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Willem

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Am Samstagmorgen muss Willem kehren. Dabei kann er kaum noch gehen. Er wackelt hin und her, humpelt den Hof auf und ab, hält sich am Besen fest. Leo, der Student, der im Erdgeschoss wohnt, kann den Willem so wunderbar nachäffen. Der Hof ist groß, und Willem hat viel Arbeit. Willem macht gern eine Pause. Er verdrückt sich in einen stillen Winkel, fingert einen Zigarettenstummel aus seiner Tasche, steckt ihn an, zieht gierig und schnell.

Am Samstagmorgen im Hinterhof. Die dicke, rote Katze, die sich auf dem Schuppendach in der Oktobersonne wälzt. Leo, der auf seinen Auftritt wartet, hinter der Gardine. Willem mit dem Zigarettenstummel, der darauf spannt, dass Pauline, seine Frau, ihn antreibt.

„Willem, du fauler Bock, schaff weiter!“

Willem winkt ab.

„Ich mach dir Beine!“

Willem brummelt was vor sich hin.

„Muss ich runterkommen, du fauler Bock?“

Willem kehrt weiter. Die Katze gähnt. Leo hinter der Gardine ruft: „Paulina, Paulina.“

Pauline knallt wütend das Fenster zu. Und Willem zwinkert Leo verstohlen zu. Leo winkt dem Alten.

Eingefallene Wangen, stoppliges Kinn, zahnloser Mund, strähnige, grau-gelbe Haare, ängstliche, kleine Augen in viel zu großen Augenhöhlen, ein schäbiges, verwaschenes Hemd, lange, an den Knien ausgebeulte Unterhosen, die vorne am Pissschlitz einen braunen Fleck hatten, der an Intensität abnahm, je weiter die Entfernung vom Zentrum war. So stand Willem vor einigen Monaten an der Haustür, als Leo einzog und der Makler die Schlüssel für die Wohnung im Erdgeschoss verlangte. Der Alte schlurfte nach oben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zurückkam.

„Beim alten Willem funktioniert der Schließmuskel nicht mehr. Dauerpisser.“

Der Makler zuckte mit der Schulter.

Willem humpelt aufgeregt zum Fenster. Leo hält ihm ein Glas Schnaps hin. Willem schaut Leo dankbar an und trinkt in einem Zug aus.

„Noch einen?“

Willem nickt eifrig.

„Auch eine Zigarette?“

Willems Augen leuchten. Eine Zigarette, eine ganze Zigarette. Willem verschwindet mit der Zigarette ins hintere Treppenhaus.

„Willem, du fauler Bock, schaff weiter!“

Willem steckt die Zigarette an.

„Elendiger, fauler Bock!“

Willem zieht vorsichtig an der Zigarette.

„Na warte!“

Willem zieht genüsslich an der Zigarette.

„Ja, ja, die hält ihn kurz, den armen Willem. Nur wenn sie ihren Besuch erwartet, kriegt der Willem eine Flasche Bier mit zwei, drei Schlaftabletten drin, damit er nicht stört. Vor zwei Jahren hätte sie ihn beinahe losgekriegt. Da wurde der Willem nach Wiesloch ins Irrenhaus eingeliefert. Aber nach vier Wochen war er wieder da.“

Herr Schmidt kennt sich hier aus. Herr Schmidt ist Rentner. Seit 43 Jahren wohnt er mit seiner Frau im Hinterhaus, im ersten Stock.

„Ich mach dir Beine!“

Das Fenster knallt mit einem Scheppern zu. Pauline stürzt aus dem Haus. Die weißen Haare zu Löckchen aufgedreht. Die Wangen zartrosa gepudert. Die Lippen dick und knallrot angemalt. Pauline reißt Willem die Zigarette aus dem Mund, zerdrückt sie, wirft sie auf den Boden, trampelt darauf herum. Mit dem Besenstiel prügelt sie auf Willem ein.

Letzte Woche das Foto in der Zeitung auf der Lokalseite. Paulines Blick steng und unnahbar. Willem, gründlich rasiert, an seine Frau gelehnt, das Gesicht zu einem Lächeln verzogen.

„Jubiläumstag für Pauline und Wilhelm K. ... Goldene Hochzeit in der Schröderstraße ... leben seit 50 Jahren glücklich zusammen ... Freude und Leid auch in schwerer Zeit gemeinsam getragen.“

„Da, da und noch eine. Ist das genug, du alter Bock?“

Willem hält seine Arme schützend vor den Kopf und stößt unverständliche Laute aus.

„Ja, ja, der hat es nicht leicht, der arme Willem. Den hätten sie früher mal erleben sollen. Wie der damals im Hof rumstolziert ist. Spiegelblanke Stiefel, schwarze Uniform, das Koppelschloss mit dem Totenkopf am Gürtel, im Mund eine Zigarre. So marschierte der im Hof auf und ab. Auf und ab. Jeden Tag. Und das ganze Haus zitterte vor ihm.“

Herr Schmidt wohnt schon lange hier.

Leo steht immer noch hinter der Gardine.

„Paulina. Paulina.“

Pauline lässt den Besen fallen. Wie eine Furie stürzt sie aus dem Treppenhaus. Vor Leos Fenster bleibt sie stehen. Sie droht mit der Faust, die Lippen zu einem Strich zusammengekniffen. Hinter Pauline fällt die Tür krachend ins Schloss. Die Katze streckt sich auf dem Schuppendach, schärft ihre Krallen an der Dachpappe, macht einen Riesenbuckel, sträubt die Haare und rollt sich zusammen. Willem hebt vorsichtig den Kopf. Auf den Knien sucht er die Reste der wertvollen Zigarette zusammen und verstaut sie in der Jackentasche. Mühsam rappelt er sich hoch, hebt den Besen auf und murmelt: „Paulina, Paulina“, lacht und kehrt, auf und ab. Pauline öffnet das Fenster, sieht Willem kehren und zischt: „Na also!“

Wenn erst Gras wächst

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