Читать книгу Wenn erst Gras wächst - Walter Landin - Страница 8

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Wenn meine Mutter von jener Bombennacht, vom abgeschossenen Flieger erzählt und mir den Standort der Flakstellung beschreibt, sagt sie nur: „Da, wo du mit Vaters Auto rein bist.“

Kein Wort ist mehr nötig. Ich weiß nur zu gut. Draußen am Floß, so heißt der Bach, nahe am Roten Kreuz, befand sich die Flakstellung. Im Frühjahr, wenn ich mit meinem Großvater in den Wingert fuhr, kamen wir immer an der Stelle vorbei. Damals wusste ich nichts davon. Der Wingert am Roten Kreuz gehörte Großvater. Das Rote Kreuz war ein etwa drei Meter hohes Sandsteinkreuz, eingerahmt von Fichten. Hinter dem Kreuz war eine Holzbank ohne Lehne, unser Platz für die Vesper. Der alte Ackergaul, den Großvater auslieh, musste verschnaufen. Opa August holte seine Rotweinflasche heraus, ich bekam Pfefferminztee, gut gesüßt. Dazu gab es Leberwurstbrot, immer Leberwurstbrot. Das Brot aß Opa ganz auf. Auf seinem Teller zu Hause beim Mittagessen ließ er stets einen Rest liegen und konnte während des Essens nicht still sein, musste Witze erzählen, die er ganz trocken herausbrachte.

„Iss weiter! Das Essen wird kalt“, sagte Großmutter, und Opa August nahm einen Schluck Rotwein und schob sich eine schwer beladende Gabel in den Mund. Noch kauend erzählte er schon den nächsten Witz.

Auf der Holzbank hinter dem Roten Kreuz, durch die Fichten geschützt, saßen wir schweigsam, Großvater grüßte ab und zu einen der vorbeikommenden Bauern, wechselte ein paar Worte mit dem Feldschützen. An Kocher dachte niemand mehr. Später kamen Luftdruckkanonen in Mode. Diese Apparate knallten automatisch jede halbe Minute und sollten die Starenheere vertreiben. Die Gespräche mit dem Feldschützen fielen weg. Nach der Vesper wurde der Ackergaul eingespannt, ein gemütliches, braves Tier. Großvater hielt den Pflug, und ich durfte vorne die Leine halten, der Gaul wäre aber genauso gut alleine gelaufen. Fast bis ans Floß reichte Großvaters Wingert, aber er war schmal, nur sechs, sieben Reihen der Portugiesertrauben, aus denen er seinen trockenen Rotwein ausbaute. Früher verzog ich den Mund, wenn er mir einen Schluck anbot, heute würde er mir bestimmt schmecken. Aber die Fässer im Keller sind schon lange leer. Mein Großvater konnte später, als er krank war, seinen Wein, von dem er jeden Tag ein bis zwei Liter getrunken hatte, nicht mehr vertragen. Angina pectoris. Er saß am Küchentisch, eine Zwei-Literflasche eines billigen, leichten italienischen Rotweins vor sich, immer noch einen Witz, eine lustige Bemerkung auf den Lippen.

„Was für ein Gesöff“, sagte er lachend und goss sich nach. „Aber was soll ich machen.“

Später, als ich in die Schule kam, hatte ich keine Lust mehr, Großvater zum Roten Kreuz zu begleiten. Irgendwann kaufte er sich einen kleinen Traktor, gebraucht, von dem er schwärmte. Ich kam nur noch zweimal im Jahr am Floß vorbei, mit der Fronleichnamsprozession, die das Rote Kreuz zum Ziel hatte, und im Herbst, wenn Weinlese war.

