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KAPITEL 1 Der Aufstieg der Ungleichheit

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Uranfängliche Nivellierung

Gab es schon immer Ungleichheit? Unsere engsten Verwandten in der Tierwelt, die afrikanischen Menschenaffen – Gorillas, Schimpansen und Bonobos – bilden streng hierarchische Gemeinschaften. Bei den Gorillas gehören die ausgewachsenen Männchen entweder zu einer kleinen Gruppe dominanter Tiere, die über einen Harem von Weibchen gebieten, oder zur Mehrheit derer, die keinerlei Anspruch auf eine Partnerin haben. Die Silberrücken dominieren nicht nur die Weibchen in ihrer Gruppe, sondern auch die ausgewachsenen Männchen, die nicht aus der Gruppe ausscheiden. Schimpansen investieren sehr viel Energie in die Verteidigung ihres Status in der Gruppe, wobei dieses Verhalten vor allem, jedoch nicht ausschließlich bei den männlichen Tieren zu beobachten ist. Dem tyrannischen und aggressiven Verhalten der dominanten Gruppenmitglieder steht facettenreiches unterwürfiges Verhalten der Tiere auf den unteren Stufen der Hackordnung gegenüber. In Gruppen von fünfzig bis hundert Individuen ist die Rangordnung ein zentraler Bestandteil des Lebens und sie verursacht beträchtlichen Stress, denn jedes Gruppenmitglied nimmt einen bestimmten Platz in der Hierarchie ein, versucht jedoch unablässig, seine Position zu verbessern. Und es gibt keinen Ausweg: Männchen, die ihre Gruppe verlassen, um den dominanten Tieren, von denen sie unter Druck gesetzt werden, aus dem Weg zu gehen, laufen Gefahr, von den anderen Gruppen getötet zu werden. Daher harren sie aus, kämpfen weiter oder unterwerfen sich. Diese Restriktion lässt an das Phänomen der natürlichen Grenzen denken, das zur Erklärung des Entstehens von Hierarchien in menschlichen Gemeinschaften herangezogen wird: Diese wirkungsvolle Einschränkung festigt die Ungleichheit.

Die nächsten Verwandten der Schimpansen, die Bonobos, wirken auf den äußeren Beobachter friedfertiger, aber auch in ihren Gemeinschaften gibt es männliche und weibliche Alphatiere. Obwohl sie deutlich weniger gewalttätig als Schimpansen sind und weitgehend auf Schikane verzichten, leben sie in einer strikt hierarchischen Ordnung zusammen. Die Fruchtbarkeitszyklen der Weibchen sind nicht erkennbar und sie werden nicht systematisch von den Männchen dominiert, was gewaltsame Auseinandersetzungen über Paarungschancen verringert. Aber im Nahrungswettbewerb zwischen den Männchen wird die Hierarchie ersichtlich. Bei all diesen Spezies nimmt die Ungleichheit die Form eines ungleichen Zugangs zu Nahrung – dies kommt der Einkommensungleichheit zwischen Menschen am nächsten – und vor allem zur Möglichkeit zur Fortpflanzung an. Das vorherrschende Muster ist die Dominanzhierarchie, in der die größten, stärksten und aggressivsten Männchen am meisten konsumieren und sich mit mehr Weibchen paaren können.1

Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese gemeinsamen Merkmale erst herausbildeten, nachdem sich diese drei Spezies auseinanderentwickelt hatten, ein Prozess, der vor etwa elf Millionen Jahren mit dem Auftauchen der Gorillas begann und drei Millionen Jahre später zur Abspaltung des gemeinsamen Ahnen der Schimpansen und Bonobos von den frühesten Vorläufern der Arten führte, die sich zum Australopithecus und schließlich zum Homo sapiens weiterentwickeln sollten. Dennoch war eine deutliche soziale Ungleichheit unter den Primaten möglicherweise nicht immer verbreitet. Die Hierarchie ist ein Ergebnis des Lebens in Gruppen und unsere entfernteren Verwandten unter den Primaten, die sich früher aus der gemeinsamen Ahnenlinie lösten, sind heute weniger sozial und leben entweder als Einzelgänger oder in sehr kleinen oder wechselnden Gruppen. Das gilt sowohl für den Gibbon, dessen Vorfahren sich vor etwa 22 Millionen Jahren von den großen Affen abspalteten, als auch für den Orang-Utan, die erste der großen Affenarten, die sich vor 17 Millionen Jahren als eigene Spezies herausbildete und deren Lebensraum mittlerweile auf Asien beschränkt ist. Umgekehrt sind hierarchische Gesellschaften typisch für die afrikanischen Abkömmlinge dieser taxonomischen Familie, darunter unsere eigene. Das deutet darauf hin, dass der letzte gemeinsame Vorfahr von Gorillas, Schimpansen, Bonobos und Menschen dieses Merkmal bereits bis zu einem gewissen Grad entwickelte, während entferntere Vorläufer das nicht unbedingt taten.2

Analogien zu anderen Primatenspezies dürften jedoch kaum Aufschlüsse über die Entstehung der Ungleichheit unter früheren Hominini und Menschen geben. Die besten verfügbaren Proxybelege sind Skelettdaten zum Sexualdimorphismus, das heißt dazu, inwieweit die ausgereiften Angehörigen eines Geschlechts – in diesem Fall des männlichen – größer, schwerer und stärker als die des anderen sind. Bei Gorillas geht die ausgeprägte Ungleichheit zwischen Männchen mit und ohne Harem sowie zwischen Männchen und Weibchen mit einem deutlichen Größendimorphismus einher. (Das haben Gorillas zum Beispiel mit Seelöwen gemein.) Nach den fossilen Belegen zu urteilen, scheint der Dimorphismus bei den prähumanen Homininen – Australopithecus und Paranthropus, deren Auftauchen mehr als vier Millionen Jahre zurückliegt – ausgeprägter als beim Menschen gewesen zu sein. Wenn die orthodoxe Position (die in jüngster Zeit zunehmend in Zweifel gezogen wird) aufrechterhalten werden kann, hatten die männlichen Individuen einiger der frühesten Spezies, Australopithecus afarensis und Australopithecus anemensis, die vor drei bis vier Millionen Jahren auftauchten, eine um mehr als 50 Prozent größere Körpermasse als die weiblichen Individuen, während spätere Spezies in Bezug auf den Dimorphismus eine Position zwischen ihnen und dem Menschen einnahmen. Als vor mehr als zwei Millionen Jahren der mit einem größeren Gehirn ausgestattete Homo erectus auftauchte, war der Sexualdimorphismus bereits auf den relativ geringen Größenunterschied zusammengeschmolzen, der bis heute zu beobachten ist. Insofern, als das Ausmaß des Dimorphismus mit der Prävalenz eines Wettbewerbs zwischen Männchen um Weibchen korrelierte oder von der weiblichen Auswahl der Sexualpartner geprägt wurde, können geringere Unterschiede zwischen den Geschlechtern ein Hinweis auf eine geringere Reproduktionsvarianz in der männlichen Population sein. Somit verringerte die Evolution die Ungleichheit zwischen den männlichen Individuen und zwischen den Geschlechtern. Allerdings sind die bei den männlichen Individuen stärker als bei den weiblichen Individuen ausgeprägte Reproduktionsungleichheit sowie ein moderates Maß an Polygynie erhalten geblieben.3

Weitere Entwicklungen, die möglicherweise bereits vor zwei Millionen Jahren begannen, dürften ebenfalls die Gleichheit gefördert haben. Veränderungen der Gehirnstruktur und der Physiologie, die die kooperative Aufzucht des Nachwuchses begünstigten, wirkten der Aggressivität der dominanten Individuen entgegen und führten zu einer Lockerung der Hierarchie in größeren Gruppen. Innovationen bei der Gewaltanwendung dürften zu diesem Prozess beigetragen haben. Alles, was den untergeordneten Individuen half, sich gegen die dominanten zur Wehr zu setzen, dürfte deren Macht beschränkt und damit die Ungleichheit allgemein verringert haben. Hierzu gehören die Bildung von Koalitionen oder der Einsatz von Wurfwaffen. Im Nahkampf, sei es mit Händen und Zähnen oder mit Knüppeln und Steinen, waren stärkere und aggressivere Männchen im Vorteil. Wurfwaffen sorgten für ein ausgewogeneres Kräfteverhältnis, sobald sie über eine größere Entfernung hinweg eingesetzt werden konnten.

Vor rund zwei Millionen Jahren ermöglichten anatomische Veränderungen im Schultergelenk unseren Vorfahren erstmals, Steine und andere Objekte gezielt zu werfen; frühere Spezies waren dazu ebenso wenig wie heutige Primaten imstande. Diese Anpassung erleichterte den Hominini nicht nur das Jagen, sondern machte es für Gammatiere auch einfacher, Alphatiere herauszufordern. Die Herstellung von Speeren war der nächste Schritt; es folgten Weiterentwicklungen wie im Feuer gehärtete Speerspitzen und später Steinspitzen. Der kontrollierte Einsatz des Feuers dürfte etwa 800.000 Jahre alt sein und die Technologie der Hitzebehandlung gibt es seit mindestens 160.000 Jahren. Wurfpfeile oder Pfeilspitzen aus Stein, die nachweislich erstmals vor etwa 70.000 Jahren im südlichen Afrika auftauchten, waren nur der letzte Schritt im langwierigen Prozess der Entwicklung von Wurfwaffen. So primitiv sie auf den modernen Betrachter auch wirken mögen, solche Waffen eröffneten dem Geschick einen Vorteil gegenüber Größe, Kraft und Aggressivität und ermöglichten Erstschläge und Hinterhalte sowie die Zusammenarbeit zwischen schwächeren Individuen. Die Evolution der kognitiven Fähigkeiten war unverzichtbar für den gezielten Einsatz von Wurfwaffen, für die Entwicklung von Waffen und für die Bildung stabiler Koalitionen. Sprachfähigkeiten, die komplexere Allianzen ermöglichten und Moralvorstellungen festigten, dürften sich erst vor 100.000, frühestens aber vor 300.000 Jahren entwickelt haben. Die Chronologie dieser sozialen Veränderungen liegt weitgehend im Dunkeln: Möglicherweise nahmen sie die letzten zwei Millionen Jahre in Anspruch oder sie könnten allein von dem anatomisch modernen Menschen, dem Homo sapiens, bewältigt worden sein – unserer eigenen Spezies, die vermutlich vor 200.000 Jahren in Afrika auftauchte.4

Im Kontext dieser Untersuchung ist das kumulative Ergebnis entscheidend: die Fähigkeit untergeordneter Individuen, sich Alphatieren zu widersetzen, was bei den nicht homininen Primaten kaum möglich war. Wenn dominante Individuen Gruppen angehörten, deren Mitglieder über Wurfwaffen verfügten und in der Lage waren, den Einfluss der Alphatiere auszugleichen, indem sie Koalitionen bildeten, funktionierte die Beherrschung durch Einschüchterung und rohe Gewalt nicht mehr. Wenn diese Hypothese – es kann nur eine Hypothese sein – zutrifft, dann spielten Gewaltmittel, insbesondere neue Strategien zur Organisation und Androhung von Gewaltanwendung, eine wichtige und möglicherweise sogar entscheidende Rolle bei der ersten großen Nivellierung der Menschheitsgeschichte. Zu jener Zeit hatte die biologische und soziale Evolution des Menschen ein egalitäres Gleichgewicht hervorgebracht. Die Gruppen waren noch nicht groß genug, die Produktionskapazitäten noch nicht differenziert genug und die Intergruppenkonflikte und die Territorialität noch nicht ausreichend entwickelt, um eine Unterordnung unter die wenigen zur Option zu machen, die den vielen den geringsten Schaden zufügte. Die tierhaften Formen von Beherrschung und Hierarchie waren ausgehöhlt worden, aber sie waren noch nicht durch neue Formen der Ungleichheit ersetzt worden, die sich auf Domestizierung, Eigentum und Krieg stützten. Jene Welt ist weitgehend, aber nicht vollkommen verschwunden. Die wenigen verbliebenen Gemeinschaften, die heute noch zur Nahrungssuche umherziehen und sich durch eine wenig ausgeprägte Ressourcenungleichheit und einen starken egalitären Ethos auszeichnen, lassen uns ahnen, wie die Dynamik der Gleichheit im Mittel- und Jungpaläolithikum ausgesehen haben könnte.5

Erhebliche logistische und infrastrukturelle Beschränkungen tragen zur Eindämmung der Ungleichheit in Gemeinschaften von Jägern und Sammlern bei. Bei Nomaden, die nicht auf Lasttiere zurückgreifen können, sind der Anhäufung materieller Besitztümer enge Grenzen gesetzt und die geringe Größe sowie die fließende und flexible Zusammensetzung der umherziehenden Gruppen wirken der Entstehung stabiler asymmetrischer Beziehungen entgegen, sieht man von den grundlegenden alters- und geschlechtsabhängigen Machtungleichgewichten ab. Darüber hinaus beruht die Gleichheit in Jägerund Sammlergemeinschaften auf der bewussten Ablehnung von Dominationsversuchen. Diese Grundhaltung wirkt der natürlichen menschlichen Neigung zur Entwicklung von Hierarchien entgegen: Die aktive Gleichstellung dient dazu, für gleiche Ausgangsbedingungen zu sorgen. Die Anthropologen haben zahlreiche abgestufte Verhaltensmuster zur Durchsetzung egalitärer Werte nachgewiesen. Betteln, Schnorren und Diebstahl tragen zu einer gleichmäßigeren Ressourcenverteilung bei. Die Strafen für autoritäres Verhalten und Selbstüberhöhung reichen von übler Nachrede, Kritik, Spott und Ungehorsam bis zu Ausgrenzung oder sogar physischer Gewalt einschließlich der Tötung. Deshalb wird Führung zumeist subtil ausgeübt, auf zahlreiche Mitglieder der Gruppe verteilt und nur vorübergehend zugestanden; diejenigen, die ihrem Führungsanspruch den geringsten Nachdruck verleihen, können am ehesten andere beeinflussen. Diese moralische Ökonomie wird als »umgekehrte Dominanzhierarchie« bezeichnet: Unter erwachsenen Männern (die normalerweise Frauen und Kinder dominieren) bewirkt sie eine stetige und präventive Neutralisierung von Autorität.6

