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KAPITEL 3 Auf und ab

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Zwei Höhepunkte der Ungleichheit

Wie entwickelte sich die wirtschaftliche Ungleichheit im Lauf der Zeit? Bisher haben wir uns mit der Frühphase des Prozesses befasst. Eine ungleiche Verteilung der Macht und Hierarchien bildeten sich vor vielen Millionen Jahren bei den afrikanischen Primaten heraus, wurden im Lauf der Entwicklung des Homo in den vergangenen zwei Millionen Jahren jedoch Schritt für Schritt abgebaut. Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren im Holozän führte zu einer Zunahme der Ungleichheit von Macht und Wohlstand, ein Prozess, der mit der bereits beschriebenen Entstehung großer räuberischer Staaten seinen Höhepunkt erreichte. Jetzt ist es an der Zeit, einen genaueren Blick auf bestimmte Weltregionen zu werfen und zu untersuchen, ob die Entwicklung von Einkommens- und Vermögensungleichheit einem allgemeinen Muster gehorchte, das auf die Wirkung bestimmter entegalisierender und nivellierender Kräfte zurückgeführt werden kann. Mein Ziel ist es, die zentralen Argumente dieses Buches zu belegen: Die Zunahme der Ungleichheit war ein Ergebnis des Wechselspiels von technologisch-ökonomischer Entwicklung und Staatsentstehung und für eine wirksame Nivellierung waren gewaltsame Erschütterungen erforderlich, die zumindest zeitweilig die entegalisierenden Auswirkungen von Kapitalinvestitionen, Kommerzialisierung und der Ausübung politischer, militärischer und ideologischer Macht durch räuberische Eliten und ihre Verbündeten einschränken und umkehren konnten.

In dieser Untersuchung, die uns bis ins frühe 20. Jahrhundert führen wird, werden wir uns auf Europa konzentrieren. Der Grund dafür ist eine pragmatische Überlegung: Die europäischen Gesellschaften haben im Lauf der Geschichte insgesamt die umfangreichsten – oder zumindest die am gründlichsten untersuchten – Daten zur Entwicklung der materiellen Ungleichheit bis in die Neuzeit geliefert. Dank dieser Belege können die wiederholten Verschiebungen zwischen wachsender oder stabiler Ungleichheit und egalisierenden Erschütterungen im Lauf mehrerer Jahrtausende zumindest in groben Zügen rekonstruiert werden (Schaubild 3.1).

Der Ackerbau tauchte in Europa um das Jahr 7000 v. Chr. auf und setzte sich in den folgenden drei Jahrtausenden durch. Allgemein lässt sich festhalten, dass diese grundlegende wirtschaftliche Transformation mit einer graduellen Zunahme der Ungleichheit einherging, obwohl es nicht möglich ist, diesen Prozess im Detail zu verfolgen. Man darf sich keine lineare Entwicklung vorstellen: Archäologische Funde wie jene in Varna deuten auf erhebliche kurzfristige Schwankungen hin. Aber wenn wir nicht einen, sondern drei Schritte zurückgehen und den Untersuchungszeitraum von Hunderten auf Tausende Jahre ausweiten, erkennen wir einen belastbaren Aufwärtstrend, der mit zunehmender Bevölkerungsdichte, einer Stabilisierung der staatlichen Macht und wachsenden Produktionsüberschüssen einherging.

Bei dieser Betrachtung aus großer Distanz erkennen wir den ersten lang anhaltenden Höhepunkt der materiellen Ungleichheit in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung im Römischen Reich auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Im Großteil Europas war bis dahin kein vergleichbares Niveau der Bevölkerungsdichte, der Urbanisierung, der Privatvermögen und der Fähigkeit zur Anwendung von Zwang erreicht worden. Die einzige Ausnahme war Griechenland: Dank seiner geografischen Nähe zum alten zivilisatorischen Kerngebiet im Nahen Osten hatte die staatliche Entwicklung dort früher begonnen als im übrigen Europa. In der späten Bronzezeit war in Mykene bereits ein hohes Maß an Ungleichheit erreicht worden; ihren Höhepunkt erreichte sie vermutlich im 13. vorchristlichen Jahrhundert. In den folgenden Jahrhunderten verringerte der mit gewaltsamen Umwälzungen einhergehende Zusammenbruch der staatlichen Strukturen (mit dem wir uns in Kapitel 9 befassen werden) die Unterschiede beträchtlich und Paläste wichen Weilern. Obwohl die Kultur der griechischen Stadtstaaten in der archaischen und klassischen Ära (ca. 800–300 v. Chr.) einen sehr viel höheren wirtschaftlichen Entwicklungsstand ermöglichte (in einigen Fällen war er sogar höher als in vielen Teilen der römischen Welt), setzten auf der militärischen Massenmobilisierung beruhende Institutionen der Ungleichheit Grenzen. Aber so wie andernorts in Europa brachte die römische Zeit auch in dieser Region einen deutlichen Aufschwung der Ungleichheit.1