„Fronleichnam“, sagt meine Mutter, „da gibt es auch so eine Geschichte. Unser Lehrer Bast, der hatte auf einer katholischen Lehrerausbildungsstätte studiert. Als die Nazis ans Ruder kamen, trat er aus der Kirche aus und bei den Nazis ein. Das waren die Schlimmsten. Fronleichnam war damals kein Feiertag. Pfarrer Leer stand mit den Gläubigen vor der Kirche. Von unserem Klassenzimmer aus konnten wir den Fronleichnamszug sehen. Lehrer Bast fuhr mit dem Unterricht fort. Keiner von uns hatte den Mut, ihn zu fragen, ob wir mitdürften. Plötzlich ging die Tür auf, herein kam Pirmins Mutter, eine große, selbstbewusste Frau. ‘Herr Lehrer, mein Pirmin ist Messdiener, der geht zur Prozession.’ Sie ging am Lehrer Bast vorbei, der nickte nur, sie packte ihren Sohn an der Hand und zog ihn hinter sich her. Zögernd standen wir auf und verließen ebenfalls das Klassenzimmer. Lehrer Bast sagte kein Wort. 1944 im Frühjahr wurde Lehrer Bst dann eingezogen. Er kam zur Marine. Als er absoff mit seinem Schiff, soll er minutenlang nach der Mutter Gottes geschrien haben.“

Meine Mutter erzählt diese Geschichte mit Genugtuung.

Es ist eine mondhelle Nacht, fast könnte man Zeitung lesen. Stille am Floß, bis auf einmal der Fernsprecher schrillt. Fliegeralarm, schon wieder. Es dauert nicht lange und die beiden Geschütze sind feuerbereit. Die Flakbesatzung schaut in den Bach, in dem sich der Mond spiegelt. Flugzeugmotoren zerreißen die Stille der Nacht. Sie scheinen von allen Seiten zu kommen. Der Richtkanonier eröffnet das Feuer. Er schießt nach der Leuchtspur. Aus den Geschützen zucken ohne Pause Blitze. Und dann brennt eine Maschine. Der Pilot versucht, sein Flugzeug hochzureißen. Das schlägt fehl. Irgendwo in der Nähe vom Friedhof wird er niedergehen. Die Flakbesatzung jubelt draußen am Floß, da wo der Unfall mit Vaters Auto passierte.

Ich war siebzehn, wollte mich zum Führerschein anmelden, wollte unbedingt mit Vaters VW üben, hatte gebittelt und gebettelt. An einem Samstag im Spätsommer, ein herrlicher Tag, Vater war gut aufgelegt und sagte ja. Er zog sich den Mopedhelm meines Freundes über.

„Den kann ich gut gebrauchen.“

Er sollte recht behalten. Vater fuhr bis zum Floß. Dort wechselten wir die Plätze. Das Anfahren klappte problemlos, in den zweiten Gang schalten.

„Fahr da vorne in den Feldweg rein, wir wenden.2

Spätestens hier hätte es Vater dämmern müssen, dass es mit dem Lenken Probleme gab. Ich hatte einfach kein Gefühl dafür. Wusste nicht, wie weit ich das Lenkrad drehen musste.

„Den kerzengeraden Weg zurück, vor dem Bach links rein, wieder wenden“, gab Vater seine Anweisungen.

Der VW rollte im Zeitlupentempoauf die Böschung zu, „lenk doch, lenken“, ich wusste nicht, was ich mit dem Lenkrad anfangen sollte. Die Handbremse zog nicht. Ein dumpfer Schlag, der Wagen kippte auf die rechte Seite, ich fiel auf meinen Vater, Wasser drang durch die offene Fensterscheibe ins Wageninnere.

„Jetzt habe ich einen Wagen gehabt“, sagte Vater immer wieder, betont ruhig. Der Wutausbruch kam später. Ein Abschleppwagen zog Vaters VW aus dem Floß. Reparaturkosten1500.- Mark. 1969 war das viel Geld.

„Die Flakstellung war am Floß, genau an der Stelle, wo du mit Vaters rein bist.“

Wenn erst Gras wächst

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