ihr wieder in den Sinn kam. Sie war der Meinung er hätte sich darüber gefreut und würde bald wieder gesund werden, dabei bereitete sie ihm mit dieser Aussage nur noch mehr Sorgen. Sie hatte Holger daran gehindert ihren Vater zu besuchen, in dem Glauben, Mike würde alles richtigmachen, Holger hingegen würde seiner Genesung nur schaden. Ihr wurde immer bewusster, wie sehr sie sich getäuscht und deshalb falsch gehandelt hatte.
Sie wusste seit Jahren, dass Holger und ihr Vater selten unterschiedlicher Meinung waren. Wenn dies dann aber doch der Fall war, wurde in sachlicher Form und zum Wohle der Firma, wie es ihr Vater nannte, das Problem geklärt. Holger vertrat dabei die technische und organisatorische Seite, ihr Vater die wirtschaftliche und steuerliche. Die Größe des Betriebes verlangte bereits seit längerer Zeit die Verteilung der Aufgaben auch auf der höchsten Führungsebene. Ein Einzelner wäre mit diesen Aufgaben völlig überfordert. Diese Aussagen ihres Vaters aus früheren Gesprächen, kamen Julia jetzt wieder in den Sinn. Dank dieser guten Zusammenarbeit mit Holger war der Betrieb in den letzten Jahren optimal gewachsen und stand auf gesunden Beinen. Eigentlich müsste Holger momentan den Betrieb führen, er kannte mittlerweile nur zu gut die Vorgaben und Bedenken ihres Vaters. Mike hingegen hatte weder einen gelernten Beruf, der ihm Einblick in die praktische Seite gab, noch hatte er ein Studium, welches ihm von der wirtschaftlichen Basis her erlaubt, Holger so einzuschränken. Sie selbst hatte zwar auch keine Ahnung von Betriebsführung, aber ihr Verstand sagte ihr, sie musste Mike überzeugend klarmachen, das Holger in diesem Fall für den Betrieb der bessere Mann sei. Es gab keine andere Möglichkeit. Mike musste sich künftig aus allen wichtigen Entscheidungen heraushalten.
Für sie war alles klar und einleuchtend, aber egal wie verständlich es war oder nicht: Mike müsste es akzeptieren. Ausgerechnet sie, die selbst keine Ahnung hatte, sollte jetzt über Wohl oder Wehe des Betriebes ihres Vaters entscheiden. In diesem Augenblick fühlte sie sich klein, schwach, hilflos und sehnte sich nach einer starken Schulter, an die sie sich anlehnen könnte, jemand der ihr beistand. Das konnte sie bei Mike noch nie. Der kochte schon so lange sie ihn kannte seine eigene Suppe, ohne Rücksicht auf andere. Nicht einmal bei ihr machte er dabei eine Ausnahme. Alles was sich ihm in den Weg stellte, wurde beiseitegeschoben. Eigentlich war das schon immer so. Mike sagte, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen — sie funktionierte so, wie er es gerne hatte, ja selbst die Hochzeit mitsamt der Planung kam von ihm. Das Herz fing an ihr bis in den Kopf zu pochen; sie hatte mittlerweile eine Stinkwut, aber mehr auf sich selbst, weil sie so naiv durchs Leben stolziert war und ihre Augen vor der Wirklichkeit verschlossen hatte.
Die ganze Heimfahrt über war sie in Gedanken versunken, erst als sie den Wagen in die Einfahrt lenkte, konzentrierte sie sich wieder auf ihr Auto.
Gerade beendete Mike sein Selbstgespräch und streichelte sie vom Knie Richtung Oberschenkel und sagte: "Heute ist ein guter Tag für die Liebe, lass uns reingehen."
In diesem Augenblick fühlte sich Julia, als wollte er sie vergewaltigen. "Komm stell dich nicht so an, sonst hast du auch noch nie Nein gesagt." Dabei legte sich ein breites Grinsen über seine Lippen und er drückte fast schon schmerzhaft die Innenseite ihres rechten Schenkels.
