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Salam Aleikum DER STRASSENKEHRER

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Den ersten Iraker, der in mein Leben trat, habe ich nie gesehen. Er war nur mein Korrespondenzpartner. Als ich ihm einen Brief geschrieben habe, musste ich ihn mit Exzellenz anreden. Denn er war der Botschafter seines Landes und gerade erst mit seinem Tross von Bonn nach Berlin, in unsere neue Bundeshauptstadt, umgezogen. Ich hatte ihm zu danken für die persönliche Einladung zum Besuch seines Landes, die er mir zugeschickt hatte, als Schmuckblatt, unterschrieben von Staatschef Saddam Hussein. Mit dabei das erforderliche Einreisevisum. Da war ich sehr gespannt auf die Begegnung mit dem großen Diktator. Und alle Warnungen und das Unverständnis meiner Freunde und Bekannten ließen mich kalt.

„Du spinnst ja wohl“, kriegte ich zu hören.

„Die Amis können jeden Tag losschlagen“, wurde ich belehrt. Dabei wusste ich das schon aus der Tageszeitung, in der die Behauptung des amerikanischen Präsidenten stand, der Irak produziere Massenvernichtungswaffen.

„Das grenzt an Selbstmord“, hieß es kopfschüttelnd.

Doch ich hatte zugesagt. Für mich war das ein Akt der Solidarität mit den unter schrecklichen Entbehrungen leidenden Menschen im Irak. Ich wollte zumindest ein klein wenig mit dafür sorgen, dass der Krieg nicht als einzige Lösung des Irakproblems akzeptiert werden muss. Ich wollte mich gerade für dieses Land einsetzen, das als Wiege unserer Kultur und Brücke zur Antike galt. Wo die Schrift entstand, das Rad und die Pflugschar erfunden wurden, aber auch die Sechzig-Minuten-Stunde sowie der 360-Grad-Winkel, der Scheckverkehr und das Gesetzbuch. Es ging mir nicht um ein Abenteuer. Ich wollte mich für die Erhaltung aller noch vorhandenen Zeugnisse der ältesten Stadtkulturen der Erde einsetzen. Dafür war ich bereit, ungewöhnliche Gefahren auf mich zu nehmen.

Nur meine Frau bestärkte mich in der Absicht, an die Front zu fahren, die sich gerade aufbaute. „Welchem Schriftsteller wird schon die Chance geboten dabei zu sein, wenn die Guten über die Bösen herfallen, um im Namen einer höheren Verantwortung für die Ordnung auf der Welt zu sorgen. Das ist die Gelegenheit, dir selbst ein Bild davon zu machen, ob die Guten wirklich die Guten und die Bösen wirklich die Bösen sind.“

Also fuhr ich los, allerdings mit einem eingeschränkten Auf-Wiedersehen für meine Frau: „Vielleicht ja schon bald, vielleicht auch erst nach langer Wartezeit, vielleicht nie mehr.“

Den Namen des Botschafters habe ich vergessen, wie ich auch vergessen habe, mich danach zu erkundigen, was er heute macht. Zu viele Zeitungsjahrgänge voller Neuigkeiten haben ihn zuverlässig unter sich begraben.

Und an die freundlichen irakischen Beamten an der jordanisch-irakischen Grenze, die mir am 3. März des Jahres 2003 bei der zeitraubenden Prüfung meines Reisepasses in ihrem nüchtern grauen Bürohaus die Sitzecke mit Bürosesseln und Couchtisch anboten und einen heißen Tee einschenkten, habe ich nie mehr gedacht. Um sie habe ich mir keine Sorgen gemacht. Wozu auch? Grenzer wie Diplomaten werden immer gebraucht, selbst wenn die großen Bilder des Staatschefs verschwinden. Vor allem das überlebensgroße Foto Saddam Husseins auf dem Hof der irakischen Grenzstation, wo die Leute bei starkem Andrang geduldig auszuharren hatten, unter den Augen des Allmächtigen. Ein Diplomat und Grenzer, das waren meine ersten Iraker. Funktionäre nur. Die lassen mich kalt.

