Читать книгу Wenn erst Gras wächst - Walter Landin - Страница 9

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Anhaltender Beifall. Dann feierliche, getragene Musik, die das Klatschen überlagert, dann die fordernde Stimme des Sprechers: „Dr. Goebbels sagte in seiner Rede unter anderem: Die Leiden, die euch durch den feindlichen Luftkrieg aufgezwungen werden, sind quälend und peinigend. Über die Belastungen des Tages hinaus dürfen wir in keinem Augenblick dieses gigantischen Kampfes vergessen, dass es um Sein oder Nichtsein unseres Volkes und damit jedes einzelnen Deutschen geht.“

Lang anhaltender Beifall, eindringliche Musik und wieder die Stimme.

„Und ihr sollt wissen, dass die Führung Tag und Nacht arbeitet, dass in Deutschland ungezählte Konstrukteure, Ingenieure und Arbeiter am Werke sind, um die Waffen des Gegenschlages zu schmieden. Eines Tages werden wir Vergeltung üben. Und wenn wir zuschlagen, wird der Hieb furchtbar sein.“

Donnernder Beifall übertönt die Stimme, die Musik steigert sich, wird schrill, erreicht ihren kreischenden Höhepunkt und endet mit einem Trommelwirbel.

Hinter der Turnhalle, im Garten, der zur Gendarmerie gehört, geht der Flieger des abgeschossenen Flugzeugs nieder. Er bleibt mit dem Fallschirm im Apfelbaum hängen. Das Bein tut weh und die Schulter. Ganz in der Nähe schlägt eine Bombe ein. So hat er einen Fliegerangriff noch nicht erlebt. Es wird ruhig. Gespenstig ruhig. Nur der Feuerschein ringsum. Im Haus da vorne geht die Tür auf. Zwei Gestalten. Verdammter Fallschirm. Er zittert. Er hat Angst. Vorhin im Flugzeug hatte er keine Angst. Da hat er noch nie Angst gehabt. Die Gestalten kommen näher. Er hört ihr Flüstern, versteht die Worte nicht. Jetzt sind sie nur wenige Meter entfernt.

„Das ist zu gefährlich“, sagt die eine Gestalt.

„Und wenn er verletzt ist, Marie?“

Marie, das ist die Frau des Dorfpolizisten. Die andere Gestalt ist Franziskas Patentante. Ihr Name fällt mir nicht ein. Für uns war sie immer die Getsche.

„Lass uns die Flak anrufen, die sollen ihn abholen.“

„Ja, ja, aber erst müssen wir ihm helfen.“

Jetzt stehen sie vor ihm. Er sieht, dass es zwei Frauen sind. Er hängt im Baum, kommt nicht los.

„Schnell, Marie, hol ein Messer.“

„Und du?“

„Mach schon!“

Sie schneiden den Fallschirm ab, er fällt auf den hart gefrorenen Gartenboden, bleibt liegen.

„Pack mit an.“

Sie ziehen ihn hoch, wie leicht er ist. Sie legen sich seine Arme über die Schultern, er versucht zu gehen, das linke Bein zieht er nach. Drinnen im Haus setzen sie ihn auf das Küchensofa. Er blutet am Bein und an der Schulter.

„Wie jung er ist. Er ist hoffentlich nur leicht verletzt.“

Die Getsche verbindet die Wunden.

„Ich hab die Flak angerufen“, sagt die Frau des Polizisten. „Die holen ihn gleich ab.“

„Was passiert mit ihm?“

„Der kommt in Gefangenschaft.“

Der Verband ist fertig. Die Angst und das Zittern sind weg. Sie sitzen zu dritt in der Küche, Marie, die Frau des Polizisten, die den englischen Flieger misstrauisch anschaut, der englische Flieger, der ruhig und gefasst dasitzt, und die Getsche, die an ihren Sohn denkt, der irgendwo im Westen liegt. Sie haben lange so regungslos in der Küche gesessen, als es an der Haustür klopft.

„Endlich, die Flak“, sagt Marie und macht auf.

Es ist nicht die Flak.

„Heil Hitler, wo ist der Kerl?“

Kocher!

„Ah, da sitzt er ja, seht euch das Häufchen Elend an.“

Der englische Flieger sieht Kocher, sieht seine Augen. Da ist wieder die Angst, wie vorhin, draußen im Garten.

„Ich nehme ihn mit.“

„Aber die Flak holt ihn ab“, sagt Franziskas Tante. „Wir haben angerufen.“

„Ich nehme ihn mit und bringe ihn zur Flak.“

„Lass doch, wenn er ihn mitnimmt. Sei doch froh.“

Kocher zieht seine Pistole, richtet sie auf den Flieger,

„Aufstehen, los, los, mach schon.“

Er stößt dem Flieger den Lauf der Pistole in den Rücken.

„Los, Kerl, Tempo, Tempo.“

Draußen ist es ruhig. An vielen Stellen wird die Dunkelheit von brennenden Häusern erhellt. Sie gehen auf der Friedhofstraße, vorbei an der Turnhalle. Die unzähligen Übungsstunden dort, Konditionstraining, Gymnastik, Bodenturnen, Reck, Pferdsprung und Barren. Barren. Blutergüsse am Oberarm.