Bei den Hadza, einer in Tansania beheimateten Volksgruppe von wenigen Hundert Jägern und Sammlern, gehen die Angehörigen einer Gruppe einzeln auf Nahrungssuche und bevorzugen bei der Verteilung der Nahrung ihren eigenen Haushalt. Gleichzeitig wird das Teilen der Nahrung über die eigene Familie hinaus von der Gemeinschaft erwartet und ist auch üblich, vor allem, wenn die Ressourcen für andere Mitglieder der Gruppe deutlich sichtbar sind. Die Hadza versuchen oft, Honig (eines ihrer wichtigsten Nahrungsmittel) vor ihren Nachbarn zu verbergen, weil er leicht zu verstecken ist, aber wenn sie ertappt werden, sehen sie sich gezwungen, dieses Lebensmittel mit ihren Nachbarn zu teilen. Das Schnorren wird geduldet und ist verbreitet. Obwohl es die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft also offenkundig vorziehen, mehr Nahrung für sich und ihre nächsten Verwandten zu behalten, werden sie durch Normen eingeschränkt: Es ist üblich, Ressourcen zu teilen, weil es aufgrund der fehlenden Vorherrschaft einzelner Gruppenmitglieder schwer ist, sich dagegen zu sträuben. Größere Nahrungsmengen, beispielsweise Fleisch von erlegtem Wild, können sogar mit Gruppen außerhalb des eigenen Lagers geteilt werden. Das Horten von Ressourcen ist nicht wohlgelitten und die verfügbare Nahrung wird zumeist unverzüglich verzehrt; es wird nicht einmal etwas für Gruppenmitglieder beiseitegelegt, die sich gerade außerhalb des Lagers aufhalten. Die Folge ist, dass die Hadza nur sehr wenig Privatbesitz haben: Die Frauen besitzen Schmuck, Kleidung, einen Stock zum Graben und manchmal einen Kochtopf, die Männer Bogen und Pfeile, Kleidung und Schmuck und vielleicht ein paar Werkzeuge. Viele dieser Güter sind nicht sehr haltbar und ihre Besitzer binden sich nicht daran. Über diese grundlegenden Güter hinaus gibt es kein Eigentum und das Territorium wird nicht verteidigt. Das Fehlen oder die ausgeprägte Streuung der Autorität erschwert Gruppenentscheidungen und macht es fast unmöglich, sie durchzusetzen. All diese Merkmale des Sozialgefüges der Hadza sind repräsentativ für die erhalten gebliebenen Gemeinschaften von Jägern und Sammlern.7

Eine auf dem Jagen und Sammeln beruhende Subsistenz und eine egalitäre moralische Ökonomie behindern jede Form der Entwicklung aus dem einfachen Grund, weil ein gewisses Maß an Ungleichheit von Einkommen und Konsum die notwendige Voraussetzung für Innovationen und die Produktion von Überschüssen ist. Ohne Wachstum gibt es keine Überschüsse, die man sich aneignen und weitergeben kann. Die egalitäre moralische Ökonomie verhindert das Wachstum und ohne Wachstum kann es keine Produktion und Konzentration von Überschüssen geben. Das bedeutet nicht, dass die Jäger- und Sammlergesellschaften kommunistisch wären: Der Konsum ist nicht gleich verteilt und die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaften unterscheiden sich nicht nur in ihren körperlichen Anlagen, sondern auch in Bezug auf ihren Zugang zu Unterstützungsnetzen und materiellen Ressourcen. Wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, ist die Ungleichheit zwischen den Jägern und Sammlern nicht inexistent, sondern lediglich sehr gering verglichen mit jener in Gesellschaften, die sich auf andere Subsistenzmodi stützen.8

Wir müssen aber auch im Auge behalten, dass sich heutige Jägerund Sammlergesellschaften möglicherweise erheblich von unseren präagrarischen Vorfahren unterscheiden. Die Jäger und Sammler, die bis heute überlebt haben, sind vollkommen marginalisiert und auf Gebiete beschränkt, die für Bauern und Hirten unerreichbar oder uninteressant sind: Sie leben in einer Umwelt, die eine Lebensweise begünstigt, in der die Anhäufung materieller Ressourcen und die Beanspruchung eines Territoriums keine Rolle spielen. Bevor Pflanzen und Tiere für die Nahrungsmittelproduktion domestiziert wurden, waren die Jäger und Sammler über die Erde verteilt und hatten Zugang zu einem größeren Angebot an natürlichen Ressourcen. Hinzu kommt, dass die Lebensweise der heutigen Jäger und Sammler in einigen Fällen eine Reaktion auf die Existenz hierarchischer organisierter Agrarund Weidegesellschaften darstellt, von deren Normen sie sich abgrenzen. Die verbliebenen Jäger und Sammler sind keine zeitlosen Gesellschaften oder »lebenden Fossilien« und ihr Verhalten muss im historischen Kontext betrachtet werden.9

Aus diesem Grund müssen prähistorische Gemeinschaften nicht immer so egalitär gewesen sein, wie man mit Blick auf die heutigen Jäger und Sammler meinen könnte. Materielle Ungleichheit bei Begräbnispraktiken in der Frühphase des Holozäns, das vor etwa 11.700 Jahren begann, ist selten, aber nachweisbar. Das bekannteste Beispiel für unverdienten Status und Ungleichheit stammt aus einer Siedlung im knapp 200 Kilometer nördlich von Moskau gelegenen Ort Sungir. Die Siedlung ist etwa 30.000 bis 34.000 Jahre alt, entstand also in einer relativ milden Phase der letzten Eiszeit. Dort wurden die Überreste einer Gruppe von Jägern und Sammlern gefunden, die große Säugetiere wie Steppenwisente, Pferde, Rentiere, Antilopen und insbesondere Mammuts, aber auch Wölfe, Füchse, Braunbären und Höhlenlöwen töteten und aßen. Drei Grabstätten heben sich von den übrigen ab. Ein erwachsener Mann wurde mit rund 3000 Elfenbeinperlen aus Mammutstoßzähnen, die vermutlich an seinen Pelz genäht waren, sowie mit rund zwanzig Anhängern und fünfundzwanzig Elfenbeinringen begraben. Ein weiteres Grab ist die letzte Ruhestätte eines etwa zehn Jahre alten Mädchens und eines zwölfjährigen Jungen. Die Kleidung beider Kinder war mit einer noch größeren Anzahl von insgesamt etwa 10.000 Elfenbeinperlen besetzt und zu den Grabbeilagen zählten zahlreiche Prestigegegenstände wie aus Mammutstoßzähnen gefertigte Speere und verschiedene Kunstgegenstände.

Die Erzeugung dieser Grabbeilagen muss sehr aufwendig gewesen sein: Forscher schätzen, dass es zwischen fünfzehn und fünfundvierzig Minuten dauerte, um eine einzige Perle zu schnitzen, womit eine Person, die vierzig Stunden in der Woche arbeitete, zwischen 1,6 und 4,7 Jahre gebraucht hätte, um all diese Perlen anzufertigen. Um sich die 300 Fangzähne anzueignen, die an einem Gürtel und einer Kopfbedeckung in dem Grab der beiden Kinder befestigt waren, waren mindestens 75 Polarfüchse erlegt worden – und in Anbetracht der Tatsache, dass es schwierig war, diese Zähne unbeschädigt aus dem Gebiss der Tiere zu ziehen, war die tatsächliche Anzahl vermutlich höher. Diese Gruppe dürfte relativ sesshaft gewesen sein, weshalb ihre Mitglieder genug Zeit hatten, um diesen Tätigkeiten nachzugehen. Die Frage ist jedoch, warum sie das überhaupt taten. Diese drei Personen wurden offenbar nicht in Alltagskleidung und mit alltäglichen Objekten beerdigt. Die Tatsache, dass die Perlen im Grab der beiden Kinder kleiner als die des Mannes waren, deutet darauf hin, dass sie gezielt für die Kinder angefertigt wurden, sei es zu ihren Lebzeiten oder (was wahrscheinlicher ist) für ihr Begräbnis. Aus uns unbekannten Gründen waren diese Personen in den Augen ihrer Gemeinschaft etwas Besonderes, aber die beiden Kinder waren zu jung, um sich diese Vorzugsbehandlung verdient zu haben: Vielleicht verdankten sie ihren Status der Verwandtschaft mit einer Person, die wichtiger als andere Mitglieder der Gruppe war. Die Tatsache, dass das Skelett des Mannes und das des Jungen Spuren möglicherweise tödlicher Verletzungen aufweisen und dass das Mädchen durch einen verkürzten Oberschenkelknochen behindert war, macht die Geschichte nur noch geheimnisvoller.10

Zwar wurde bisher keine weitere paläolithische Grabstätte gefunden, die auf eine ähnlich glanzvolle Bestattung wie die in Sungir hindeuten würde, aber weiter westlich existieren Gräber, die ebenfalls reiche Grabbeigaben enthalten. Im heutigen Dolní Věstovice in Mähren wurden etwa zur selben Zeit drei Individuen mit reichem Kopfschmuck in einem Grab bestattet, dessen Boden mit Bismit gefärbt worden war. Die Beispiele aus späterer Zeit sind zahlreicher: In der Höhle von Arene Candide an der ligurischen Küste wurde ein tiefes Grab gefunden, in dem vor etwa 28.000 oder 29.000 Jahren ein reich geschmückter halbwüchsiger Mann auf einem roten Bismitbett bestattet worden war. Hunderte perforierte Muscheln und Hirschzähne, die rund um seinen Kopf verstreut lagen, waren ursprünglich vermutlich an einer Kopfbedeckung aus organischem Material befestigt. Anhänger aus Mammutelfenbein, vier Stäbe aus Elchgeweihen und eine außergewöhnlich lange Klinge aus seltenem Feuerstein, die in seine rechte Hand gelegt worden war, ergänzten das Ensemble. Eine junge Frau, die vor rund 16.000 Jahren im heutigen Saint-Germaine-de-la-Rivière bestattet wurde, trug ebenfalls Schmuck aus Muscheln und Zähnen; die rund siebzig durchbohrten Rothirschzähne müssen aus einem etwa 300 Kilometer entfernten Gebiet importiert worden sein. Und vor etwa 10.000 Jahren betteten Jäger und Sammler im frühen Holozän in einem der Felsüberhänge von La Madeleine in der Dordogne ein dreijähriges Kind mit 1500 Muschelperlen zur letzten Ruhe.11

Es liegt nahe, diese Funde als die frühesten Vorboten der Ungleichheit zu deuten. Belege für hoch entwickelte und vereinheitlichte Handwerksproduktion, für die Investition von Zeit in repetitive Tätigkeiten und für den Einsatz von Rohstoffen, die aus großer Entfernung herbeigeschafft wurden, deuten auf wirtschaftliche Aktivitäten hin, die weiter entwickelt waren als die heutiger Jäger und Sammler. Und sie sind Hinweise auf soziale Unterschiede, die normalerweise nicht mit dem Lebensstil solcher Gesellschaften verbunden werden: Verschwenderische Gräber für Kinder und Halbwüchsige deuten auf eine zuerkannte und möglicherweise sogar geerbte Sonderstellung hin. Von diesen Funden auf die Existenz hierarchischer Beziehungen zu schließen, ist schwierig, aber es ist zumindest eine plausible Möglichkeit. Es gibt jedoch keinen Hinweis auf dauerhafte Ungleichheit. Wachsende Komplexität und Statusdifferenzierung scheinen vorübergehend gewesen zu sein. Der Egalitarismus muss keine stabile Kategorie sein: Möglicherweise änderte sich das Sozialverhalten abhängig von den Umständen oder sogar von jahreszeitlichen Erfordernissen. Und obwohl die frühesten Küstensiedlungen, Wiegen der sozialen Entwicklung, in denen der Zugang zu maritimen Nahrungsressourcen wie Schalentieren die Territorialität und eine effektivere Führung förderte, möglicherweise schon vor 100.000 Jahren entstanden, gibt es zumindest bisher keinen Beleg für eine damit einhergehende Entstehung von Hierarchien und Konsumungleichheit. Soweit wir wissen, war soziale oder wirtschaftliche Ungleichheit in der Altsteinzeit sporadisch und vorübergehend.12

Die große Entegalisierung

Die Ungleichheit breitete sich erst nach dem Ende der letzten Eiszeit aus, als eine Phase ungewöhnlich stabiler Klimabedingungen begann. Das Holozän, die erste interglaziale Wärmeperiode seit mehr als 100.000 Jahren, schuf eine Umwelt, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung begünstigte. Die besseren Bedingungen ermöglichten es den Menschen, mehr Energie zu gewinnen und sich zu vermehren, und schufen zugleich die Grundlage für eine zusehends ungleiche Verteilung von Macht und materiellen Ressourcen. Dies führte zu dem Prozess, den ich als »große Entegalisierung« bezeichne, zum Übergang zu neuen Subsistenzmodi und neuen Formen der sozialen Organisation, die den Egalitarismus der Jäger- und Sammlergesellschaften untergrub und durch dauerhafte Hierarchien und eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ersetzte. Diese Entwicklungen wurden erst möglich, als es Produktionsmittel gab, die gegen Übergriffe verteidigt werden konnten und mit denen ihre Eigentümer vorhersehbare Überschüsse erzielen konnten. Die Nahrungsproduktion durch Ackerbau und Nutztierhaltung erfüllte beide Kriterien und trug wesentlich zum wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel bei.

Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren war jedoch keine unerlässliche Voraussetzung für diesen Wandel. Unter bestimmten Bedingungen waren Jäger und Sammler zu einer entsprechenden Nutzung nicht domestizierter natürlicher Ressourcen imstande. Territorialität, Hierarchie und Ungleichheit konnten dort entstehen, wo der Fischfang nur an bestimmten Orten möglich oder besonders produktiv war. Dieses Phänomen, das als maritime Anpassung bezeichnet wird, ist ethnografisch gut belegt. Ab etwa 500 n. Chr. veranlasste der Druck auf die Fischgründe infolge des Bevölkerungswachstums an der nordamerikanischen Westküste von Alaska bis Kalifornien Jäger-und-Sammler-Gesellschaften dazu, sich die Kontrolle über bestimmte Lachsfanggebiete zu sichern. Diese Entwicklung ging teilweise mit dem Übergang von überwiegend einheitlichen zu stratifizierten Siedlungen einher, in denen große Häuser für die Häuptlingsfamilien, ihre Gefolgschaft und ihre Sklaven entstanden.13

In detaillierten Fallstudien ist der enge Zusammenhang zwischen der Ressourcenknappheit und der Entwicklung der Ungleichheit untersucht worden. Etwa zwischen 400 und 900 n. Chr. lebte in Keatley Creek beim Fraser River in British Columbia eine Gemeinschaft mit mehreren Hundert Mitgliedern, die die Lachswanderungen in der Gegend für sich nutzten. Aus archäologischen Funden geht hervor, dass der Lachskonsum um das Jahr 800 zurückging und der Fisch durch Säugetierfleisch ersetzt wurde. Zu dieser Zeit sind Hinweise auf wachsende Ungleichheit zu beobachten. Ein großer Teil der Fischgräten, die in den Gruben der größten Häuser gefunden wurden, stammt von großen Königs- und Rotlachsen, wegen ihres hohen Fett- und Kaloriengehalts begehrten Fischen. Dort sind auch Prestigeobjekte wie seltene Steine zu finden. Hingegen wurden in zwei der kleinsten Häuser nur Gräten von jüngeren und weniger nahrhaften Fischen gefunden. Wie in vielen anderen vergleichbar komplexen Gesellschaften wurde die Ungleichheit mittels zeremonieller Umverteilung zugleich gefeiert und gemildert: Röstgruben, die groß genug waren, um Nahrungsmittel für große Menschenmengen zuzubereiten, deuten darauf hin, dass die Wohlhabenden und Mächtigen Festmahle für die Gemeinschaft veranstalteten. Tausend Jahre später waren an der Nordwestküste Amerikas Potlatsch-Rituale üblich, bei denen die Stammesführer versuchten, sich gegenseitig an Großzügigkeit zu überbieten. Ähnliche Veränderungen fanden am nahe gelegenen Bridge River statt: Etwa ab dem Jahr 800 begannen die Bewohner großer Häuser, Prestigeobjekte anzuhäufen, und gaben die Zubereitung gemeinschaftlicher Mahlzeiten unter freiem Himmel auf. Gleichzeitig schlossen sich ärmere Mitglieder der Gemeinschaft diesen Haushalten an und die Ungleichheit wurde institutionalisiert.14

In anderen Fällen wurde der entegalisierende soziale und wirtschaftliche Wandel durch den technologischen Fortschritt vorangetrieben. Die Chumash an der kalifornischen Küste lebten in einem Gebiet, das heute den Countys Santa Barbara und Ventura entspricht, Tausende Jahre als egalitäre Jäger und Sammler, die einfache Boote verwendeten und Eicheln sammelten. Zwischen 500 und 700 erlaubte die Entwicklung großer hochseetauglicher Plankenkanus, die Platz für ein Dutzend Männer boten und mehr als hundert Kilometer aufs Meer hinausfahren konnten, den Chumash die Jagd auf größere Fische; außerdem konnten sie sich als Mittelsmänner im Muschelhandel entlang der Küste etablieren. Sie tauschten auf den Channel Islands gesammelten Feuerstein bei Gruppen im Inland gegen Eicheln, Nüsse und essbare Gräser ein. Es entstand eine hierarchische Ordnung, in der polygame Häuptlinge die Kanus und den Zugang zu Territorien kontrollierten, ihre Gefolgschaft in den Krieg führten und rituelle Zeremonien leiteten. Im Gegenzug erhielten sie von ihren Gefolgsleuten Nahrungsmittel und Muscheln. Unter solchen Bedingungen konnte die Struktur von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften relativ komplex werden. Als die Abhängigkeit von örtlich konzentrierten Ressourcen wuchs, nahm die Mobilität ab und spezialisierte Tätigkeiten – strikt definierte Besitzansprüche auf Vermögenswerte, die Verteidigung des Territoriums und ein intensiver Wettbewerb zwischen benachbarten Gruppen, der normalerweise mit der Versklavung von Gefangenen einherging – festigten die Hierarchie und die Ungleichheit zwischen den Mitgliedern.15

In Jäger-und-Sammler-Gesellschaften war eine solche Anpassung nur in bestimmten ökologischen Nischen möglich und blieb normalerweise auf diese beschränkt. Nur die Domestizierung von Pflanzen und Tieren konnte die wirtschaftliche Aktivität und die sozialen Beziehungen in globalem Maßstab transformieren: Ohne Domestizierung wäre eine ausgeprägte Ungleichheit vermutlich auf kleine Nischen in Küstengebieten und an Flüssen beschränkt geblieben, umgeben von einer Welt egalitärer Jäger und Sammler. Aber dazu kam es nicht. Auf verschiedenen Kontinenten wurde eine Vielzahl essbarer Pflanzen domestiziert: zuerst in Südwestasien vor etwa 11.500 Jahren, dann in China und Südamerika vor 10.000 Jahren, in Mexiko vor 9000 Jahren, in Neu-Guinea vor über 7000 Jahren und in Südasien, Afrika und Nordamerika vor etwa 5000 Jahren. Dort, wo Tiere domestiziert wurden, ging dieser Prozess dem Pflanzenanbau manchmal voraus und folgte in anderen Fällen darauf. Der Übergang vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft war teilweise ein langwieriger Prozess, der nicht immer linear verlief.16

Das gilt insbesondere für die Natufien-Kultur und ihre neolithischen Nachfolger in der Levante, die diesen Übergang als Erste vollzogen. Vor etwa 14.500 Jahren ermöglichte ein wärmeres und regenreicheres Klima ein Bevölkerungswachstum unter den in der Region beheimateten Jägern und Sammlern. Sie begannen, in ortsfesteren Siedlungen zu leben, das reichlich vorhandene Wild zu jagen und wildes Getreide in so großen Mengen zu sammeln, dass zumindest kleine Speicher dafür angelegt werden mussten. Die materiellen Belege sind sehr begrenzt, aber führende Experten sehen Hinweise auf das »Entstehen einer sozialen Hierarchie«. Archäologen haben ein größeres Gebäude, das möglicherweise für die gemeinschaftliche Nutzung bestimmt war, sowie einige Basaltmörser entdeckt, deren Anfertigung sehr aufwendig war. Nach einer Zählung trugen etwa acht Prozent der gefundenen Skelette aus der Frühzeit Natufiens (vor etwa 14.500 bis 12.800 Jahren) Muscheln, die manchmal aus Hunderten Kilometern Entfernung gekommen waren, sowie Schmuck aus Knochen oder Zähnen. An einem Fundort lagen drei Männer mit Kopfschmuck aus Muscheln begraben und eines der Skelette war von vier Muschelreihen gesäumt. Nur wenige Gräber enthielten Steinwerkzeuge und -figuren. Große Röstgruben und Kochstellen deuten auf Feste hin, die so wie die sehr viel später im Nordwesten Amerikas veranstalteten der Umverteilung dienten.17

Doch jegliche soziale Stratifizierung und Ungleichheit, die sich unter diesen günstigen Umweltbedingungen herausgebildet hatten, lösten sich in einer als Jüngere Dryas bezeichneten Kälteperiode, die etwa 12.800 bis 11.700 Jahre zurückliegt, wieder auf. Die verbliebenen Jäger und Sammler gingen wieder zu einer mobileren Lebensweise über, da die lokalen Ressourcen schwanden oder weniger vorhersehbar wurden. Als sich das Klima vor rund 11.700 Jahren stabilisierte, wurden erstmals nachweislich Wildpflanzen wie Einkorn, Emmer, Weizen und Gerste angebaut. In der Zeit, die als frühes präkeramisches Neolithikum bezeichnet wird (vor etwa 11.500 bis 10.500 Jahren), wuchsen die Siedlungen und schließlich wurden Nahrungsmittel in den einzelnen Haushalten aufbewahrt, was auf einen Wandel des Eigentumskonzepts hindeutet. Die Tatsache, dass erstmals ausgefallene Materialien wie Obsidian auftauchten, lässt vermuten, dass bestimmte Mitglieder von Gemeinschaften einen höheren sozialen Status zur Schau stellen wollten. Über das spätere präkeramische Neolithikum (vor 10.500 bis 8300 Jahren) liegen genauere Erkenntnisse vor. Vor etwa 9000 Jahren befand sich am Ort des heutigen Çayönü in der Südosttürkei eine Siedlung, die in verschiedene Zonen mit Häusern von unterschiedlicher Größe und Qualität unterteilt war. In den größeren und solider gebauten Gebäuden, die überwiegend in unmittelbarer Nähe eines Platzes und eines Tempels standen, sind ungewöhnliche und exotische Gegenstände gefunden worden. In nur wenigen Gräbern lagen Obsidian, Perlen oder Werkzeuge, aber drei der vier reichsten Grabstätten in Çayönü befanden sich in an den Hauptplatz angrenzenden Häusern. All das deutet auf die Existenz einer Elite hin.18

Zweifellos wurde die in den folgenden Jahrtausenden zu beobachtende Ungleichheit zumeist durch die Landwirtschaft ermöglicht. Es gab jedoch noch weitere Möglichkeiten. Ich habe bereits maritime oder litorale Anpassungen erwähnt, die auch in Ermangelung einer Domestizierung von pflanzlichen und tierischen Nahrungsquellen die Entstehung beträchtlicher politischer und wirtschaftlicher Ungleichheit ermöglichten. In anderen Fällen konnte die Domestizierung von Pferden, die sodann als Beförderungsmittel dienten, auch ohne Nahrungsmittelproduktion eine entegalisierende Wirkung haben. Im 18. und 19. Jahrhundert stützte sich die Kriegerkultur der Komantschen im amerikanischen Südwesten auf Pferde europäischen Ursprungs, mit denen die Indianer über große Entfernungen hinweg Krieg führten und Raubzüge unternahmen. Ihre wichtigste Nahrungsquelle waren Bisons und andere wild lebende Säugetiere, ergänzt durch Wildpflanzen und Mais, den sich die Komantschen durch Handel oder Plünderung beschafften. Diese Lebensweise brachte eine ausgeprägte Ungleichheit hervor: Gefangene Jungen wurden eingesetzt, um die Pferde der Reichen zu versorgen, und die Haushalte wurden abhängig von der Anzahl der Pferde in ihrem Besitz strikt in »Reiche« (tsaanaakuta), »Arme« (tahkapu) und »sehr Arme« (tubitsi tahkapu) unterteilt. Allgemein können wir festhalten, dass in Jäger-und-Sammler-, hortikulturellen und Argargesellschaften kein systematisch unterschiedliches Maß an Ungleichheit herrschte: In manchen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften war die Ungleichheit stärker ausgeprägt als in manchen Agrargemeinschaften. Die Ergebnisse einer Studie über 258 indigene Gesellschaften in Nordamerika deuten darauf hin, dass nicht die Domestizierung an sich, sondern die Höhe des erzielten Überschusses entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß an materieller Ungleichheit hatte: Während bei zwei Dritteln der Gesellschaften, die keinerlei oder nur geringe Überschüsse erwirtschafteten, keine Ressourcenungleichheit zu beobachten war, bildete sich in vier Fünftel aller Gesellschaften, die moderate oder große Überschüsse erzielten, Ungleichheit heraus. Diese Korrelation ist sehr viel höher als die zwischen verschiedenen Formen von Subsistenzwirtschaft und Ungleichheit.19

In einer Studie über 21 kleine Gesellschaften auf verschiedenen Entwicklungsstufen – Jäger und Sammler, Pflanzenbauer, Nutztierhalter und Ackerbauern – und in verschiedenen Teilen der Welt wurden zwei Faktoren identifiziert, die sich entscheidend auf das Maß an Ungleichheit auswirken. Dies sind Eigentumsansprüche auf Land und Nutztiere sowie die Fähigkeit, Vermögen von einer Generation auf die nächste zu übertragen. Die Forscher sahen sich drei verschiedene Arten von Vermögen an: verkörpertes (im Wesentlichen Körperkraft und Fortpflanzungserfolg), relationales (kooperative Netzwerke) und materielles (Haushaltsgüter, Landbesitz und Nutztiere). In den untersuchten Gesellschaften war das verkörperte Vermögen bei Jägern und Sammlern sowie Pflanzenbauern die wichtigste Vermögenskategorie, während der materielle Wohlstand in diesen Gemeinschaften die geringste Bedeutung hatte. Bei Nutztierhaltern und Ackerbauern verhielt es sich umgekehrt. Das relative Gewicht verschiedener Vermögenskategorien gibt wichtige Aufschlüsse über das allgemeine Maß an Ungleichheit. Dem verkörperten Vermögen sind relativ enge physische Grenzen gesetzt, insbesondere, was Körpergröße und in geringerem Maß Körperkraft, Jagdertrag und Reproduktionserfolg anbelangt. Obwohl das relationale Vermögen flexibler ist, war es unter Ackerbauern und Viehhaltern auch ungleichmäßiger verteilt und das Ausmaß der Ungleichheit des Land- und Viehbesitzes in diesen beiden Gruppen war größer als das des Besitzes an Utensilien bei Pflanzenbauern oder der Anteil am Besitz von Booten bei aquatischen Jägern. Die beobachteten Unterschiede zwischen den Subsistenzmodi beruhen auf der Kombination verschiedenartiger Einschränkungen der Ungleichverteilung unterschiedlicher Vermögensarten mit der relativen Signifikanz bestimmter Arten von Vermögen. Die durchschnittlichen Gini-Koeffizienten, die Aufschluss über das Maß an Ungleichheit geben, sind für Jäger/Sammler und Pflanzenbauern mit 0,25 bis 0,27 sehr niedrig, während sie für Nutztierhalter (0,42) und Ackerbauern (0,48) sehr viel höher sind. Wenn wir nur das materielle Vermögen betrachten, scheint die Kluft zwischen Jägern und Sammlern (0,36) und den übrigen Subsistenzmodi (0,51 bis 0,57) besonders groß zu sein.20

Die Übertragbarkeit von Vermögen ist eine weitere wichtige Variable. In Agrar- und Weidegesellschaften wurde etwa doppelt so viel Vermögen auf die nachfolgenden Generationen übertragen wie in den anderen Gesellschaften, denn ihr materielles Vermögen eignete sich sehr viel besser zur Übertragung als die Vermögenswerte von Jägern/Sammlern und Pflanzenbauern. Diese systematischen Unterschiede haben erheblichen Einfluss auf die Ungleichheit der Lebensaussichten, gemessen an der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind von Eltern im höchsten Vermögensdezil im selben Dezil landen wird, und der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind von Eltern, die dem ärmsten Dezil angehören, in das wohlhabendste aufsteigen wird. Wendet man diese Definition an, so war die intergenerationale Mobilität generell nicht sehr ausgeprägt: Selbst bei Jägern/Sammlern und in hortikulturellen Gesellschaften war die Wahrscheinlichkeit, dass Nachkommen von Familien im vermögendsten Dezil derselben Gruppe angehören würden, mindestens dreimal so hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Abkömmlinge von Familien im ärmsten Dezil in diese Gruppe aufsteigen würden. Aber bei Ackerbauern waren die Aussichten der Abkömmlinge wohlhabender Familien sehr viel besser (etwa elfmal so gut wie die von Abkömmlingen armer Familien) und bei Viehhaltern waren sie noch besser (etwa zwanzigmal so gut). Diese Diskrepanzen können auf zwei Faktoren zurückgeführt werden. Der Effekt ist etwa zur Hälfte auf die Technologie zurückzuführen, die die relative Bedeutung und die Merkmale der verschiedenen Vermögenstypen bestimmt. Die andere Hälfte ist mit den Institutionen zu erklären, die den Modus der Vermögensübertragung regeln, da die Normen von Ackerbauern und Hirten die vertikale Übertragung auf die Nachkommen bevorzugen.21

