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Wenn erst Gras wächst

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In meinem Kopf sind viele Mosaiksteine. Aber ich weiß nicht, wie das Bild aussieht, weiß nicht, wo und wie ich anfangen soll. Seit Tagen denke ich über den Anfang nach, schreibe Notizzettel voll, lege sie sorgfältig in die Ablage. Damals, als die Christbäume am Himmel standen. Das hört sich abgegriffen an. Damals, als Großmutter sagte: damals, als die Bombe einschlug. Damals, als Anton Kocher Feldschütz im Dorf war und Ortsgruppenleiter. Damals, als der junge englische Flieger abgeschossen wurde. Ich schreibe jung. Das ist eine Behauptung. Alle, die ihn in dieser Nacht gesehen haben, sind tot. Die Frau des Polizisten, dann die Getsche, Franziskas Patentante, und Anton Kocher, der ihn mit vorgehaltener Pistole abholte. Niemand, den ich fragen könnte. Der junge Flieger, ich bleibe dabei. Jung passt in mein Konzept, vor allem für das, was später kommt. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Ich habe die Straße so nie gesehen, aber vorstellen kann ich es mir. Ein einziges Schlammfeld im Herbst, erzählte Urgroßmutter. Und wenn der Winter zu Ende ging. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Das ist mein Anfang.

Damals im Winter 1944. Es ist Anfang Dezember und ein Sonntag. Sicher ist es kalt. Der Morast, durch den vor wenigen Wochen abgemagerte Pferde die Fuhrwerke, mit Rüben beladen, zur Dorfwaage zogen, dieser Morast ist festgefroren. Wenn Franziska morgens zum Bus geht, stampft sie mit ihren Stiefelabsätzen auf die kleinen Eisseen. Das knistert. Es ist Abend. Franziska steht im Hof. Es ist klar, die Sterne funkeln. Franziskas Gesicht ist rot. Die gute Stube drinnen ist reichlich geheizt. Ihr Vater hat gestern einen Handwagen voll mit Holzresten von der Arbeit gebracht. Jetzt wird dem Winter eingeheizt. Die Kälte draußen tut Franziska gut. Am Sonntagabend gibt es immer warmes Essen. Ihr Vater war nicht dabei. Er hat Nachtschicht, Schrankenwärter.

„Hoffentlich kommen sie heute nicht“, meinte Franziskas Mutter, „so kurz vor Weihnachten“, als der Vater aufs Fahrrad stieg.

„Eisenbahner fahren mit dem Rad zum Dienst“, sagte Franziskas Vater immer und fuhr die 15 Kilometer nach Oggersheim mit dem Rad. Bei jedem Wetter. Die Großeltern, Franziska und ihre Mutter, die zwei kleinen Brüder, Onkel Karl, Vaters Bruder, jeder bekam ein Stück Fleisch. Fleisch gibt es nicht oft in diesem Winter 1944. Franziska legt den Kopf zurück und betrachtet die Sterne.

Vor vier Wochen haben sie geschlachtet. Franziska schaut immer zu. Ich durfte nicht zusehen.

„Bringt den Jungen weg. Das ist nichts für ihn.“

Ich wurde in die Küche geschoben und hätte doch zu gern gesehen, warum das Schwein so entsetzlich quiekte. Ein einziges Mal war ich Augenzeuge, versteckt hinter Urgroßmutters weitem schwarzem Rock. Urgroßmutter saß in der Tür zum Hof auf ihrem Korbstuhl. Warum schrie nur das Schwein so fürchterlich? Franziskas Bruder hielt es am Schwanz, mein Großvater an den Ohren und der Metzger, ein dicker Mann mit einer fleckigen Gummischürze und feuerrotem Gesicht, setzte ein längliches Ding, das sah nicht wie ein Gewehr aus, dem Schwein auf die Stirn, genau zwischen die Augen. Es machte Plopp, dumpf und nicht sehr laut. Das Quieken verstummte schlagartig, das Schwein kippte um, zuckte einmal, zweimal noch mit den Hinterbeinen und lag dann still da. Meine Großmutter schob die Emailleschüssel unter, während der Metzger sein Messer wetzte. Ein Schnitt am Hals, überhaupt nicht umständlich, und das dampfende Blut schoss in die Schüssel. Landsam wurde der Strom dünner, Großvater goss dem Metzger einen Schnaps ein, der prostete ihm zu. Das ausgeblutete Schwein wurde in die Mulde, eine Zinkwanne auf Rollen, gewuchtet. Die Mulde gehörte dem Metzger und musste immer dort abgeholt werden, wo zuletzt geschlachtet worden war.