In Julia stiegen Wut und Frust gleichermaßen hoch. Sie machte vor dem Portal des Treppenaufganges eine Vollbremsung, ließ das Lenkrad los und im selben Moment knallte ihre Hand mitten in Mikes Gesicht. Sie beugte sich über ihn, riss die Beifahrertür auf und fauchte: "Raus, aber schnell."
Der Schlag ins Gesicht zeigte bei Mike Wirkung. Weniger der Schmerz, als vielmehr der laute Tonfall, mit dem ihn seine Frau aus dem Auto warf, verwirrte ihn. Das Schließen der Tür erfolgte automatisch, nachdem Julia gleich mit durchdrehenden Rädern die Einfahrt verließ. Der Kiesbelag flog Mike um die Ohren, als Julia schon, ohne den Blinker zu setzen, auf die Straße abbog. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Mike das Gefühl nicht Herr der Situation zu sein. Er konnte sich das Handeln seiner Frau nicht erklären, aber er ging davon aus, dies könne nur eine Kurzschlusshandlung sein. Spätestens in einer halben Stunde würde sie reumütig zurückkommen und um Vergebung betteln. Deshalb ging er unbesorgt ins Haus und machte sich keine weiteren Gedanken.
Julias Herz klopfte wie verrückt, als sie mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt auf die Straße bog. Hatte sie sich so in Mike getäuscht? Jetzt musste sie erst einmal alleine sein. Nein, alleine war auch nichts, sie brauchte jemanden mit dem sie reden konnte. Von diesen Menschen gab es jedoch reichlich wenige. Ihr Vater wäre normalerweise derjenige, dem sie sich anvertrauen würde. Er könnte ihr weiterhelfen und danach ginge es ihr bestimmt besser. Leider war das momentan nicht möglich. Nummer zwei war Holger, aber nachdem was sich vorhin abgespielt hatte und weil er jetzt zu Hause bei seiner Frau war, die nicht allzu gut auf sie zu sprechen war, fiel auch diese Möglichkeit aus. Ihre Mutter … ja das wäre die Lösung, aber es war mittlerweile fast dunkel und bei Dunkelheit traute sie sich nicht mehr auf den Friedhof.
Julia war sechs Jahre alt gewesen, als ihre Mutter an Leukämie erkrankte und bald nach ihrem zehnten Geburtstag verlor sie den Kampf gegen diese heimtückische Krankheit und verstarb. Immer wenn sie ein Problem hatte, bei dem ihr niemand helfen konnte, besuchte sie das Grab ihrer Mutter und meist gab es wie von selbst plötzlich für alles eine Lösung.
Nun gingen ihr die Alternativen aus. Sollte sie zurück zu ihrem Mann? Nein, noch nicht. Sie wusste, sie musste mit ihm reden, aber von heute an nach ihren Regeln und nicht mehr nach seinen. Lieber würde sie jetzt alleine eine Nacht im Hotel verbringen, als zu ihm zurückzugehen.
Während sie verzweifelt nach Lösungen rang, fuhr sie kreuz und quer durch die Stadt, bis sie eine rote Ampel überfuhr. Nur durch die Geistesgegenwart und das reaktionsschnelle Handeln der andern Verkehrsteilnehmer wurde im letzten Augenblick ein schwerer Unfall vermieden. Mitten auf der Kreuzung stehend, holte sie ein lautes Hupkonzert in die Wirklichkeit zurück. Dieser Schreck zeigte Wirkung, denn plötzlich sah sie alles klar: Wieso sollte sie im Hotel schlafen und Mike würde zu Hause einen auf gemütlich machen? Nein, das würde sie ihm gründlich verderben. Sie würde jetzt nach Hause fahren und ihm sagen, was sie von ihm hielt. Entweder er versprach sich zu ändern, oder sie würde ihn rauswerfen, ganz einfach! Sie machte eine Hundertachtziggraddrehung auf der belebten Straße, noch dazu im zweiten Gang, trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste nach Hause.