Aus dieser Analyse geht hervor, dass die Ungleichheit und ihre Dauerhaftigkeit das Resultat einer Kombination von drei Faktoren sind: Dies sind die relative Bedeutung verschiedener Kategorien von Vermögenswerten, die Eignung dieser Vermögenswerte zur Übertragung auf andere Personen und die tatsächlichen Übertragungsraten. In Gemeinschaften, in denen der materielle Besitz eine untergeordnete Rolle spielt oder nicht leicht zur Übertragung geeignet ist und in denen das Erbe nicht gefördert wird, ist die Ungleichheit weniger ausgeprägt als in Gemeinschaften, in denen das materielle Vermögen dominiert, gut übertragen werden kann und der nächsten Generation überlassen werden darf. Langfristig ist die Übertragbarkeit entscheidend: Wird das Vermögen von einer Generation an die nächste weitergegeben, so wirken sich willkürliche Erschütterungen in Zusammenhang mit Krankheiten, Gebärfähigkeit sowie Kapital- und Arbeitserträgen, die Ungleichheit erzeugen, dauerhaft und kumulativ aus, anstatt dass die Verteilungsergebnisse wieder zum Mittelwert zurückkehren könnten.22

Im Einklang mit den Ergebnissen der zuvor erwähnten Studie über indigene amerikanische Gesellschaften deuten die empirischen Erkenntnisse aus dieser Untersuchung von 21 kleinen Gesellschaften darauf hin, dass die Domestizierung von Wildpflanzen und -tieren keine ausreichende Voraussetzung für eine signifikante Entegalisierung ist. Größeren Einfluss scheint das Vorhandensein natürlicher Ressourcen zu haben, die verteidigt werden können, denn diese können im Allgemeinen der nächsten Generation hinterlassen werden. Dasselbe gilt für Investitionen in Pflüge, Terrassierung und Bewässerung von Feldern. Die Möglichkeit, solche Produktionsmittel samt ihren Verbesserungen zu vererben, begünstigt die Ungleichheit auf zwei Arten: Sie sorgt dafür, dass die Ungleichheit im Lauf der Zeit zunimmt, und sie verringert die intergenerationale Varianz und Mobilität. Eine sehr viel umfassendere Studie über mehr als tausend Gesellschaften auf verschiedenen Entwicklungsstufen bestätigt die zentrale Funktion der Vermögensübertragung. Aus diesem globalen Datensatz geht hervor, dass etwa ein Drittel der einfachen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften Regeln für die Vererbung beweglichen Eigentums haben, während nur jede zwölfte die Übertragung von Grund und Boden anerkennt. Hingegen gibt es in fast allen Gesellschaften, die eine intensive Landwirtschaft betreiben, Regeln für beides. Komplexe Jäger-und-Sammler-Gesellschaften und hortikulturelle Gesellschaften nehmen eine Zwischenposition ein. Voraussetzung für die Vererbung von Eigentum ist die Existenz von Eigentumsrechten. Wir können nur vermuten, unter welchen Umständen diese entstanden: Samuel Bowles erklärt, dass der Ackerbau die Festlegung von Eigentumsrechten begünstigte, die für Jäger und Sammler unpraktisch oder nicht durchsetzbar waren, weil landwirtschaftliche Ressourcen wie Nutzpflanzen, Gebäude und Tiere leicht abgegrenzt und verteidigt werden können, was für die verstreuten natürlichen Ressourcen, von denen Jäger und Sammler leben, nicht gilt. Die Existenz von Ausnahmen wie aquatischen Anpassungen und Reiterkulturen deckt sich vollkommen mit dieser Erklärung.23

Die historische Entwicklung der Ungleichheit verlief manchmal langsam. Çatal Höyük, eine neolithische protourbane Siedlung in Südwestanatolien, die im achten vorchristlichen Jahrtausend entstand, ist ein gutes Anschauungsbeispiel. Die Lebensgrundlage von mehreren Tausend Einwohnern bildete eine Mischung aus hortikulturellem Hackbau und Viehhaltung. Es gab Land im Überfluss und es existieren keine klaren Hinweise auf die Existenz von Regierungsstrukturen oder sozialer Stratifizierung. Die Familien lebten in Häusern, in denen sie Getreide, Früchte und Nüsse speicherten. Am Ort der Siedlung sind zahlreiche steinerne Gegenstände gefunden worden. Eine große Studie über 2429 Gegenstände aus zwanzig Gebäuden und neun Höfen, die zwischen 7400 und 6000 v. Chr. bewohnt wurden, hat eine unterschiedliche Verteilung bestimmter Artefakte zutage gefördert. Die intakten Mühl- und Lagersteine sind sehr ungleichmäßig über die Häuser verteilt, obwohl die meisten Haushalte Zugang zu Kochgegenständen und Steinwerkzeugen hatten. Unbeschädigte Lagersteine wurden vorwiegend in anspruchsvolleren Gebäuden gefunden, aber wir können nicht sagen, ob die Mühlsteine ein Hinweis auf einen höheren sozialen Status dieser Haushalte sind oder ob diese Häuser lediglich als Treffpunkte dienten, an denen die Mitglieder der Gemeinschaft kooperativen Tätigkeiten zur Nahrungsmittelverarbeitung nachgingen. Die Beobachtung, dass die meisten Mühlsteine gezielt zerstört wurden, lange bevor sie nicht mehr brauchbar waren, widerspricht möglicherweise der ersten Interpretation. Dieser Brauch könnte sogar auf ein verbreitetes, wenn auch nicht universelles Verbot der intergenerationalen Übertragung dieser wertvollen Gegenstände hindeuten: In späteren mesopotamischen Gesellschaften zählten Mühlsteine zu den wichtigsten vererbbaren Vermögenswerten. Möglicherweise wurden Nivellierungsmaßnahmen ergriffen, um Vermögensunterschiede zwischen den Haushalten auszugleichen.24

Im Lauf der Zeit wurde die Ungleichheit jedoch zur Regel. Archäologische Funde aus Mesopotamien liefern deutliche Hinweise darauf, dass lange vor Entstehung der ersten Staaten im Zweistromland eine Stratifizierung stattfand. In Tell as-Sawwan am Tigris, nördlich des heutigen Bagdad, wurden in einem Graben rund um einen Lehmwall zahlreiche Schleudergeschosse aus Ton gefunden, die auf einen gewaltsam ausgetragenen Konflikt vor etwa 7000 Jahren hindeuten. Es herrschten also Bedingungen, die die Entstehung einer zentralisierten Führung und einer Hierarchie begünstigten. In einigen der Gräber, in denen besonders viele Wertgegenstände gefunden wurden, lagen Kinder, was auf Statusunterschiede hindeutet, die nicht auf persönlichem Verdienst, sondern auf dem Wohlstand der Familie beruhten. In Tell Arpachiyah bei Mossul wurde eine Siedlung ausgegraben, die etwa zur selben Zeit wie jene in Tell as-Sawwan bewohnt war. Dort wurde ein Haus gefunden, das offenbar einer Familie mit hohem Status gehörte. Es bestand aus zahlreichen Räumen, in denen edle Töpferarbeiten, Alabastergefäße, Obsidian und verschiedene Arten von Schmuckstücken und Werkzeugen gefunden worden sind. In dieser Siedlung kontrollierten die Führer der Gemeinschaft den Handel und versiegelten Lieferungen mit Tonklumpen, in die einfache Siegel geritzt wurden, bevor sie trockneten; dies waren frühe Vorläufer der komplexen Siegel, die später in Mesopotamien zum Einsatz kamen. Es ist aufschlussreich, dass in Jarim Tepe ein eingeäscherter Jugendlicher nicht nur mit Obsidianperlen, sondern auch mit einem Prägestock bestattet wurde, was ihn als Abkömmling und möglicherweise designierten Erben eines solchen Amtsträgers auswies.25

Zu jener Zeit, das heißt zwischen 6000 und 4000 v. Chr., existierten bereits alle grundlegenden Bestandteile struktureller Ungleichheit: zahlreiche Verteidigungsanlagen, die auf einen Wettbewerb um knappe Ressourcen und die Notwendigkeit effektiver Führung hindeuten; säkulare öffentliche Gebäude, die vermutlich für Regierungsfunktionen genutzt wurden; Schreine in Häusern und Tempel, die auf die Bedeutung ritueller Macht hindeuten; Hinweise auf erbliche Ränge, darunter reich ausgestattete Kindergräber; Belege für den Austausch von Handwerkserzeugnissen zwischen Angehörigen der Elite in verschiedenen Siedlungen. Die politische, militärische und wirtschaftliche Entwicklung differenzierte die Bevölkerung und herausragende Positionen, die Kontrolle über den wirtschaftlichen Austausch sowie persönlicher Reichtum gingen Hand in Hand.

In anderen Kontexten ging die politische Führung mit einem hohen Maß an materieller Ungleichheit einher. Auf einem Gräberfeld in Varna (im heutigen Bulgarien) am Schwarzen Meer wurden mehr als zweihundert Gräber aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. gefunden, in denen noch die Skelette der dort beerdigten Menschen lagen. Ein Grab unterscheidet sich von allen anderen. Darin war ein Mann mittleren Alters mit nicht weniger als 990 goldenen Objekten bestattet worden, die insgesamt mehr als drei Pfund wogen: Er war mit Goldschmuck bedeckt, der ursprünglich wahrscheinlich an seiner Kleidung befestigt war, trug schwere Goldreifen um die Arme und hielt ein Axtzepter; sogar sein Penis war in Gold eingefasst. Das Grab dieses Mannes enthielt ein Drittel aller goldenen Gegenstände, die an diesem Ort gefunden wurden, und, gemessen am Gewicht, ein Viertel des gesamten Goldes. Die Grabbeigaben waren sehr ungleich verteilt: Mehr als die Hälfte der belegten Gräber enthielt Gegenstände, aber weniger als ein Zehntel enthielt große Mengen und nur in einer Handvoll wurden zahlreiche verschiedene Materialien einschließlich großer Mengen von Gold gefunden. Der Gini-Koeffizient für die Anzahl der Güter pro Grab liegt abhängig von der Periode zwischen 0,61 und 0,77, wäre jedoch sehr viel höher, wenn eine wertbereinigte Verteilung ermittelt werden könnte. Obwohl wir über die Organisation dieser Gesellschaft nur Vermutungen anstellen können, kann kein Zweifel an ihrer hierarchischen Struktur bestehen. Der mit Gold bedeckte Mann und einige weniger bedeutende Figuren dürften die Gemeinschaft geführt haben.26

Diese Erkenntnisse deuten auf eine weitere Quelle der Ungleichheit hin. Die Kombination der Überschussextraktion aus Ressourcen, die verteidigt werden konnten, mit individuellen oder familiären Eigentumsansprüchen auf diese Ressourcen einschließlich des Rechts zur Übertragung auf direkte Nachkommen oder andere Verwandte legte den Grundstein für eine wachsende sozioökonomische Stratifizierung. Neue Formen von politischer und militärischer Macht trugen zur Entstehung und Vertiefung der Einkommens- und Vermögensungleichheit bei. Ähnlich wie der Übergang zur Domestizierung von Pflanzen und Tieren war die Entwicklung politischer Hierarchien ein langsamer und gradueller Prozess, der von den Umweltbedingungen, dem technologischen Fortschritt und dem Bevölkerungswachstum abhing. Langfristig wurden kleine Gruppen von Familien mit wenigen Dutzend Mitgliedern, die typisch für die einfachen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften waren, durch lokale Gruppen und Kollektive, die im Normalfall Hunderte Mitglieder hatten, und in weiterer Folge durch größere Stammesfürstentümer oder Protostaaten mit Tausenden oder Zehntausenden Einwohnern ersetzt. Dieser Prozess verlief nicht immer gradlinig und nicht in allen Umgebungen konnten sich komplexe Formen der sozialen Organisation entwickeln. Die Folge war, dass sich komplexe Gesellschaften mit staatlicher Ordnung, die sich auf die Landwirtschaft stützten, schließlich den Planeten mit Horden, Stämmen und Fürstentümern von Hirten, Pflanzenbauern und der verbliebenen Population von Jägern und Sammlern teilten. Diese Vielfalt ist grundlegend für unser Verständnis der Faktoren, die zur Entstehung von Ungleichheit beitragen, und gibt uns die Möglichkeit, die Merkmale verschiedener Subsistenzmodi und ihrer Auswirkungen auf Akkumulation, Übertragung und Konzentration von Vermögen zu vergleichen.27

Die nachgewiesene Bandbreite der Variationen der soziopolitischen Organisation in aller Welt ist ähnlich groß. Das ermöglicht es uns, die Beziehung zwischen Ungleichverteilung von Macht und Status auf der einen und Vermögensungleichheit auf der anderen Seite zu untersuchen. Unter globalen Gesichtspunkten korreliert die Entwicklung der Landwirtschaft eng mit der sozialen und politischen Stratifizierung. In einer Stichprobe von mehr als tausend Gemeinschaften sind bei mehr als drei Viertel der einfachen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften keine Hinweise auf eine soziale Stratifizierung zu sehen, während dasselbe für weniger als ein Drittel der Gemeinschaften gilt, die eine intensive Landwirtschaft betreiben. Noch deutlicher ist der Zusammenhang zwischen ortsgebundener Landwirtschaft und der Entstehung politischer Hierarchien: In einfachen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften sind Eliten und Klassenstrukturen praktisch nicht zu finden, während sie sich in der Mehrheit der Agrargesellschaften sehr wohl herausbilden. Doch einmal mehr war nicht der Subsistenzmodus an sich, sondern die Höhe des wirtschaftlichen Überschusses die entscheidende Variable. In der bereits erwähnten Studie über 258 indigene amerikanische Gesellschaften waren bei 86 Prozent jener Gemeinschaften, die keine nennenswerten Überschüsse produzierten, auch keine Hinweise auf politische Ungleichheit zu finden, während unter den Gesellschaften, die moderate oder hohe Überschüsse erzeugten, derselbe Anteil in gewissem Umfang eine politische Hierarchie entwickelt hatte. In einer Studie über 186 Gesellschaften in verschiedenen Weltregionen, über die genauere Erkenntnisse vorliegen, stellte sich heraus, dass vier Fünftel der Jäger-und-Sammler-Gesellschaften keine Führer hatten, während drei Viertel der Agrargesellschaften als Stammesfürstentümer oder Staaten organisiert waren.28