„Katharina, das Wasser“, rief Großvater und meine Großmutter kam mit zwei randvollen Eimern an. Der Metzger, das leere Schnapsglas in der Hand, stand unbeteiligt daneben. Das Schwein wurde mit dem heißen Wasser übergossen, die Borsten wurden abgeschabt. Es wurde mit zwei Drahtseilen an den Hinterbeinen festgebunden und über eine Winde hochgezogen. Da hing es, den Kopf nach unten, die Hinterbeine gespreizt. Dann entdeckte mich Urgroßmutter.

„Ab in die Küche!“

Und ich bekam noch einen Klaps auf den Hintern. Als ich endlich wieder auf den Hof durfte, war das Schwein kein Schwein mehr. Ohne Kopf hingen die beiden Hälften nebeneinander.

Franziska darf zuschauen. Sie hat kein Mitleid und der Metzger kein Gewehr, damals nicht. Der Metzger hat ein Beil, und mit der stumpfen Seite schlägt er zu. Wenn er nur Vater nicht trifft! Einmal, zweimal, jetzt fall doch endlich um, dreimal, viermal, endlich. Vor vier Wochen haben sie zwei Schweine geschlachtet. Nur eines wurde zum Wiegen gefahren, das kleinere. Das andere gab es nicht, zumindest nicht bei der Viehzählung im Frühjahr.

„Das ist gefährlich“, sagte Franziskas Großmutter. „Den Schulze aus dem Unterdorf hat der Kocher ein halbes Jahr ins Gefängnis gebracht. Nur weil er eine Sau schwarz geschlachtet hat.“

„Ja, ja“, brummte Franziskas Vater. „Ich könnte dir noch ganz andere Sachen erzählen. Aber denk an die Lebensmittelkarten.“

Die Lebensmittelkarten. 250 Gramm Butter im Monat, 500 Gramm Brot in der Woche, 100 Gramm Fleisch oder 125, alles für eine Person. So ganz genau weiß das keiner mehr. Das ist schon so lange her. Franziska putzt samstags die Backstube beim alten Bäcker. Am Sonntagmorgen klebt sie mit Mehlkleister die Mehlmarken für den Bäcker auf. Alles für einen Laib Brot, drei Pfund schwer. Das Brot können sie gut gebrauchen. Und ihre Großmutter kocht bei festlichen Gelegenheiten. Bei der Familie Maurer aus der Mohngasse hat sie schon 24 Mal gekocht. Der alte Maurer und die alte Maurerin sind begraben worden, Ihr Sohn Ludwig ist begraben worden und seine Schwester, die Lene. Und der Maurer Jean und seine Frau sind gestorben. Dann ist das Lisettsche gestorben. Und die anderen Kinder sind zur Kommuinion gegangen. Und als Verlobungen gefeiert wurden, war Franziskas Großmutter dort und bei Hochzeiten. Da fällt immer was ab, mal ein Zentner Kartoffeln, mal ein Sack Weizen, mal ein Korb Eier. Hoch oben sieht Franziska einen Christbaum. Sie kann sich aber auch getäuscht haben. Bald ist Weihnachten. Die Lebensmittelkarten. Geschlachtete Schweine werden auf die Fleischration angerechnet. Vier, fünf, sechs Monate keine Fleischmarken. Und bei zwei Schweinen?

Am Tag nach dem Schlachtfest kam Anton Kocher und ließ sich die Papiere zeigen, Wiegeunterlagen, Schlachtschein. Metzelsuppe wurde aufgetischt mit einem dicken Brocken Wellfleisch drin. Anton Kocher, Ortsgruppenleiter der Partei, ein Zugereister, wie die Einheimischen sagen, Jahrgang 1900, angelernter Arbeiter in der Anilin in Ludwigshafen, 1929 Eintritt in die Partei, 1931 arbeitslos, 1933, im Mai, Feldschütz im Dorf, Ortsgruppenleiter.

„Der wird sich die Zähne ausbeißen“, hieß es vor gut elf Jahren.

Die Metzelsuppe schien zu schmecken. Franziskas Vater war auch Mitglied in der Partei.