Im Ersten Weltkrieg waren in der Turnhalle Kriegsgefangene untergebracht. In den fünfziger Jahren und Anfang der Sechziger war in der Turnhalle ein Kino. Als „Die Sünderin” lief mit der Knef, wo die nackt im Garten liegt, hat Pfarrer Leer von der Kanzel runtergedonnert: „Kein Katholik geht mir in den Teufelsfilm.“

„Und keiner ging“, sagt meine Mutter stolz. Und konnte die Knef nicht ausstehen. Ich will wissen, wie Pfarrer Leer zu den Nazis stand.

„Der war nicht für sie und nicht gegen sie.“

Vorbei an der Turnhalle, die ein Kriegsgefangenenlager war, eine Turnhalle, ein Kino, wieder eine Turnhalle und heute eine Schreinerei. Fuzzy-Filme waren der große Renner. Fuzzy, immer betrunken, immer eine auf die Schnauze und am Ende immer lachender Sieger auf der Seite von Recht und Ordnung. Wir bezahlten für die erste Reihe, und wenn Wochenschau, Werbung und der ganze Schmu vorbei waren, schlichen wir uns nach hinten auf den Sperrsitz oder in die Loge. Und flogen mehr als einmal raus. Einmal blieb ich vorne sitzen. Das war mit meinem Vater.

„Das Geld für den Sperrsitz können wir sparen.“

Im Vorfilm stießen zwei Dampflokomotiven frontal zusammen. Der Hauptfilm hieß „Die Brücke”.

„Das ist ein Film gegen den Krieg, den schauen wir uns zusammen an“, hatte Vater gesagt.

Ich muss endlich vorbei an dieser Turnhalle oder diesem Kino, was immer es war. Kocher biegt mit dem Flieger, dem er die Hände auf den Rücken gebunden hat, am Ende der Friedhofsstraße nach rechts ab. Dieser Weg führte zur Dorfwaage. Heute gibt es die Waage nicht mehr, die ganze Ecke ist neu bebaut. Damals war auf der rechten Seite ein Weinberg bis hin zum Friedhof, links stand der alte Bahnhof. Vor dem Zweiten Weltkrieg verkehrte eine Bummelbahn zwischen dem Dorf und der Stadt. Eine Fahrt nach Frankenthal kostete dreißig Pfennige. 1939 wurde die Strecke stillgelegt. Als sie sich der Waage nähern, verlangsamt Kocher den Schritt. Für einen Moment spürt der englische Gefangene nicht den Lauf der Pistole im Rücken.

„Langsam, Kerl, zischt Kocher.“

Der Flieger begreift den Sinn, obwohl er die Worte nicht verstanden hat. Das Bahnhofsgelände steht immer noch, bis in die Siebziger war ein Textilhandel darin untergebracht, heute wohnen Asylbewerber in dem Gebäude. Auf der Dorfwaage wurden die Rübenfuhrwerke gewogen, die Schweine, deren Gewicht, dann von der Ration der Lebensmittelkarte abgezogen wurde. Auf dieser Waage stand mein Bruder, hielt sich sein blutendes, rechtes Auge, war es das rechte? Ich lag mit meinem Cousin hinter einem Schotterhaufen. Wir führten eine erbitterte Steinschlacht gegen die zwei Jungen, deren Eltern den Textilhandel im alten Bahnhof betrieben. Jürgen, damals vielleicht acht, stopfte sich die Taschen voller Stein, stürmte los, auf die feindliche Stellung zu, wir gaben Deckungsfeuer, wie wir es nannten, warfen, was das Zeug hielt. Ich bewunderte meinen Bruder. Obwohl ich vier Jahre älter war, wäre ich nie losgerannt. Ich wagte es kaum, mich beim Werfen aufzurichten, um genauer zielen zu können. Jürgen war schon wieder auf dem Rückzug, jetzt war er genau auf der Waage, ich warf blind hinter dem Steinhaufen hervor. Jürgen schrie, es flogen keine Steine mehr, ich richtete mich auf, sah sein blutverschmiertes Gesicht. Ich hatte ihn einen Zentimeter unterhalb seines Auges getroffen. Das ist auch so eine Geschichte.

Kocher bleibt auf der Waage stehen, der englische Flieger, der ganz jung war, bleibt ebenso ruckartig stehen.

„Jetzt reden wir mal deutsch.“

Was das heißt, wissen wir. Der Druck im Rücken lässt nach. Der englische Flieger spürt den Gewehrlauf im Nacken. Das Bild verschwimmt vor meinen Augen. Aus dem englischen Flieger wird eine russische Mutter, die ihr Kind an sich drückt. Kocher ist ein namenloser Soldat, der, das Gewehr im Anschlag, breitbeinig dasteht. Niemand wird etwas gesehen, etwas gehört haben.

„Zwischen halb zwölf und Mitternacht“, wird der Dolmetscher im Prozess übersetzen. Übereinstimmendes Kopfschütteln.

Es ist halb vier, als Kocher nach Hause kommt. Seine Frau liegt wach im Bett. Er ist noch durch das Dorf gegangen. Die Brände sind alle unter Kontrolle.

„Der Führer wird es denen heimzahlen.“

„Endsieg.“

Dieses Wort gebraucht Kocher oft in dieser Nacht. Er setzt sich auf die Bettkante, erzählt die Sache mit dem Flieger. Als er das Erschrecken seiner Frau sieht, redet er von Gegenschlag, Vergeltung, kramt wieder dieses Wort hervor, Endsieg, für Führer, Volk und Vaterland. Sie lässt sich beruhigen, ja, es kommt sogar so etwas wie Stolz bei ihr auf.

Wenn erst Gras wächst

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