Nicht so der erste Iraker von Fleisch und Blut, den ich getroffen habe. Die Begegnung mit ihm vergesse ich wohl nie. Es war kurz vor Mitternacht. Da hatte ich schon einen sehr langen Weg zu ihm hinter mich gebracht. Die Maschine der Royal Jordanian Airlines hatte bereits mit Verspätung in Frankfurt am Main abgehoben, weil zu viele Passagiere gebucht hatten. Verständlich, war das doch die einzige Fluggesellschaft, die sich nicht an das allgemeine Embargo hielt, das der Westen gegen den Irak ausgesprochen hatte. Also die einzige Flugmöglichkeit.

Nach der Zwischenlandung in der jordanischen Hauptstadt Amman die lapidare Auskunft, dass die Anschlussmaschine nach Bagdad bereits abgeflogen sei. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, kam mir völlig unpassend die Gorbatschowsche Philosophie in den Sinn. Aber dann als Strafverschärfung die Mitteilung, der nächste Flug nach Bagdad starte in drei Tagen. Das war nicht akzeptabel. Wir waren zu sechst. Drei von uns fuhren noch am Abend mit einem Taxi weiter. Wir anderen drei beschlossen, im Flughafenhotel zu übernachten und erst am frühen nächsten Morgen per Taxi in den Irak zu fahren, also bei Tageslicht, um sehen zu können, durch welche Landschaften wir fuhren. Immerhin eine Strecke von gut eintausend Kilometern von der einen Hauptstadt zur anderen, von Amman nach Bagdad. Zu dritt in einem großen Chevrolet-Geländewagen, für 220 US-Dollar pro Person. Dem jordanischen Taxifahrer in bar auf die Hand geblättert, denn wo niemand weiß, was der nächste Tag bringen würde, gelten natürlich keine Schecks und keine Kreditkarten mehr.

Eine Wüstenpiste, wie von Napoleon auf den Globus gezeichnet, so glatt und zielsicher. Schnurgerades Grau mit wießer Mittelmarkierung auf das braunbröckelige Nichts der Landschaft gelegt. Stunde um Stunde kaum einmal etwas anderes zu sehen als volle Tankwagen, alt, älter, am ältesten, die uns schweratmend entgegenkamen, und leere Tankwagen, die uns ölgierig überholten. Alle Marken, aber hauptsächlich Mercedes. Schätzungsweise die letzten fünfzig Jahrgänge in allen Stadien der Verrottung, die das offizielle Exportembargo unterliefen. Doch nicht nur gegen diesen Ölstrom fuhren wir an. Neben uns eine Hochspannungsleitung, durch die auf Ölbasis erzeugter Strom aus dem Irak kam.

Immer wieder sperrige Reifenstücke neben der Trasse wie vom Fahrtwind verstreute Gerippe verendeter Lasttiere. Aha, Runderneuerung statt neuer Pneus. Und ebenso schwarzes Geflatter an Steinen und Zäunen. Kolkraben der Wüste, die sich erst allmählich als Plastikfetzen entpuppten. Am Morgen, am Mittag und am Abend immer das gleiche Bild. Selten aufgelockert durch eine kleine Schafherde mit Schäfer. Die Wollknäuel mit den Ewigkeitsblicken knabberten am Geröll, wo für die Vorbeifahrenden nichts Grünes zu entdecken war. Weiter abseits der Piste auch einmal ein langgestrecktes graubraunes Nomadenzelt. Daneben ein Pferch aus aufgeschichteten Steinen und ein geparkter Uralt-Lastwagen mit Schutzgatter um die Ladefläche. Modernes Nomaden-Transportmittel. Unmittelbar vor der Grenze zum Irak sahen wir Vorbereitungen zum Bau von Flüchtlingslagern.

Dann endlich die Grenze mit den freundlich Tee spendierenden Zöllnern. Hinter der irakischen Grenze eine Tankpause. Die halbe Distanz geschafft.