„Aber er ist erst spät eingetreten“, erzählt meine Großmutter. „Als der Krieg anfing, kam sein Vorgesetzter und sagte: Wenn Sie nicht in die Partei gehen, kann ich Sie nicht halten. Opa August hätte einrücken müssen, also ging er in die Partei“, erzählt Großmutter. „Er musste einfach. Beamter. Aber bei Aufmärschen und Versammlungen drückte er sich, so gut es eben ging“, erzählt Großmutter.

So gut es ging.

Anton Kocher ließ sich einen Nachschlag geben.

„Scheint ja alles in Ordnung zu sein“, sagte er mit vollem Mund.

„Ja, ja, alles in Ordnung“, versicherte Franziskas Mutter.

Da kam Georg, Franziskas kleiner Bruder, in die Küche. Er kniete sich auf den Stuhl neben Kocher und setzte eine wichtige Miene auf.

„Das Schwein gestern, das ist ein ganz besonderes Schwein gewesen. Das hat vier Nierchen gehabt, ehrlich, vier!“

Auch diese Geschichte ist schon oft erzählt worden. Franziskas Mutter griff Georg unter den Arm, beförderte ihn in den Flur, „warte nur, wenn Vater heimkommt“, ging zurück in die Küche, dachte an den Schulze aus dem Unterdorf. Anton Kocher aß weiter, sagte kein Wort, verabschiedete sich freundlich.

„Alles in Ordnung“, rief er, als er schon am Hoftor war.

Am Abend wurde mit Georg ein ernstes Wort geredet.

„Der ist doch anständig, der Kocher“, sagte Franziskas Mutter zu ihrem Mann. „Das hätte ich nicht gedacht.“

Franziska kennt den Anton Kocher ganz anders. Reichskristallnacht. Erst viel später wird sie mit diesem Ungetüm von Wort etwas anfangen können. Im Dorf brannte keine Synagoge, es gab keine. Franziska wusste nicht so recht, was Juden sind. Lehrer Bast schimpfte immer über sie. Die seien lauter Schweine und Verbrecher, man müsse alle aufhängen und auf den Mist werfen, sagte er Tag für Tag. Und Sarah musste in der Ecke stehen. Und der Pirmin stand manchmal neben ihr, aber der war kein Jude. Gegen den Lehrer sich stets folgsam, wahrheitsliebend, bescheiden und höflich benehmen, für Franziska kein Problem. Strammstehen, aufrecht sitzen, den Körper nicht nach vorne biegen, laut und wohl tönend in ganzen Sätzen die Antworten geben, für Franziska ist das nicht schwer. Aber die Unberechenbarkeit des Lehrers.

„In die Schützengräben“, brüllte er ohne Vorwarnung, und alle mussten blitzschnell unter die Bänke kriechen. Und die Angst vor seinem Stock, vor seinen Wutausbrüchen. Wenn meine Mutter von ihm erzählt, sehe ich meinen ersten Lehrer vor mir. Unter die Bänke mussten wir nicht kriechen, ansonsten gleicht sich vieles. Bei der Rückgabe der Diktate durfte jeder, Lehrer Mohn sagte: dürfen, seine Fehler am Katheder abholen. Vier Fehler sind vier Schläge mit dem Bambusstock auf die Handfläche, ein Schlag links, einer rechts, links, rechts. Wenn er ins Zimmer trat, das Strammstehen wie bei Lehrer Bast. Wenn ich an die Tafel ging und die Kreide als Linkshänder in die linke Hand nahm, schlug er ohne Vorwarnung mit seinem Stock zu. Ich lernte schnell und packte die Kreide nur noch mit der richtigen Hand an. So muss Lehrer Bast gewesen sein, vor dem Franziska zitterte.

Mit Sarah hatte Franziska immer gerne gespielt, bis ihre Mutter es verbot. Und eines Tages war Sarah nicht mehr in der Schule. Das war nach diesem Morgen, als Sarah auf der Straße saß. Franziska hatte Bilder in der Zeitung gesehen. Brennende Synagogen.