Die Agrargesellschaften entwickelten sich jedoch nicht alle gleich. Eine neue globale Studie hat gezeigt, dass der Getreideanbau eine entscheidende Rolle in der Entwicklung komplexerer gesellschaftlicher Hierarchien spielte. Anders als ganzjährige Wurzeln, die ständig verfügbar sind, jedoch rasch verrotten, wird Getreide nur zu bestimmten Zeiten in großen Mengen geerntet und eignet sich für die langfristige Lagerung. Beide Eigenschaften gaben Eliten die Möglichkeit, sich Nahrungsüberschüsse anzueignen und sie zu verteidigen. Die ersten Staaten entstanden in jenen Teilen der Welt, in denen sich die Landwirtschaft zuerst entwickelte: Als Pflanzen – vor allem Getreide – und Tiere domestiziert waren, teilten früher oder später auch die Menschen dieses Schicksal und die Ungleichheit erreichte ein bis dahin undenkbares Ausmaß.29

Das ursprüngliche »Eine Prozent«

Ein ungleichmäßig verteilter Zugang zu Einkommen und Vermögen ging der Entstehung einer staatlichen Ordnung voraus und trug zu ihrer Entwicklung bei. Als der Staat erst einmal etabliert war, verstärkten seine Institutionen die bestehende Ungleichheit und erzeugten neue. Die vormodernen Staaten eröffneten nie da gewesene Möglichkeiten zur Akkumulation und Konzentration materieller Ressourcen in den Händen weniger, indem sie der kommerziellen Aktivität ein gewisses Maß an Schutz gewährten und denen, die am engsten mit der politischen Macht verbunden waren, neue Chancen zur persönlichen Bereicherung eröffneten. Langfristig entwickelte sich die politische und materielle Ungleichheit im Gleichschritt mit dem, was als »Aufwärtsspirale interagierender Effekte« bezeichnet worden ist, wobei »jede Vergrößerung einer Variable eine entsprechende Vergrößerung der anderen wahrscheinlicher macht«. Die moderne Wissenschaft hat verschiedene Definitionen der wesentlichen Merkmale der Staatlichkeit entwickelt. Gestützt auf Elemente mehrerer solcher Definitionen, können wir sagen, dass der Staat eine politische Organisation darstellt, die Autorität über ein Territorium und seine Bevölkerung sowie seine Ressourcen beansprucht und über eine Reihe von Institutionen samt dazugehörigem Personal verfügt, die staatliche Funktionen erfüllen, indem sie bindende Anweisungen ausgeben und Regeln aufstellen, die mit der Androhung oder Ausübung legitimierter Zwangsmaßnahmen einschließlich physischer Gewalt durchgesetzt werden. Es gibt zahlreiche Theorien dazu, wie die frühesten Staaten entstanden. Die mutmaßlichen Antriebskräfte dieser Entwicklung beruhen allesamt in der einen oder anderen Form auf der wirtschaftlichen Entwicklung und ihren sozialen und demografischen Auswirkungen: Die gut positionierten Mitglieder der Gemeinschaft erzielten Gewinne mit der Kontrolle der Handelsströme; es wurden Führer benötigt, um die mit der wachsenden Bevölkerungsdichte und den komplexer werdenden Beziehungen in Produktion und wirtschaftlichem Austausch einhergehenden Probleme zu bewältigen; es kam zu Klassenkonflikten über den Zugang zu den Produktionsmitteln; militärische Konflikte um knappe Ressourcen begünstigten eine Vergrößerung der staatlichen Institutionen sowie die Entwicklung von Hierarchien und zentralisierten Befehlsstrukturen.30

Mit Blick auf das Studium der Ungleichheit ist es nicht unbedingt wichtig, welcher dieser Faktoren den größten Einfluss hatte: Als die Staatsentstehung in Gesellschaften mit beträchtlichen Überschüssen tiefe und stabile Hierarchien schuf, nahm die Ungleichheit von Macht, Status und materiellem Wohlstand zwangsläufig zu. Dennoch besteht mittlerweile weitgehend Konsens darüber, dass organisierte Gewalt ein wichtiger Bestandteil dieses Prozesses war. Robert Carneiros einflussreiche Theorie der natürlichen Grenzen besagt, die Wechselwirkung zwischen Bevölkerungswachstum und Krieg unter Bedingungen der territorialen Begrenztheit erkläre, warum zuvor weitgehend autonome und egalitäre Haushalte, die von knappen domestizierten Nahrungsquellen abhingen und nicht in der Lage waren, aus einer Umwelt auszuweichen, in der sie unter Druck geraten waren, bereit waren, sich einer autoritären Führung zu unterwerfen und sich mit Ungleichheit abzufinden, um sich im Wettbewerb mit anderen Gruppen besser behaupten zu können. Die neuesten Theorien und Simulationsmodelle zur Staatsentstehung betonen ebenfalls die Bedeutung von Intergruppenkonflikten. Die zentrale Rolle der Gewalt erklärt auch viele der spezifischen Merkmale der meisten vormodernen Staaten, insbesondere die despotische Regierung und eine oft eindimensionale Konzentration auf die Kriegführung.31

Nicht alle frühen Staaten ähnelten einander und zentralisierte politische Ordnungen existierten neben »heterarchischen« oder korporatistischen Formen der politischen Organisation. Die zentralisierten autoritären Staaten setzten sich jedoch zumeist gegen anders strukturierte Rivalen durch. Sie entstanden unabhängig voneinander überall dort, wo es die ökologischen Bedingungen zuließen: in der Alten Welt ebenso wie in Amerika und in so unterschiedlichen Umgebungen wie den fruchtbaren Überschwemmungsebenen Ägyptens und Mesopotamiens oder dem Hochland der Anden. Doch trotz sehr unterschiedlicher Rahmenbedingungen entwickelten sich die bekanntesten dieser Staaten zu verblüffend ähnlichen Gebilden. Ein gemeinsames Merkmal war die Ausweitung von Hierarchien in verschiedenen Bereichen, von der Politik über die Familie bis zu den religiösen Glaubenssystemen: In einem autokatalytischen Prozess wirkte sich die hierarchische Struktur auf alle gesellschaftlichen Faktoren aus, »um sie in einem übergeordneten System zu verschmelzen, das der Autoritätsstruktur zugrunde lag«. Der Druck zur fortschreitenden Stratifizierung hatte erhebliche Auswirkungen auf die moralischen Werte: Die Überreste des alten Egalitarismus wurden durch den Glauben an die Vorzüge der Ungleichheit und die Anerkennung der Hierarchie als unverzichtbares Element der natürlichen und kosmischen Ordnung ersetzt.32

Unter quantitativen Gesichtspunkten waren die Staaten der Agrargesellschaften ausgesprochen erfolgreich. Obwohl die Zahlen nicht mehr als eine fundierte Mutmaßung sein können, dürfen wir annehmen, dass die Gemeinschaften mit staatlicher Ordnung vor 3500 Jahren, als sie kaum mehr als ein Prozent der Erdoberfläche (ausschließlich der Antarktis) bewohnten, bereits die Hälfte unserer Spezies beinhalteten. Eine zuverlässigere Schätzung besagt, dass sich die Staaten zu Beginn der christlichen Zeitrechnung – es waren überwiegend Großreiche wie das Römische Reich und das chinesische Han-Kaiserreich – über etwa ein Zehntel der Landmasse erstreckten, aber zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der auf der Erde lebenden Menschen umfassten. So unsicher diese Zahlen sein mögen, verraten sie doch einiges über den Wettbewerbsvorteil eines bestimmten Staatstypus: Dieser stützte sich auf weitreichende imperiale Strukturen, die von mächtigen extraktiven Eliten zusammengehalten wurden. Auch hier war dies nicht das einzige mögliche Ergebnis der Entwicklung: In den Räumen zwischen den Großreichen konnten unabhängige Stadtstaaten gedeihen, denen es jedoch nur selten wie den Griechen im 5. Jahrhundert v. Chr. gelang, ihre übermächtigen Nachbarn in Schach zu halten. Zumeist wurden sie von größeren Staaten absorbiert. Gelegentlich errichteten sie eigene Reiche – Beispiele sind Rom, Venedig und der aztekische Dreibund von Tenochtitlan, Texcoco und Tlacopan. Zudem brachte von Zeit zu Zeit der Zusammenbruch eines Imperiums fragmentierte politische Einheiten hervor – ein besonders extremes Beispiel für eine solche Entwicklung ist das mittelalterliche Europa.33

Häufiger brachten jedoch bestehende Reiche neue hervor, da die neuen Regime die alten Machtstrukturen wieder stabilisierten. Auf lange Sicht entstand ein Muster der periodischen Auflösung und Wiederherstellung – von den zunehmend regelmäßigen »dynastischen Zyklen« in China bis zu längeren Umschwüngen in Südostasien, Indien, dem Nahen Osten und der Levante, Zentralamerika und der Andenregion. Die Eurasische Steppe brachte ebenfalls zahlreiche imperiale Regime hervor, die räuberische Eroberungszüge begannen, um die von sesshaften Gesellschaften im Süden angehäuften Reichtümer in ihren Besitz zu bringen. Im Lauf der Zeit wuchsen die Staaten. Vor dem 6. Jahrhundert v. Chr. erstreckten sich die größten Imperien auf wenige Hunderttausend Quadratkilometer. In den folgenden 1700 Jahren wuchs das Territorium ihrer mächtigsten Nachfolgestaaten regelmäßig auf das Zehnfache dieser Fläche und im 13. Jahrhundert reichte das Herrschaftsgebiet der Mongolen von Mitteleuropa bis zum Pazifik. Und das Territorium ist nur einer von mehreren Maßstäben: Wenn wir die Zunahme der Bevölkerungsdichte betrachten, stellen wir fest, dass das effektive Wachstum der imperialen Herrschaft noch dramatischer ausfiel. Der Lebensraum unserer Spezies konzentrierte sich in noch höherem Maß als heute in der gemäßigten Klimazone Euroasiens sowie in Teilen Zentralamerikas und des Nordwestens des südamerikanischen Kontinents. Dort blühten die Großreiche: Tausende Jahre lang lebte der Großteil der Menschheit im Schatten dieser Riesen, wobei einige wenige hoch über den Normalsterblichen thronten. Diese Umwelt brachte hervor, was ich als das »ursprüngliche eine Prozent« bezeichne. Es bestand aus konkurrierenden, aber oft eng miteinander verwobenen Eliten, die alles taten, um sich die politischen und wirtschaftlichen Erträge anzueignen, die durch die Staatsentstehung und die imperiale Integration mobilisiert wurden.34

Die vormoderne Staatsentstehung trennte eine kleine herrschende Klasse von der Masse der Primärproduzenten. Obwohl diese Elite oft im Inneren stratifiziert war, kontrollierte sie kollektiv über die Grenzen der einzelnen lokalen Gemeinschaften hinaus diese Bausteine des Staates. Ernest Gellners berühmtes Schaubild veranschaulicht diese Strukturen mit unvergleichlicher Klarheit (Schaubild 1.1).35

Schaubild 1.1 Die grundlegende soziale Struktur von Agrargesellschaften

Einige Angehörige der herrschenden Klasse, darunter örtliche Notabeln, die ein staatliches Amt oder eine ähnliche bevorzugte Position erlangt hatten, entstammten diesen Gemeinschaften oder blieben sogar darin verwurzelt, während andere, beispielsweise ausländische Eroberer, so wenig Kontakt zu ihnen hatten, dass sie de facto eine separate Gesellschaft bildeten. Die Zentralregierung war gemessen an modernen Standards sehr beschränkt: Der Staat war normalerweise wenig mehr als eine »Schutzhülle« für die Bevölkerung, wie es Patricia Crone ausgedrückt hat: Er versuchte, die Bevölkerung gegen heimische und ausländische Herausforderer des etablierten Regimes abzuschirmen. Aber die Herrscher und ihre Beauftragten gewährten ihren Untertanen auch einen Schutz wie jenen, den Mafiaorganisationen in modernen Gesellschaften anbieten, wobei sie den Ertrag ihrer herausragenden Fähigkeit zur Anwendung organisierter Gewalt nutzten. Häufig übten sie eine despotische Macht aus, denn die zivilgesellschaftlichen Institutionen waren zu schwach, um den Handlungen der Elite Schranken zu setzen, darunter der Einsatz der Macht über Leben und Tod und die Zuteilung von Besitz. Gleichzeitig mangelte es vielen dieser Staaten an infrastruktureller Macht, das heißt an der Fähigkeit, die Gesellschaft zu durchdringen und politische Maßnahmen umfassend durchzusetzen. Die Gemeinschaften regierten sich weitgehend selbst und wurden von einer relativ kleinen und oft weit entfernten zentralisierten Autorität lediglich in Schach gehalten.

Die semiprivaten Regierungen waren in dem Bemühen, ihre Untertanen zu kontrollieren und Ressourcen zu mobilisieren, auf die Kooptierung und Kooperation verschiedener Inhaber politischer, militärischer, wirtschaftlicher und ideologischer Macht angewiesen. Die Herrscher bedienten sich einer Mischung aus Belohnungen und Gewaltandrohung, um das Machtgleichgewicht zwischen den konkurrierenden Eliten zu erhalten, denn die Regierung war oft vor allem damit beschäftigt, Auseinandersetzungen zwischen den Reichen und Mächtigen unter Kontrolle zu halten. Herrscher, Beauftragte und Großgrundbesitzer – diese Kategorien überschnitten sich normalerweise – befanden sich in einem ständigen Konflikt über den Anspruch auf die Überschüsse, die durch Steuern und private politische Renten abgeschöpft werden konnten. Während der Einsatz von Angehörigen der Elite als Staatsbeamte die Autonomie der Herrscher beschränkte, schuf der Rückgriff auf untergeordnete Beauftragte von geringerem Status neue Bewerber für die Aufnahme in die Elite, die Staatseinnahmen umlenken und privatisieren wollten, um Zugang zur Elite zu finden. Die Herrscher versuchten, Macht und Privilegien vom Staatsdienst abhängig und widerrufbar zu machen, während ihre Beauftragten persönlichen Nutzen für sich und ihre Abkömmlinge anstrebten. Auf lange Sicht waren die Beauftragten oft erfolgreicher. Korruption und andere Formen von räuberischem Verhalten waren verbreitet. Im Wettbewerb um Positionen und Vorteile zwischen Angehörigen der herrschenden Klasse konnte die Fluktuation in den staatlichen Ämtern hoch sein, aber die Herrschaft der Elite als solche blieb stabil, solange es gelang, die staatlichen Strukturen aufrechtzuerhalten. Die höheren Klassen grenzten sich durch ihren Lebensstil und ihr häufig kriegerisches Weltverständnis, das Führung als Ausbeutung minderwertiger landwirtschaftlicher Produzenten definierte, vom gewöhnlichen Volk ab. Ein ostentatives Konsumverhalten diente zur Manifestation und Festigung des Machtgefüges.36

Diese Grundbedingungen prägten die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Reduziert man die Geschichte auf das Wesentliche, so kennt sie nur zwei idealtypische Methoden des Vermögenserwerbs: Produktion und Raub. Die Entwicklung von Überschussproduktion, Domestizierung und erblichen Eigentumsrechten ebnete den Weg für Aufbau und Erhaltung von persönlichem Reichtum. Langfristig schoben institutionelle Entwicklungen, die diesen Prozess begünstigten, sowie technologische Fortschritte und die Ausweitung der wirtschaftlichen Aktivität die Grenzen für die individuelle oder familiäre Vermögensakkumulation weiter hinaus und erhöhten dadurch zumindest potenziell die Bandbreite der Streuung von Einkommen und produktiven Vermögenswerten. Im Prinzip genügte die kumulative Wirkung zufälliger Erschütterungen, um dafür zu sorgen, dass einige Haushalte reicher wurden als andere: Unterschiedliche Erträge aus Land, Nutztieren, Gebäuden und in Kredite und Handel investierten Ressourcen waren eine Gewähr dafür. Wenn sich das Glück eines Haushalts wendete, nahm ein anderer seinen Platz ein.