Tankwagen auf Wüstenpiste

Zweihundert Liter schluckte der große Chevrolet. Die kosteten 4000 Irak-Dinar, umgerechnet etwa zwei US-Dollar. Da kamen Neidgefühle auf. Doch keine Zeit für solche Reminiszenzen. Weiter auf der endlos scheinenden Wüstenpiste. Was zunächst Steinwüste war, wurde nun Sandwüste. Ja, wenn das alles ist an Abwechslung, die uns geboten wird? Doch wen fragen? Bei wem sich beschweren? Weiter, immer weiter durch leere Unendlichkeiten.

Aber dann auf einmal ist die Autostraße beleuchtet, strahlt uns vor Freude an, weil sie die Hauptstadt wittert. Es geht über breite Brücken mit Marmorgeländer in weitschwingende Biegungen hinein. Lichtergirlanden überspannen die Einfallsstraßen. Blumen und Sterne blühen zu unserem Empfang vor dem tiefdunklen Nachthimmel Bagdads auf. Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen, können wir noch witzeln.

Als wir an einer Ampel halten, sehe ich den Iraker neben mir. Einen Mann von kräftiger Statur, nicht alt, nicht jung. Mit dem Reiserbesen in der Hand fegt er die Straße. Kurz vor Mitternacht. Als er zu unserem Wagen herüberschaut, nicke ich ihm mit einem nur angedeuteten Lächeln zu. Der Straßenkehrer lässt abrupt den Besen fallen, legt beide Arme kreuzweise vor die Brust und grüßt mich mit ehrfurchtsvoller Verbeugung.

„Hadschi“, erklärt der jordanische Fahrer, der bisher nichts gesagt hatte, als er wieder Gas gibt. Und dann auf Englisch: „Der Mann hat Sie für einen Hadschi gehalten. Weil Sie diesen Vollbart tragen. Er hat sich gefreut, dass ihm ein Hadschi Salam Aleikum sagt. Einer in so einem großen Automobil. Davon wird er seiner Familie zuhause erzählen. Und noch Tage lang all seinen Bekannten.“

Ich rufe mir schnell in Erinnerung, was ich darüber gelesen habe. Ein Hadschi, das ist ein hochverehrter Mann, weil er den Hadsch, die vorgeschriebene Pilgerreise nach Mekka zur Kaaba, gemacht hat. Der trägt dann für den Rest seines Lebens einen prächtigen Bart.

„Aber ich habe überhaupt nicht Salam Aleikum gesagt“, widerspreche ich dem Fahrer.

„Konnte der Mann ja nicht hören. Durch die Fensterscheibe“, tut der mich kurz ab.

So wurde der erste wirkliche Iraker, den ich sah, nur dadurch mein Freund, dass die geschlossenen Wagenfenster eine Verständigung unmöglich machten. Merk es dir, sagte ich mir: Es geht nie darum, wer du bist, sondern immer nur darum, für wen man dich hält.

Ich werde den Gedanken nicht los, dass mein neuer Freund, dieser arglose Mann, der am Vorabend eines Krieges die Straße fegte, besonders gefährdet sein müsste. Deshalb frage ich mich immer wieder: An welchem Tag der seitdem verflossenen fast zehn Jahre habe ich bei der üblichen Meldung von dreißig oder siebzig oder fünfundachtzig Toten des Tages auch über seinen Tod geseufzt? Kann ich ja nicht wissen. Alles nur immer auf der Mattscheibe gesehen, aus dem Radio und der Presse mitgekriegt. Und im Tod sind sie alle gleich, sind nur noch eine Zahl. Viel zu viele Zahlen sind sie. Man kann es ja schon nicht mehr hören.

Möglicherweise lebt mein erster Iraker längst nicht mehr, und das nur, weil ich dem Mann bloß freundlich zugelächelt habe, statt ihm laut und deutlich zu wünschen: „Der Friede sei mit dir!“

Denk ich an Bagdad in der Nacht

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