„Was ist eine Synagoge?“

„Warum dürfen die so was wie Kirchen anstecken?“

„Ach so, keine richtigen Kirchen?“

„Und schließlich waren es die Juden, die unseren Herrgott ans Kreuz geschlagen haben.“

„Aber die Sarah ...“

„Schluss jetzt.“

Franziskas Großmutter duldet keinen Widerspruch. Sarah Eltern hatten einen Lebensmittelladen. Als Franziska an jenem Morgen an dem Laden vorbeikam, saß Sarah auf der Straße, inmitten unzähliger zerschlagener Marmeladentöpfe. Mehl, gutes Mehl war auf den Bürgersteig gekippt. Die Schaufensterscheibe war eingeschlagen, die Regale im Laden waren umgeworfen. Franziska wollte stehen bleiben, wollte Sarah fragen. An der Tür stand geschrieben: „Kauft nicht beim Judenpack!“

„Weitergehen, los weiter!“

Das war Kochers Stimme, zischend, durchdringend. Franziska kannte sie vom Park. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Jetzt erst sah sie ihn, sah seine stechenden Augen und rannte schnell weg. So kannte sie Anton Kocher.

Die Christbäume sind wunderschön. Es werden immer mehr. Bald ist der Himmel voll davon. Franziska weiß, dass die Christbäume schön aussehen, sie weiß aber auch, was auf sie folgt. Aber schön sind sie doch. Franziska reißt sich los, geht ins Haus zurück.

„Sie kommen wieder“, ruft sie, „ganz viele.“

Ihre Großmutter ist schon im Keller, als die Sirene heult. Franziskas Mutter kommt als letzte. Sie hat schnell noch das Besteck in die Waschschüssel geworfen.

„Ist oben alles verdunkelt? Ging so schnell heute, und ihr wisst doch, was passiert, wenn nicht ordnungsgemäß verdunkelt ist.“

Nach Einbruch der Dunkelheit sind alle Fenster zu verdunkeln, egal, ob die Flieger kommen oder nicht. Und der Polizei- und Gemeindediener, der auch Luftschutzwart ist und Franziskas Onkel, wacht darüber. Jeden Abend macht er seinen Rundgang durch das Dorf. Wehe, durch eine Ritze, und sei sie auch noch so klein, fällt Licht. Onkel Hannes hat seinen Flobert dabei. Onkel Hannes zieht ein Bein nach. Er kommt nur langsam voran, und es ist ein schönes Stück, das er jeden Abend zurücklegen muss. Dienst ist Dienst, also macht er jeden Abend die Runde. Früher arbeitete Onkel Hannes bei der Bahn, wie Franziskas Vater. Während einer Frühstückspause, es sollte nur ein Spaß sein, zog ein Kollege den Stuhl weg. Onkel Hannes fiel unglücklich, lag Monate im Krankenhaus, das Bein blieb steif. Für den Bahndienst ungeeignet. Aber er hatte Glück. Im Dorf wurde ein Polizei- und Gemeindediener gesucht. Früher gab es nicht viel zu tun. In Lederhosen, in der linken Hand die Glocke, in der rechten die Papierrolle, verkündete er mit lautstarker Stimme die amtlichen Mitteilungen. Damals gab es noch kein Gemeindeblatt. Im Herbst 1932, als das Kriegerdenkmal vor der Kirche eingeweiht wurde, stand Onkel Hannes in seiner Sonntagsuniform, die Pickelhaube auf dem Kopf, neben dem Vorsitzenden des Krieger- und Militärvereins oben auf dem Holzpodest, als die Ansprachen gehalten wurden und Pfarrer Leer den bronzenen Reiter und sein Pferd segnete. Franziskas Mutter war stolz auf ihren Bruder. 1943 wurde das Standbild eingeschmolzen. Früher gab es für den Gemeindediener nicht viel zu tun. Aber die Vorschrift mit der Verdunkelung. Die bringt Arbeit. Und das steife Bein.

„Mach dich nicht kaputt2, sagte seine Schwester, „das fällt doch nicht auf, wenn du ...“

„Katharina, das will ich nicht gehört haben. Jeder hat sein Bestes zu geben in dieser Schicksalsschlacht. Jeder an seinem Platz.“

„Ja, ja, Onkel Hannes war mit Leib und Seele dabei“, sagt meine Großmutter.