Der möglicherweise erste quantifizierbare Beleg für eine wachsende Ungleichverteilung der Vermögen in unterhalb der Elite angesiedelten Kreisen, der offenbar ein Resultat der wirtschaftlichen Entwicklung war, stammt aus Mesopotamien vor mehreren Tausend Jahren. Ein Vergleich der Erbteile von Söhnen in altbabylonischer Zeit (in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends) mit Aufzeichnungen über Mitgiften für Töchter in neubabylonischer Zeit (aus dem späten 6. Jahrhundert und dem 7. Jahrhundert v. Chr., also etwa tausend Jahre später) fördert zwei bedeutsame Unterschiede zutage: Umgerechnet in Getreideerträge, waren die Mitgiften etwa doppelt so hoch wie die Erbteile. Da sich beide Datensätze auf dieselbe Gesellschaftsschicht zu beziehen scheinen – vermögende Stadtbewohner, die vermutlich dem reichsten Dezil der städtischen Bevölkerung angehörten –, deutet dieses Ergebnis auf einen Vermögenszuwachs hin, vor allem, wenn man bedenkt, dass Söhne vermutlich gegenüber Töchtern bevorzugt wurden. Dazu kommt, dass der reale Wert der Mitgiften sehr viel ungleichmäßiger verteilt war. Da die neubabylonische Periode von einer ungewöhnlich dynamischen Wirtschaftsentwicklung gekennzeichnet war, ist dieser Kontrast vielleicht am ehesten mit der entegalisierenden Wirkung von Wachstum und Kommerzialisierung zu erklären.37

Aber das ist möglicherweise nur ein Teil der Geschichte, und zwar nicht nur in diesem Fall, sondern allgemein. Es liegt auf der Hand, dass die zuvor beschriebenen entscheidenden Merkmale der vormodernen Staatsentstehung die wirtschaftliche Aktivität auf eine eigentümliche Art beeinflussten. Abgesehen davon, dass die politische Integration die Expansion von Märkten begünstigte und zumindest einen Teil der Transaktions- und Informationskosten senkte, schuf die asymmetrische Machtverteilung in den vormodernen Gesellschaften ungleiche Voraussetzungen für die wirtschaftlichen Akteure. Instabile Eigentumsrechte, eine unzureichende Durchsetzung von Regeln und eine willkürliche Anwendung des Gesetzes, die Bestechlichkeit von Staatsvertretern und die entscheidende Bedeutung persönlicher Beziehungen sowie der Nähe zu Quellen von Zwangsgewalt prägten die Ergebnisse zugunsten derer, die eine hohe Position in der Statuspyramide einnahmen, sowie der mit solchen Personen verbundenen Akteure. In noch höherem Maß dürfte dies für verschiedene Formen des »Nehmens« gegolten haben, das Angehörigen der herrschenden Klasse und ihren Verbündeten offenstand. Wer sich an der Staatsführung beteiligte, der hatte Zugang zu Einkommen aus formaler Entlohnung, zu von Herrschern und anderen Höhergestellten gewährten Vergünstigungen sowie zu Bestechung, Veruntreuung und Erpressung und oft waren Inhaber solcher Positionen auch von Steuern und anderen Verpflichtungen befreit. Wer ein hohes militärisches Amt bekleidete, wurde unter Umständen an der Kriegsbeute beteiligt. Und der direkte Staatsdienst war nicht einmal eine notwendige Voraussetzung für eine solche Vorzugsbehandlung. Verwandtschaftsbeziehungen, Eheschließungen und andere Bündnisse mit Amtsinhabern konnten ebenso einträglich sein. Darüber hinaus erleichterten persönlicher Reichtum und lokaler Einfluss in Anbetracht der oft begrenzten Machtinfrastruktur des Staates nicht nur die Verteidigung des eigenen, sondern auch des Vermögens von Freunden und Schützlingen gegen Forderungen des Staates oder der Gemeinschaft im Tausch gegen andere Vergünstigungen. Wenn nötig, konnten Steuerquoten erfüllt werden, indem den Machtlosen zusätzliche Lasten auferlegt wurden.

Unter diesen Bedingungen hatte die politische Macht zwangsläufig beträchtlichen Einfluss auf die Verteilung der materiellen Ressourcen. In kleineren und weniger hierarchischen Gesellschaften, etwa in Stämmen oder von einem »großen Mann« geführten Gemeinschaften, hing der Status eines Führers nicht zuletzt von seiner Fähigkeit und Bereitschaft ab, seinen Reichtum mit der gesamten Gemeinschaft zu teilen. In Agrargesellschaften und Großreichen genossen die herrschenden Klassen größere Autonomie. Abgesehen von gelegentlichen und öffentlich zur Schau gestellten Gesten der Großzügigkeit, fand die Umverteilung in solchen Gesellschaften in die umgekehrte Richtung statt und machte die wenigen noch reicher auf Kosten der vielen. Von der kollektiven Fähigkeit der Elite, sich die Überschüsse der Primärproduzenten anzueignen, hing es ab, wie groß der Anteil der Gesamtressourcen wurde, den sich die Elite aneignen konnte, und vom Machtverhältnis zwischen den Herrschern und verschiedenen Elitegruppen hing es ab, wie dieser Gewinn zwischen der Staatskasse, den privaten Schatztruhen der staatlichen Bevollmächtigten und den Grundbesitzern und Händlern aufgeteilt wurde.38

Jene Mechanismen vormoderner Staaten, die Ressourcen zu den Mächtigen umleiteten, dienten zugleich als wirksames Mittel zur Eindämmung der Einkommens- und Vermögenskonzentration. Räuberisches Verhalten, Missachtung der persönlichen Eigentumsrechte und willkürliche Machtausübung erleichterten den Vermögensaufbau, konnten den erworbenen Reichtum jedoch ebenso leicht wieder zerstören. Staatliche Ämter, Nähe zu Machtträgern und die Gunst eines Herrschers verhalfen den gut Vernetzten zu großem Reichtum, aber Umtriebe von Rivalen und der Wunsch des Herrschers, den Einfluss seiner Gefolgsleute zu beschneiden und sich ihr unrechtmäßig erworbenes Vermögen anzueignen, konnten sie leicht wieder um ihren Reichtum bringen und sogar das Leben kosten. Neben den Wechselfällen der familiären Demografie, die zum Wachstum oder zur Auflösung von Privatvermögen beitrugen, setzte die gewaltsame Umverteilung der Konzentration von Ressourcen in den Eliten Grenzen.

In der Praxis unterschieden sich die Ergebnisse in den vormodernen Gesellschaften erheblich. Das mittelalterliche Mamlukensultanat in Ägypten ist an einem Ende des Spektrums angesiedelt: Eine ausländische und nicht hereditäre Kriegerelite beanspruchte kollektiv die Kontrolle über das Land, das abhängig von der Position in der Machtstruktur unter den Mitgliedern der Staatsklasse verteilt wurde. Häufige Modifikationen dieser Struktur sorgten für einen fließenden und unvorhersehbaren Zugang zu den Ressourcen, denn gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen waren eine Gewähr für ständige Fluktuationen. Am anderen Ende des Spektrums finden wir Feudalgesellschaften mit schwachen Herrschern – beispielsweise in China in der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen oder im mittelalterlichen Europa –, in denen das Vermögen der Feudalherren relativ sicher war. Dasselbe gilt für die römische Republik vor ihren Krisen: Die Aristokraten beherrschten das Gemeinwesen kollektiv zum eigenen Vorteil und waren entsprechend bemüht, das Privateigentum zu schützen. Die meisten vormodernen Gesellschaften sowie einige zeitgenössische Entwicklungsländer sind irgendwo zwischen diesen idealtypischen Extremen anzusiedeln und verbinden teils gewaltsame politische Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Respekt für das Privateigentum. Diese Beziehung untersuche ich auf den folgenden Seiten genauer.39

Nicht nur in Gesellschaften mit einem niedrigen wirtschaftlichen Entwicklungsstand können, gestützt auf den Zugang zu politischer Macht, politische Renten abgeschöpft werden. Eine neuere Studie über Dutzende superreiche Unternehmer in westlichen Ländern hat gezeigt, in welchem Ausmaß diese Personen von politischen Verbindungen profitieren, Gesetzeslücken nutzen und Vorteil aus Fehlfunktionen des Marktes schlagen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich hoch entwickelte demokratische Marktwirtschaften nur graduell von anderen Gesellschaftstypen. In einigen Fällen dürfte es möglich sein, zu schätzen, inwieweit die Vermögen von Angehörigen der Elite auf Einkommen beruhen, die aus anderen Quellen als der wirtschaftlichen Aktivität stammen: Wenn wir feststellen können, dass römische Aristokraten am Ende des zweiten und im ersten vorchristlichen Jahrhundert einfach zu reich waren, um ihr Vermögen allein durch Landwirtschaft und Handel erworben haben zu können, sollte auch eine genauere Analyse von Gesellschaften der jüngeren Vergangenheit möglich sein. Das Frankreich des Ancien Régime, mit dem ich mich an anderer Stelle in diesem Abschnitt noch kurz befassen werde, ist nur eines von vielen einschlägigen Beispielen. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass persönliche politische Verbindungen und Gefälligkeiten in der Vergangenheit sehr viel mehr zur Entstehung des Reichtums von Eliten beitrugen als in heutigen entwickelten Ländern. Die Bemühungen lateinamerikanischer oder afrikanischer Eliten um politische Renten dürften größere Ähnlichkeit mit dem haben, was in historischer Perspektive als herkömmliche, ja sogar »übliche« Strategie der Vermögensaneignung und -konzentration bezeichnet werden muss. Dasselbe gilt für das Verhalten heutiger russischer »Oligarchen«, das insofern Ähnlichkeit mit dem vormoderner Eliten hat, als Aufbau und Verteidigung ihres Vermögens von persönlichen politischen Machtbeziehungen abhängt. Selbst unter Berücksichtigung bedeutsamer kontextualer Unterschiede kann man festhalten, dass die Beschreibung, die der russische Kreditkartenmagnat Oleg Tinkow von seinen Standesgenossen gibt – er bezeichnet sie als »zeitweilige Verwalter ihrer Vermögenswerte […] sie besitzen sie in Wahrheit eigentlich nicht« –, auch auf die prekäre Position vieler ihrer Vorläufer zutrifft, sei es im alten Rom, im China des ersten vorchristlichen Jahrtausends oder in den europäischen Monarchien der frühen Neuzeit.40

Piketty hat versucht, die für das Europa des 18. und 19. Jahrhunderts charakteristische, sehr ausgeprägte Ungleichverteilung der Vermögen mit der großen Kluft zwischen Wirtschaftswachstum und Entwicklung der Kapitalrendite (»r > g«) zu erklären. In dynamischen Modellen, die sich summierende und einander verstärkende Erschütterungen beinhalten – die sich auf die von Investitionsstrategien oder Glück abhängige Kapitalrendite, auf die aus Sterblichkeit und Geburtenrate resultierenden demografischen Parameter, auf Konsum- und Sparpräferenzen oder unter Berücksichtigung der externen Einkommen auf die Produktivität auswirken –, verstärkt diese Bedingung die anfängliche Vermögensungleichheit und führt zu einer hochgradigen Vermögenskonzentration. Anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als negative Erschütterungen, die sich in Form von kriegerischer Zerstörung, Inflation, progressiver Besteuerung und Enteignung auf Kapitalausstattung und Kapitalrendite auswirkten, den Reichtum und vor allem die Nettoeinkommen aus Vermögen erheblich verringerten, begünstigten die stabileren Bedingungen, die dieser Nivellierungsphase vorausgingen, die Inhaber von Vermögen. Deshalb war der Anteil der Kapitalerträge am Gesamteinkommen höher als heute.

Aber war diese Situation repräsentativ für die vormodernen Gesellschaften? In Anbetracht der Tatsache, dass die Kluft zwischen Wirtschaftswachstum und Kapitalrendite (die anhand von Zinssätzen oder festen Einkommen aus Grundbesitz oder Dotation ermittelt werden kann) immer extrem groß war, besteht Grund zu der Annahme, dass Kapitalbesitzer im Großen und Ganzen einen bleibenden Vorteil verbuchen konnten. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass die Intensität der Erschütterungen der Kapitalbasis abhängig von der Wahrscheinlichkeit einer gewaltsamen Umverteilung von Vermögenswerten erheblich schwankte. In Zeiten der Stabilität konnte die willkürliche Ausübung einer autokratischen Herrschaft erhebliche Erschütterungen auslösen und insbesondere zu beträchtlichen Schwankungen der Vermögen der Eliten führen, die gleichermaßen oft deutlich wuchsen oder vernichtet wurden. Solange durch Eingriffe lediglich Vermögen umverteilt wurde, das bereits der obersten Gesellschaftsschicht gehörte, blieb die Wirkung auf die Vermögensverteilung insgesamt neutral. Hingegen waren die Konsequenzen von Erschütterungen infolge von Krieg, Eroberung oder dem Zusammenbruch eines Staats weniger vorhersehbar: Während ein militärischer Erfolg die Ungleichheit auf der erfolgreichen Seite vergrößerte, indem er die herrschende Klasse des siegreichen Staates reicher machte, bewirkte die Auflösung der staatlichen Strukturen im Normalfall eine allgemeine Nivellierung. In diesem und den folgenden Kapiteln lege ich historische Belege für diese These vor.