Nur im Wohnzimmer brannte noch Licht, als Julia eintrat. Mike saß mit einem triumphierenden Grinsen und einem Glas Kognak auf der Couch. Seine Aufforderung, sich bei ihm für das ihm Angetane zu entschuldigen, schluckte sie einfach hinunter.
Dann setzte sie sich ihm gegenüber und sah in an: "Hör zu, ich will jetzt sofort wissen, was zwischen dir und Holger abgelaufen ist."
"Seit wann interessierst du dich für Sachen, die dich nichts angehen und von denen du absolut keine Ahnung hast?", kam es zurück.
"Wer von uns beiden in dieser Sache mehr Ahnung hat wird sich noch zeigen. Du wirst mir jetzt sofort sagen, was Stand der Dinge ist!", drängte Julia nach.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht, mein Schätzchen. Solange dein Vater nicht hier ist, bestimme ich, und wenn dein Alter zurückkommt, wird er bald wieder dort sein wo er jetzt ist — oder weiter, okay?"
Nach diesem Satz blieb Julia fast die Sprache weg. Eine Gänsehaut zog sich über ihren Körper. Mit so viel Dreistigkeit hatte sie nicht gerechnet.
Sie sprang auf und trat mit festen Schritten auf ihn zu: "Du sagst hier im Betrieb nichts mehr. Ab sofort werde ich das Kommando übernehmen und du wirst morgen deine Sachen packen und verschwinden!"
Immer noch grinste er sie an. "Ich glaube du hast vergessen, dass wir verheiratet sind und nur der Tod uns trennt. Alles was dir gehört ist auch mein." Dabei stand Mike auf, stellte sein Glas zur Seite und wollte Julia in die Arme nehmen.
Doch sie trat, von einem unguten Gefühl beschlichen, erschrocken zurück. Nach kurzer Zeit hatte sie sich gesammelt und sah ihm in die Augen. "Du hast zwei Möglichkeiten. Nummer eins: du kannst weiterhin ins Geschäft, aber alle Entscheidungen treffen wir beide gemeinsam. In drei Wochen, wenn Herr Frey wieder aus dem Urlaub zurück ist, wird dieser ebenfalls mit einbezogen … oder du packst sofort deine Sachen und bist morgen früh verschwunden. Jetzt kannst du dich entscheiden." Nun war ihr wohler, obwohl sie ein seltsam unbehagliches Gefühl hatte.
Mike verkürzte die Distanz zwischen ihnen wieder. "Okay, mein Schatz, dann treffen wir in Zukunft gemeinsam die Entscheidungen und ich freue mich schon jetzt auf deinen Herr Frey, ja? Okay."
Sie hatte zwar auf diese Antwort gehofft, aber nun hatte sie das nächste Problem: Während seiner Antwort hatte er sie in den Arm genommen und zog sie Richtung Treppe.
"Lass uns aufhören zu reden und ins Bett gehen, reden können wir Morgen wieder."
"Nein!" Julia befreite sich aus seinen Armen. "Ich werde nicht mit dir schlafen. Du wirst heute Nacht erst einmal das Gästezimmer benutzen und morgen sehen wir weiter." Danach rannte sie die Treppe hoch und schloss sich im Schlafzimmer ein.
Mike goss sich noch einen weiteren Kognak nach und machte es sich auf der Couch bequem, wo er bald darauf einschlief.
Julia indes bekam kein Auge zu. Immer wieder kamen ihr Situationen in den Sinn, die Mike in diesem völlig anderen Bild erscheinen ließen, als jenes, das sie noch heute früh von ihm hatte. Allmählich wusste sie die Anspielungen und spitzen Äußerungen zu Mike von ehemaligen Freunden und Bekannten und im Betrieb richtig zu deuten. Wie hatte sie sich so blenden und täuschen lassen können?, fragte sie sich immer wieder. Plötzlich kam sie sich erwachsen vor und reich an Lebenserfahrung, was in ihr den Entschluss reifen ließ, in den nächsten Tagen alles klarzustellen und mit Holger Kontakt aufzunehmen.