Also jeden Abend die lange Runde durch das Dorf und wehe, er entdeckte irgendwo Licht. Wie Ende Oktober beim alten Bäcker, bei dem Franziska putzt. Der alte Bäcker mit dem langen, gedrehten Schnurrbart, der früher Hochrad gefahren war. Alles war verdunkelt. Dafür sorgte schon die Haushälterin. Nur musste der Alte auf dem Speicher Mehl holen. Durch die Dachluke fiel Licht. Vorschrift ist Vorschrift, sagt sich Onkel Hannes, zieht seinen Flobert, zielt, lässt sich Zeit, vielleicht geht das Licht ja noch aus, drückt ab, Glas splittert, es wird dunkel.

„Saubande, Nazipack, Verbrecher, euch geht es auch noch an den Kragen.“

Auf dem Speicher poltert es.

„Seien Sie doch ruhig.2

„Nazipack.“

„Um alles in der Welt, halten Sie Ihren Mund. Der bringt Sie noch ins Gefängnis.“

Die Stimme der Haushälterin.

„Einen alten Mann ins Gefängnis bringen, denen traue ich alles zu.“

Onkel Hannes humpelte weiter. Später, als ich ihn kannte, konnte er nicht mehr humpeln. Er saß im Rollstuhl. Alles wirkte bedrückend auf mich, das düstere Wohnzimmer, vollgestopft mit Möbeln, an denen er mit dem Rollstuhl kaum vorbeikam, die Leidensmiene seiner Frau. Ich hielt es nie lange aus, war froh, wenn Onkel Hannes mich fragte: „Gehen wir in den Garten?“

Die Frühlingsluft im Garten, das Gesicht von Onkel Hannes, wenn er von seinen Bienen schwärmte. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich ihn, wie er sich ein weißes Netz über den Kopf stülpte und eingehüllt in stechenden Rauch bei den Bienen hantierte.

„Ist oben alles verdunkelt? Ging so schnell heute.2

„Vielleicht kommen sie gar nicht.“

„Wird schon alles in Ordnung sein.“

„Und wenn nicht?“

„Vorschrift ist Vorschrift. Wer schaut nach?“

Mutter, wer sonst. Franziskas Mutter kommt mit Frau Arm zurück. Die hört schlecht. Bei einem Luftangriff kommt sie immer rüber. Beinahe hätten sie die Nachbarin vergessen. Sie sitzen im Keller, Franziskas Großmutter betet.

„Herr, lass den Kelch an uns vorübergehen.“

Franziskas Mutter denkt an das Haus. Wenn nur nichts passiert. Franziska denkt an die wunderschönen Christbäume. Onkel Karl denkt daran, dass sein Genesungsurlaub in zwei Wochen zu Ende ist. Sein Bruder hat Glück gehabt. Als Schrankenwärter ist er unabkömmlich, kriegswichtig.

Jetzt müssten sie das Brummen der Motoren hören, weit weg noch, näherkommend. Die Flugzeuge müssen jetzt bald da sein. Ich kann sie nicht aufhalten. Ich kann nicht mehr abschweifen. Ich habe diesen Fliegerangriff nicht erlebt. Ich habe keinen Fliegerangriff erlebt. Ich erzähle eine Geschichte aus einer Zeit, in der ich nicht gelebt habe, die Geschichte von Kocher und dem jungen englischen Flieger. Ich erzähle Erzähltes. Und das schließt Vergessen mit ein, Nicht-drüber-reden-wollen, Weglassen, Erfinden, Verdrängen, Idealisieren. Und Anekdoten, immer die gleichen, wieder und wieder erzählt. Die Flieger sind jetzt ganz nah. Die im Keller hören die ersten Einschläge im Unterdorf.

„Herrgott im Himmel, bloß keine Sprengbomben und keine Phosphorbomben.“

Vor einem halben Jahr die Phosphorbombe im Gewächshaus von Onkel Karl. Am helllichten Tag war der Angriff gewesen. Damals lag Onkel Karl an der Ostfront, vielleicht auch schon in Prag im Lazarett. Franziskas Mutter half, schüttete Wasser auf den Brand, es zischte, Wasser, mehr Wasser. Es zischte und dampfte und brannte weiter.

„Mein Gott, bloß keine Phosphorbombe!2

Sie kommen näher und näher.

Scheiß Christbäume, denkt Franziska.

Sie sind genau über ihnen. Fürchterliches Krachen, Wände zittern, Staub rieselt. Es ist passiert.

„Wenn nur Vater da wäre.“

„Ich muss hoch.“

„Nein, nein, bleib hier. Beten wir zusammen.“

Franziskas Mutter hastet die Kellertreppe hoch.