Auf lange Sicht hing das Ausmaß der Vermögensungleichheit von der Häufigkeit gewaltsamer Destabilisierung ab. Die früheren Mechanismen der Einkommensverteilung und Vermögensakkumulation unterschieden sich von denen, die im 18. und insbesondere im 19. Jahrhundert in Europa zu beobachten waren, möglicherweise bezüglich der relativen Bedeutung der Einkommen, die aus anderen Quellen als der Arbeit stammten. Je mehr die persönlichen Vermögen vom Zugang zu politischen Renten abhingen, desto wichtiger waren die Arbeitseinkommen – zumindest, wenn wir Korruption, Unterschlagung, Erpressung, militärische Plünderung, das Streben nach Vergünstigungen und die Übernahme der Vermögenswerte von Rivalen als Formen der Arbeit betrachten können – im Vergleich zu ihrer Bedeutung für unternehmerische Kapitalinvestoren oder Rentiers in geordneteren und friedlicheren Gesellschaften. Wie ich auf den verbleibenden Seiten dieses Abschnitts erklären werde, konnte derartiges Einkommen erheblichen und manchmal sogar entscheidenden Einfluss auf die jeweilige Position in der Elite haben. Das gilt insbesondere für die frühen archaischen Staaten, deren Oberschicht sich eher auf vom Staat gewährleistete Ansprüche auf Renten in Form von Gütern und Arbeitsdiensten als auf Erträge aus Privatvermögen stützte. Diese Ansprüche kennzeichnen die herkömmliche Unterscheidung zwischen Kapitalund Arbeitseinkommen und unterstreichen einmal mehr den entscheidenden Beitrag politischer Machtbeziehungen zur Entstehung des ursprünglichen »einen Prozent«.41

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In vielen Regionen, in denen später große Imperien entstanden, waren einst egalitäre Arten des Grundbesitzes verbreitet. Bei den Sumerern im südlichen Mesopotamien, einer der frühesten Zivilisationen, die wir aus mehr als 5000 Jahre alten schriftlichen Quellen kennen, wurde ein großer Teil des Ackerlands von weitläufigen nicht adligen Familien mit Erbfolge in der männlichen Linie kontrolliert, die die Felder gemeinschaftlich bestellten. Dieser Eigentumstyp war im zweiten vorchristlichen Jahrtausend unter der westlichen Zhou-Dynastie und der Shang-Dynastie auch in China verbreitet, wo der private Grunderwerb anscheinend nicht erlaubt war. Im Aztekenreich war der Großteil des Landes im Becken von Mexiko in den Händen der calpotin, korporativer Gruppen, die Familienäcker mit Allmendegütern verbanden. Die Familiengüter wurden von Zeit zu Zeit neu abgegrenzt, um den Veränderungen hinsichtlich der Familiengröße Rechnung zu tragen. Dasselbe gilt für die ayllukuna im peruanischen Hochland, endogame Gruppen, die in der Inkazeit den einzelnen Mitgliedsfamilien Parzellen in unterschiedlicher Höhe zuteilten und diese regelmäßig anpassten, um eine gleichmäßige Verteilung zu gewährleisten. Solche Regelungen setzten der Konzentration und kommerziellen Nutzung des Landes enge Grenzen.

Im Lauf der Zeit wuchs jedoch die Ungleichheit, da die Kapitaleigentümer Land erwarben und die politische Führung den bestehenden Grundbesitz mit Abgaben belegte. Im Lauf des 3. Jahrtausends v. Chr., aus dem eine größere Anzahl sumerischer Dokumente erhalten ist, finden wir bereits Tempel, die über beträchtliches Grundeigentum verfügten und ihre eigenen Arbeiter einsetzten, um die Felder zu bestellen; darüber hinaus gab es einen Adel, der sich größere Besitztümer angeeignet hatte. Die private Vererbung von Grundeigentum war möglich, sofern andere Mitglieder der Gruppe damit einverstanden waren. Schulden waren ein wirksames Instrument, um überschüssiges Einkommen in zusätzlichen Grundbesitz umzuwandeln: Hohe jährliche Zinsen von bis zu einem Drittel des geschuldeten Kapitals bewegten Grundbesitzer, die Kredite aufgenommen hatten, zur Abtretung ihres Lands an ihre Gläubiger – und verurteilten sie unter Umständen sogar zur Knechtschaft, wenn sie ihre eigene Person als Sicherung angeboten hatten. Dieser Prozess schuf sowohl Großgrundbesitz als auch eine landlose Arbeiterschaft, die für die Bewirtschaftung der Landgüter eingesetzt werden konnte. Die Gläubiger dürften einen Teil der freien Ressourcen, die sie an andere verliehen, aus der wirtschaftlichen Nutzung ihres eigenen Vermögens bezogen haben, aber politische Renten konnten ebenfalls wesentlich dazu beitragen, ihnen dieses Vorgehen zu ermöglichen. Die Privatisierung wiederum verringerte die traditionellen sozialen Verpflichtungen gegenüber Abhängigen und Unterstützern: Je weniger kostspielige soziale Pflichten mit dem Privatbesitz verbunden waren, desto attraktiver wurde er für Investoren. Es entwickelte sich eine Vielzahl sozialer Stände, um den Bedarf der Kapitalbesitzer an Arbeitskräften zu decken, darunter Teilpächter und Schuldknechte; dazu kam die Sklaverei, eine ursprünglichere Form der Unterordnung. Analoge Prozesse waren 4000 Jahre später – aber auf einem vergleichbaren Niveau der sozioökonomischen Entwicklung – bei den Azteken zu beobachten, bei denen Schulden von Grundeigentümern und der Rückgriff auf landlose Leibeigene und Sklaven die Ungleichheit vergrößerten.42

Die Praktiken der staatlichen Herrscher stellten ein Modell für die Aneignung von Besitz dar und dienten oft auch als Methode dazu. Die sumerischen Könige versuchten, für sich und ihre Verbündeten Land in Besitz zu nehmen, und übernahmen die Bewirtschaftung der Tempelgüter, um sich die Kontrolle über das Vermögen der Tempel zu sichern. Die Verwalter der Tempel vermengten das Management institutioneller Vermögenswerte mit dem ihres persönlichen Besitzes. Bestechung, Korruption und Gewaltanwendung waren bereits verbreitete Methoden der Aneignung. Sumerische Keilschriftaufzeichnungen über Klagen aus dem 24. Jahrhundert v. Chr. zeigen, dass sich die örtlichen Könige und Königinnen in der Stadt Lagasch den Grundbesitz der Tempel samt den an diesen Boden gebundenen Arbeitern aneigneten. Aristokraten erwarben Land, indem sie hochverzinste Kredite fällig stellten, Beamte beuteten Staatseigentum wie Boote und Fischgründe zu ihrem persönlichen Vorteil aus, verlangten überhöhte Gebühren für grundlegende Dienste wie Begräbnisse und das Schafscheren, enthielten Arbeitern den Lohn vor und füllten ihre Taschen durch Korruption. Die Reichen stahlen Fisch aus den Teichen der Armen. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt einiger dieser Vorwürfe entsteht der Gesamteindruck einer Regierungsform, die unrechtmäßige Aneignung und Bereicherung begünstigte und die Staatsgewalt in den Dienst dieser Praktiken stellte. Schon früh beobachteten die Herrscherhäuser den Erwerb und die zunehmende Konzentration von Privatvermögen in der Elite mit Sorge. Sie mussten die Primärproduzenten, die sie als Steuerzahler und Arbeiter im Dienst des Staates brauchten, vor räuberischen Kreditgebern und herrschsüchtigen Grundherren schützen. Von der Mitte des dritten bis zur Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends ordneten die mesopotamischen Könige immer wieder Schuldenerlässe an, um den Vormarsch des Privatkapitals zu bremsen. Nach allem, was wir wissen, war dies ein aussichtsloses Unterfangen.43

Eine anschauliche Beschreibung dieser Spannungen finden wir in dem »Lied der Freilassung«, einem hurritischen Mythos, der im 5. Jahrhundert v. Chr. ins Hethitische übersetzt wurde. Er erzählt vom hurritischen Wettergott Tessub, der, als notleidender und »ausgetrockneter« Schuldner verkleidet, im Stadtrat von Ebla im Nordwesten Syriens erscheint. König Megi ist mit den mächtigen Notabeln der Stadt über die Freilassung von Schuldsklaven in Streit geraten. Die Maßnahme scheint gottgewollt zu sein, stößt aber auf den Widerstand Zazallas, eines begabten Redners, der den Rat der Notabeln auf seine Seite zieht. Unter seinem Einfluss bieten die Ratsmitglieder Tessub an, ihm Gold und Silber zu schenken, wenn er Schulden hat, ihm Öl zu geben, wenn er ausgetrocknet ist, und ihm Brennmaterial zu überlassen, wenn er friert – aber sie weigern sich, Megis Wunsch stattzugeben und die versklavten Schuldner freizulassen:

Aber wir werden keiner Freilassung [von Sklaven] zustimmen. Es wird [keinen] Jubel in deiner Seele geben, oh Megi.

Sie beharren auf der Notwendigkeit, die Schuldner in Gefangenschaft zu halten, denn:

Wer gäbe uns zu essen, wenn wir sie freilassen würden? Zum einen sind sie unsere Mundschenke, zum anderen geben sie uns [Essen]. Sie sind unsere Köche und waschen für uns ab.

Megi bricht ob der Halsstarrigkeit der Notabeln in Tränen aus und verzichtet auf jeden Anspruch auf seine eigenen Knechte. Kurz vor der Stelle, an der das erhaltene Textfragment endet, verspricht Tessub den Notabeln göttliche Belohnungen, wenn die übrigen Schuldknechte freigelassen werden, und droht mit harten Strafen, sollte dies nicht geschehen.44

Darstellungen wie diese zeigen, dass die königliche Macht in dem Bemühen, die Privilegien der Elite zu beschränken und die Aneignung von Besitz einzudämmen, an Grenzen stieß. Die antiken Stadtkönige im Nahen Osten mussten ebenfalls vorsichtig vorgehen, wenn sie ihren eigenen Besitz in Konkurrenz zu den örtlichen Tempeln und anderen einflussreichen Interessengruppen vergrößern wollten. Eine ausgleichende Politik und die relativ geringe Größe viele dieser Staaten schränkten das Ausmaß an entegalisierenden Eingriffen ein. Hingegen veränderten große Eroberungen das Gleichgewicht dramatisch: Die gewaltsame Übernahme rivalisierender Gemeinwesen und Territorien stieß die Tür zu unverhohlen räuberischem Verhalten auf und ermöglichte eine nicht durch örtliche Bräuche beschränkte Anhäufung von Reichtümern. Die Verschmelzung bestehender Gemeinwesen zu größeren Strukturen brachte die Entstehung neuer Hierarchieebenen mit sich und gab den Personen an der Spitze Zugang zu größeren Überschüssen. Diese Entwicklungen erhöhten zwangsläufig die Ungleichheit, indem sie die Einkommen und Vermögen der Elite erheblich ansteigen ließen.

Deutlich zu erkennen sind diese entegalisierenden Wirkungen der Staatsentstehung durch Eroberung im akkadischen Königreich zwischen dem 24. und 22. Jahrhundert v. Chr. Dieses Reich, das als erstes »wirkliches« Großreich der Geschichte zu betrachten ist, wenn man in die Definition nicht nur die Größe, sondern auch ethnische Heterogenität, asymmetrische Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie und die Anerkennung örtlicher Traditionen von Distinktion und Hierarchie einbezieht, kontrollierte unterschiedliche Gesellschaften von Nordsyrien bis in den westlichen Iran. Diese beispiellose Expansion bewegte die akkadischen Herrscher dazu, sich nicht nur einen göttlichen Rang zuzuschreiben – aus erhaltenen Texten geht hervor, dass Rimusch, der Sohn und Nachfolger des Reichsgründers Sargon, »sich selbst zu den Göttern zählte« und dass sein Neffe Naram-Sin erklärte, das Volk seiner Stadt habe »ihn aufgefordert, der Gott ihrer Stadt Agade zu sein, […] und sie bauten seinen Tempel in Agade« –, sondern sich auch in großem Stil Vermögenswerte anzueignen und diese unter den Gefolgsleuten zu verteilen. Die Könige der einzelnen Stadtstaaten wurden durch akkadische Gouverneure ersetzt und große Landflächen gingen in die Hände der neuen Herrscher und ihrer hochrangigen Beauftragten über. Da ein Großteil der fruchtbarsten Anbauflächen im Besitz der Tempel war, gingen die Herrscher entweder zur Beschlagnahme über oder ernannten Verwandte und Staatsbeamte zu Priestern, um sich die Kontrolle über diese Ressourcen zu sichern. Eine neue imperiale Klasse, die über die inneren Grenzen dieses weitläufigen Reichs hinweg die Herrschaft ausübte, erwarb beträchtlichen Grundbesitz. Das angeeignete Land wurde unter Staatsbeamten verteilt, die es für ihren eigenen Unterhalt und zur Belohnung ihrer Klienten und Untergebenen nutzten, die teilweise als »die Auserwählten« bezeichnet wurden. In späteren Schriften kam Verachtung für die Schreiber zum Ausdruck, die »Ackerland in der Steppe zerstückelten«. Die Begünstigten staatlicher Schenkungen vergrößerten ihren Grundbesitz weiter, indem sie privat Land erwarben.

Einige akkadische Aufzeichnungen gewähren detaillierte Einblicke in das Wachstum des Vermögens der Elite. Jetib-Mer, der Haushofmeister des Gottkönigs Naram-Sin, besaß fast 1000 Hektar Land in verschiedenen Teilen des Reichs. Ein Mann namens Mesag besaß Ende des 23. Jahrhunderts v. Chr. mehr als 1200 Hektar: Ein Drittel war ihm für seinen Unterhalt zugestanden worden, den Rest hatte er gekauft. Sein Land wurde unter untergeordneten Beamten, Handwerkern und anderen Klienten verteilt, von denen nur einige wenige große Parzellen von mehr als 35 Hektar erhielten; die meisten mussten sich mit sehr viel kleineren Grundstücken begnügen. Der Zugang zu den materiellen Ressourcen wurde in der Klasse der Staatsdiener also deutlich abgestuft. In Verbindung mit der Fähigkeit, Vermögen ohne Rücksicht auf die bestehenden Besitzmuster umzuverteilen, schuf die Konzentration der produktiven Ressourcen im Reich eine Umwelt, in der der Grundsatz »Der Sieger bekommt alles« galt und einer kleinen Machtelite unverhältnismäßig große Vorteile sicherte. Nach Einschätzung eines führenden Experten »verfügte die herrschende Elite Akkads über Ressourcen, die jene der sumerischen Notabeln deutlich überstiegen«.45

Die Errichtung von Imperien war geeignet, die Verteilung von Einkommen und Vermögen unabhängig von den Erträgen ökonomischer Aktivitäten zu beeinflussen, und verwandelte die materielle Ungleichheit in ein Nebenprodukt der Umstrukturierung der Machtbeziehungen. Die politische Einigung großer Gebiete konnte die Bedingungen für wirtschaftliches Handeln verbessern, indem sie die Transaktionskosten senkte, die Nachfrage nach hochwertigen Gütern und Dienstleistungen erhöhte und Unternehmern die Möglichkeit gab, zum Zweck der Extraktion geknüpfte Austauschnetze zu nutzen, wodurch die Kluft zwischen Kapitalbesitzern und der übrigen Bevölkerung wuchs. Diese Entwicklung regte das urbane Wachstum insbesondere in den Hauptstädten an und vergrößerte damit die materielle Ungleichheit. Sie schützte die mit den zentralen Machthabern verbündeten reichen Eliten auch vor Forderungen und Ansprüchen der Bevölkerung und ermöglichte ihnen einen größeren Spielraum im Streben nach persönlicher Bereicherung. All diese sowie weitere Faktoren begünstigten die Konzentration von Einkommen und Vermögen.

Aber die Entstehung von Großreichen prägte die Ungleichheit auch auf direktere Art. Die vom Staat geleitete Zuteilung materieller Ressourcen an Angehörige der politischen Elite und das Verwaltungspersonal verwandelte die politische Ungleichheit in Einkommens- und Vermögensungleichheit. Sie reproduzierte die Machtasymmetrien direkt und unmittelbar in der wirtschaftlichen Sphäre. Da das Herrschaftssystem in vormodernen Staaten auf der Delegation der Machtbefugnisse beruhte, mussten die Herrscher ihren Gewinn mit ihren Beauftragten und Gefolgsleuten sowie mit den bestehenden Eliten teilen. Die zugewiesenen Ansprüche auf Überschüsse konnten bedeutsamer als die formalen Besitzansprüche auf produktive Vermögenswerte sein. Das galt insbesondere für Gesellschaften, in denen die Arbeitsdienste einen wichtigen Bestandteil der Einnahmen von Staat und Elite darstellten. Die Regelungen der Frondienste im Inkareich zählen zu den umfangreichsten historisch dokumentierten, aber erzwungene Arbeitsdienste waren auch in Ägypten, dem Nahen Osten, China und Mesoamerika verbreitet (um nur einige zu nennen). Die Übertragung von Land war ein fast universelles Instrument zur Belohnung wichtiger Verbündeter und wurde von den hawaiianischen Stammesfürsten und den Gottkönigen von Akkad und Cuzco, von den ägyptischen Pharaonen und den Zhou-Kaisern, von den mittelalterlichen europäischen Königen und von Karl V. in der Neuen Welt praktiziert. Eine fast unvermeidliche Konsequenz waren Versuche, den Familien der ursprünglichen Begünstigten einen erblichen Anspruch auf diese präbendalen Ländereien zu sichern und sie letzten Endes in Privateigentum zu verwandeln. Aber selbst wenn diese Umwandlung gelang, festigte sie lediglich eine materielle Ungleichheit, die ihren Ursprung in der politischen Sphäre hatte.

Neben der Übertragung von Land und Arbeitskräften war die Teilnahme an der Einhebung von Abgaben ein wichtiges Mittel zur Bereicherung der Eliten dank ihrer Beziehungen zum Machtzentrum. Dieser Prozess ist so gut belegt, dass ihm ein umfangreiches Buch gewidmet werden könnte – und sollte. Um nur ein weniger bekanntes Beispiel zu nennen: Im westafrikanischen Königreich Oyo, einem großen frühneuzeitlichen Staat der Yoruba, versammelten sich Kleinkönige und untergeordnete Stammesfürsten in örtlichen Tributeintreibungszentren, bevor sie zu einem alljährlichen Fest in der Hauptstadt aufbrachen. Die Leistung von Tributen an den König in Form von Kaurimuscheln, Vieh, Fleisch, Mehl und Baumaterial wurde von Beamten vermittelt, die der Hof zu Aufsehern bestimmter Gruppen von Tributpflichtigen ernannt hatte und mit dem Anspruch auf einen Teil der Tribute für ihre Mühen belohnte. Es erübrigt sich zu sagen, dass die formalen Ansprüche oft nur einen kleinen Teil des persönlichen Einkommens ausmachten, das diese Tributeintreiber mit ihren Diensten erzielten.46

In mittelbabylonischer Zeit, das heißt vor mehr als 3000 Jahren, hatten die Einwohner Mesopotamiens nach Jahrhunderten des Lebens unter imperialen Regimen eine wichtige Lektion gelernt: Der König war »derjenige, an dessen Seite der Wohlstand geht«. Was sie nicht wissen konnten, war, dass dieses Gesetz auch noch Tausende Jahre später und rund um den Erdball gelten würde. (Allerdings hätte es sie wohl kaum überrascht, das zu erfahren.) Gewaltsames räuberisches Verhalten und politische Begünstigung ergänzten und vertieften die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, die ihren Ursprung in der Überschussproduktion und der Übertragbarkeit von Vermögenswerten auf die Nachkommenschaft hatte. Das Wechselspiel zwischen diesen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen brachte das ursprüngliche »eine Prozent« hervor. An dieser Stelle sei Bruce Triggers ausgezeichnete Beschreibung der aztekischen Adligen (pipiltin) zitiert, die

»Baumwollkleidung, Sandalen, Feder- und Jadeschmuck trugen, in zweigeschossigen Steinhäusern wohnten, das Fleisch geopferter Menschen aßen, in der Öffentlichkeit Schokolade und (in Maßen) fermentierte Getränke zu sich nahmen, Konkubinen hielten, nach Belieben im königlichen Palast ein und aus gingen, im Speisesaal des Palastes essen durften und bei öffentlichen Ritualen besondere Tänze vorführten. Steuern bezahlten sie nicht.«47

Dies ist eine prägnante Beschreibung des öffentlichen Gesichts der vormodernen Ungleichheit. Durch ihre kannibalistischen Neigungen verwandelte diese spezifische Elite das metaphorische Blutsaugertum ihrer Klasse in einen buchstäblichen Konsum des Bluts anderer Menschen. Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte waren die sehr Reichen tatsächlich »anders als du und ich«, das heißt als unsere gewöhnlichen Vorfahren. Möglicherweise formte die materielle Ungleichheit sogar den menschlichen Körper. Als der Fortschritt der Medizin den Reichen im 18. und 19. Jahrhundert schließlich die Möglichkeit gab, sich ein längeres Leben und längere Gliedmaßen zu kaufen, begann die englische Oberschicht tatsächlich die minderwüchsige Masse zu überragen. Wenn wir den Daten, die alles andere als gesichert sind, trauen dürfen, reicht diese körperliche Ungleichheit noch sehr viel weiter in die Vergangenheit. Die ägyptischen Pharaonen und die Angehörigen der mykenischen Elite in der Bronzezeit waren anscheinend deutlich größer als die übrige Bevölkerung. Die Skelettreste, die von stark stratifizierten Gesellschaften erhalten sind, zeigen eine größere Streuung der Körpergröße als in weniger strikt geschichteten Gesellschaften. Und schließlich führte materielle Ungleichheit – was unter darwinistischen Gesichtspunkten besonders bedeutsam ist – zu erheblicher Reproduktionsungleichheit, da sich die Eliten Harems halten und Dutzende Nachkommen zeugen konnten.48

Selbstverständlich hing das Ausmaß der Einkommens- und Vermögensungleichheit in vormodernen Gesellschaften nicht ausschließlich von der Raubgier ihrer gut vernetzten Eliten ab. Die bereits angesprochenen Belege für die Verteilung von Erbschaften und Aussteuern in subelitären Kreisen in altbabylonischer Zeit deuten auf eine wachsende Ungleichheit infolge von Wirtschaftswachstum und Kommerzialisierung hin. Im folgenden Kapitel sowie in Kapitel 9 werden wir uns mit archäologischen Daten zur Hausgröße vor, während und nach der römischen Herrschaft in verschiedenen Teilen Europas und Nordafrikas befassen. Aus diesen Daten lässt sich auf ein sehr unterschiedliches Ausmaß an Konsumungleichheit bei gewöhnlichen Stadtbewohnern schließen. Doch, obwohl zweifellos zusätzliches Material insbesondere zu Begräbnispraktiken angeführt werden könnte, ist es schwierig oder sogar unmöglich, aussagekräftige Informationen über die Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Gesamtbevölkerung in vormoderner Zeit zu sammeln.49

Ich konzentriere mich jedoch nicht primär aus pragmatischen Gründen auf die Reichen. Wie wir in Kapitel 3 und im Anhang sehen werden, können wir in einigen Fällen anhand von Tabellen zur Sozialstruktur oder von Zensusaufzeichnungen zumindest in groben Zügen die Verteilung der materiellen Ressourcen in bestimmten Gesellschaften vom Altertum bis zur modernen Kolonialzeit verfolgen. Die meisten Lorenzkurven, die wir auf der Grundlage dieser Schätzungen zeichnen könnten, würden nicht wie Halbmonde aussehen, sondern die Form von Hockeyschlägern haben, was auf erhebliche Ungleichheit zwischen einigen wenigen und der großen Bevölkerungsmehrheit schließen lässt, die auf dem Subsistenzniveau oder knapp darüber lebte. Sieht man von einigen wenigen Ausnahmen wie der Gesellschaft des antiken Griechenlands und den Siedlern in den nordamerikanischen Kolonien Englands ab (mit diesen Gruppen werde ich mich in den Kapiteln 3 und 6 befassen), fehlte den Agrargesellschaften, die über staatliche Strukturen verfügten, im Allgemeinen eine starke Mittelschicht, deren Ressourcen als Gegengewicht zum Reichtum der Elite hätten dienen können. Allein aus diesem Grund hingen die Schwankungen der Ungleichheit im Wesentlichen davon ab, wie sich der Ressourcenanteil der Reichen entwickelte.50

Schließlich erhöhte auch die Entstehung großer Gruppen sehr armer Personen die allgemeine Ungleichheit. In vielen vormodernen Gesellschaften trug die Versklavung oder Deportation fremder Völker wesentlich zum Wachstum dieser Gruppe bei. Das Neuassyrische Reich im Fruchtbaren Halbmond war berüchtigt für groß angelegte Zwangsumsiedlungen vor allem aus unterworfenen Gebieten in der Peripherie in das Kernland des Reiches im Nordosten Mesopotamiens. In der Regierungszeit von Tiglath-Pileser III. (745–727 v. Chr.) begannen im Gleichklang mit Expansion und Konsolidierung des Reiches umfangreiche Bevölkerungstransfers. In Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind 43 Vorgänge mit 1.210.928 Deportierten sowie mehr als hundert Deportationen dokumentiert, bei denen es keine oder nur bruchstückhafte Angaben zur Anzahl der umgesiedelten Menschen gibt. Obwohl Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zahlen angebracht sind und obwohl Angaben zur Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungen mit Vorsicht behandelt werden müssen – »Das Volk seines Landes, Männer und Frauen, unbedeutende und große Menschen, führte ich ohne Ausnahme fort und zählte sie als Kriegsbeute« –, hatte diese sich häufende Praxis zweifellos gewaltige Auswirkungen.

In den folgenden hundert Jahren konnten die assyrischen Könige unter Einsatz der Deportierten mehrere wichtige Städte errichten, bevölkern und versorgen. Die Steinreliefs, auf denen die königlichen Heldentaten verherrlicht werden, vermitteln den Eindruck, dass die zwangsumgesiedelten Menschen nur wenige persönliche Habseligkeiten wie eine Tasche oder einen Sack mitbrachten. Ihres Besitzes beraubt, konnten sie im Normalfall nicht mehr als ein Dasein auf Subsistenzniveau erwarten. Als das Assyrische Reich den Höhepunkt seiner Macht erreichte, verschlechterte sich die Position dieser Menschen möglicherweise noch weiter. Über einen langen Zeitraum hinweg hatte es in den Aufzeichnungen keinen Hinweis darauf gegeben, dass die umgesiedelten Menschen formal von der ansässigen Bevölkerung unterschieden wurden: Sie wurden »gemeinsam mit den Assyrern gezählt«. In der letzten Phase der assyrischen Eroberungen (von etwa 705 bis 627 v. Chr.), als große Siege und eine fortschreitende Expansion des Reiches das Überlegenheitsgefühl stärkten, verschwand diese Formulierung aus den Annalen. Die Deportierten wurden zu Zwangsarbeitern herabgestuft, die in großen öffentlichen Bauvorhaben eingesetzt wurden.

Die erzwungene Migration vergrößerte nicht nur die Anzahl der Armen, sondern erhöhte auch die Einkommen und Vermögen der Oberschicht. In zahlreichen Texten wird die Verteilung der Kriegsgefangenen am Hof und in den Tempeln erwähnt. Als der letzte der großen Eroberer, König Assurbanipal (668–627 v. Chr.), zahlreiche Deportierte aus Elam (dem heutigen Chuzestan im Südwesten Irans) mit sich führte, erklärte er: »[D]ie Auserlesenen bot ich meinen Göttern dar; […] die Soldaten […] nahm ich in meine königlich Armee auf; […] die übrigen teilte ich wie Schafe unter den Hauptstädten, den Wohnstätten der großen Götter, meinen Beamten, meinem Adel und meinem ganzen Lager auf.« Die Gefangenen wurden als Arbeiter auf den Feldern und in den Plantagen eingesetzt, die ebenfalls Beamten zugeteilt worden waren, während andere auf königlichem Land angesiedelt wurden. Diese in großem Stil angewandten Praktiken erhöhten den Bevölkerungsanteil der Arbeiter mit niedrigem Einkommen und ohne Vermögen und zugleich das Einkommen derer an der Spitze beträchtlich, eine Kombination, die zwangsläufig die Ungleichheit insgesamt verschärfte.51

Die Sklaverei zeitigte ähnliche Ergebnisse. Die Versklavung von Angehörigen anderer Gemeinschaften zählte zu den wenigen Mechanismen, die geeignet waren, in kleinen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften von geringerer Komplexität – nicht nur unter den Gemeinschaften an der amerikanischen Nordwestküste, sondern in einer Vielzahl von Stammesgemeinschaften – ein nennenswertes Maß an Ungleichheit zu erzeugen. Einmal mehr bedurfte es der Domestizierung von Pflanzen und Tieren und der Staatsentstehung, um den Einsatz der Sklavenarbeit auf ein neues Niveau zu heben. In der römischen Republik wurden mehrere Millionen Menschen auf die italienische Halbinsel verschleppt, wo viele von ihnen von reichen Bürgern als Arbeiter für ihre Herrenhäuser, Werkstätten und Landgüter erworben wurden. Zweitausend Jahre später, im 19. Jahrhundert, verteilte das dschihadistische Kalifat von Sokoto im heutigen Nigeria zur selben Zeit, als die »eigentümliche Institution« in den amerikanischen Südstaaten die materielle Ungleichheit verschärfte, zahlreiche Kriegsgefangene unter den Mitgliedern seiner politischen und militärischen Elite.52

Nach dem Krieg sind alle gleich

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