„Bleib hier“, schreit Großmutter hinter ihr her.

Die Bombe liegt im ersten Stock, 40 Zentimeter lang, sechskantig. Eine Stabbrandbombe.

„Hoffentlich ist kein Sprengsatz dran.“

Franziskas Mutter schüttet die Schüssel mit dem Abwaschwasser über die Bombe. Die Messer, Gabeln, Löffel fallen scheppernd auf den Boden. Sie lässt einen Eimer Wasser volllaufen, rennt die Treppe hoch in den zweiten Stock, die Garderobe steht in Flammen, der Sonntagsmantel brennt. Schade drum.

„Franziska, lauf schnell zu Schlossers rüber. Die sollen uns helfen.“

Jetzt raus aus dem sicheren Keller, in den Hof, über die Straße und die Flieger und das Feuer und der Lärm und die Schreie. Franziska hält sich die Ohren zu.

„Wir brauchen Hilfe, schnell!“

Franziska vergisst alles, läuft los, rennt, kommt erst wieder zu sich, als sie im Hausflur vom Nachbarhaus steht, im Feuerschein. Niemand achtet auf sie. Bei Schlossers wurde die Scheune getroffen. Raus mit den Tieren, den Pferden, den Kühen, den Schweinen, am schlimmsten sind die Schweine. Mutterseelenallein steht Franziska im Hausflur. Ihre Angst habe ich nie gehabt. Das Feuer, die Schreie der Menschen und Tiere, der Motorenlärm, noch immer sind die Flieger da, Franziska steht im Hausflur, von niemandem beachtet. Der Motorenlärm wird leiser, verschwindet. Ich weiß nicht, wie lange Franziska im Flur stand. Sie geht zurück auf die Straße. Da steht ihr Bruder Herrmann und schluchzt. Franziska legt den Arm um den zehnjährigen Bruder. Das Feuer ist gelöscht. Selbst Großmutter ist nicht mehr im Keller.

„Keine Sprengbomben, gelobt sie Jesus Christus. Wenn sie nur nicht zurückkommen.“

„Die kommen nicht mehr, heute Nacht nicht.“

Der Schaden am Haus ist doch nicht so groß. Einige Ziegel kaputt, der Dachstuhl beschädigt, allerdings nur leicht, ein Loch in der Decke und der gute Mantel.

„Das lässt sich reparieren, wenn nur Vater nichts passiert ist.“

Nach und nach kommen Nachrichten aus dem Dorf, bei Schlossers die Scheune, das Wohnhaus von Friedrichs, insgesamt sind zwanzig Gebäude zerstört oder beschädigt. Und ein Flugzeug wurde abgeschossen. In dieser Nacht ist an Schlaf nicht zu denken. Vereinzelt schwelt noch Feuer. Wer kommt bei wem unter? Erst Aufräumarbeiten. Als Franziskas Vater am Morgen von der Schicht kommt, ist das Schlimmste beseitigt, die Bombe liegt im Hof. Onkel Karl hat sie herunter getragen, begleitet von Großmutters Jammern, wenn jetzt doch ein Sprengsatz. War aber keiner. Das hat Onkel Karl mit einem Blick gesehen.

„In der Stadt ist heute Nacht kaum was los gewesen“, erzählt Franziskas Vater, „nur in den Randgebieten.“

Man kommt überein, dass alles nicht so schlimm war, dass man Glück gehabt hat, dass alles viel schlimmer hätte kommen können. Noch lange wird Franziska nachts aus dem Schlaf hochschrecken, wird die Flieger hören, den Feuerschein sehen, wird sich die Hände auf die Ohren pressen. Das Loch in der Decke wird provisorisch abgedichtet werden, Ziegel für das Dach sind noch im Schuppen. Nach dem Krieg, das wird schon bald sein, wird Franziskas Vater die Decke reparieren, die beschädigte Stelle neu verputzen, die Decke weiß streichen. Doch das Loch, durch das die Bombe fiel, wird sich abzeichnen, sichtbare Erinnerung an jene Bombennacht.

Ich sehe den Fleck vor mir.

„Unmöglich“, sagt meine Mutter. „Es muss um 1953 gewesen sein, da hat Onkel Herrmann die Decke tapeziert. Der Fleck ist verschwunden. Da warst du noch ganz klein. Daran kannst du dich nicht erinnern.“

Wenn erst Gras wächst

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