Schaubild 3.1 Langfristige Entwicklung der Ungleichheit in Europa

Wenn wir den südlichen Balkan, der unter der (teilweise wenig wirksamen) Kontrolle des byzantinischen Nachfolgestaats des Römischen Reichs blieb, fürs Erste beiseitelassen, stellen wir fest, dass die Einkommens- und Vermögensungleichheit in sämtlichen Regionen Europas, die unter römischer Herrschaft gestanden hatten, nach der Auflösung der Macht Roms in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. deutlich zurückging. Wie ich in Kapitel 9 zeigen werde, war diese wirtschaftliche Nivellierung im Wesentlichen die direkte Folge des staatlichen Zusammenbruchs, einer massiven gewaltsamen Erschütterung, der durch die erste Pestpandemie in Westeuropa vom 6. bis zum 8. Jahrhundert verstärkt wurde. Die Bevölkerungsverluste durch die Pest erhöhten den Wert der Arbeitskraft im Verhältnis zu dem von Grund und Boden. Wir müssen uns die großen zeitlichen und räumlichen Schwankungen vor Augen halten: Am weitesten dürfte die Nivellierung nach dem Ende der römischen Herrschaft in Britannien vorangeschritten sein, während sich die Ungleichheit in stärker abgekapselten Regionen wie der Iberischen Halbinsel unter westgotischer Herrschaft offenbar hartnäckiger hielt. Aber die Auflösung der weitläufigen Handelsnetze für den wirtschaftlichen Austausch zwischen den Eliten, der städtischen Kultur, der Steuerstrukturen und der regionsübergreifenden Vermögen war überall zu beobachten.2

Es hat wenig Sinn, auch nur zu versuchen, diese Große Kompression zahlenmäßig zu erfassen: Es ist schwierig genug, die Gini-Koeffizienten für das Römische Reich zu schätzen, und es dürfte noch sehr viel schwieriger sein, sie für die poströmischen Gesellschaften des 6., 7. oder 8. Jahrhunderts zu ermitteln. Es genügt festzustellen, dass zwei Faktoren zusammenwirkten, um die Ungleichheit zu verringern: Schrumpfende Pro-Kopf-Überschüsse verringerten das mögliche Ausmaß der Ungleichheit und Staaten wie Eliten büßten ihre Fähigkeit zur Extraktion der Überschüsse weitgehend ein. Selbst das byzantinische Griechenland wurde von gewaltsamen Umwälzungen erschüttert, die die Vermögensunterschiede verringerten. Für eine Weile dürfte Konstantinopel, der östlichste Außenposten der urbanen Zivilisation Europas, die letzte Bastion der für große Reiche charakteristischen Ungleichheit gewesen sein, aber sogar dieses gut verteidigte Zentrum erlebte einen deutlichen Niedergang.3

Die europäischen Volkswirtschaften und politischen Gemeinschaften erholten sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die karolingische Expansion im 8. Jahrhundert kann ebenso als Ausweitung der Ungleichheit betrachtet werden wie die islamische Eroberung Spaniens. In Großbritannien folgten auf den poströmischen Tiefpunkt die von den Ostsachsen vorangetriebene Staatsentstehung und der Aufstieg eines mächtigen und wohlhabenden Adels. Das von Magnaten dominierte Byzanz erlangte im 9. und 10. Jahrhundert die Kontrolle über den Balkan wieder. Die durch den Untergang Roms geschwächten Aristokratien gewannen wieder an Stärke. Es gab beträchtliche geografische Unterschiede, aber generell kann festgestellt werden, dass die Stabilisierung des Feudalismus ab dem 9. Jahrhundert den Eliten größere Kontrolle über die ländlichen Arbeitskräfte und ihre Produktionsüberschüsse gab, ein Prozess, der mit der zunehmenden Konzentration des Grundbesitzes in den Händen säkularer und klerikaler Führer einherging. Zwischen 1000 und 1300 erlebte Europa eine Phase des robusten wirtschaftlichen und demografischen Wachstums. Das Bevölkerungswachstum, die Zunahme und das Wachstum der Städte, die Ausweitung des Handels und die wachsende Macht der Eliten erhöhten die wirtschaftliche Ungleichheit.

In England nahm die Ungleichheit in dieser Phase durchweg zu. Die im Jahr 1086 für das Domesday Book erhobenen Daten zeigen, dass die meisten Bauernhaushalte genug Land besaßen, um mit den Erträgen ihrer eigenen Parzellen ein über das Subsistenzniveau hinausgehendes Einkommen zu erzielen, aber aus der 1279/80 durchgeführten Erhebung für die Hundred Rolls geht hervor, dass die meisten Nachkommen dieser Bauern nur noch über die Runden kommen konnten, indem sie die Produktion ihrer Höfe durch den Lohn für Erntearbeiten auf den Feldern anderer ergänzten. Eine Modellsimulation zeigt, dass diese Entwicklung nicht allein mit dem Bevölkerungswachstum erklärt werden kann: Die wachsende Ungleichheit war das Resultat des Zusammenwirkens des Bevölkerungswachstum mit einer Erleichterung von Grundübertragungen, die Kleinbauern dazu bewegte, in Krisenzeiten an Bessergestellte zu verkaufen, um Nahrungsmittel, Saatgut und Nutztiere bezahlen oder ihre Schulden bedienen zu können; dazu kamen die Auswirkungen der Erbteilung, die zur Fragmentierung des Grundbesitzes führte und die Anzahl der Notverkäufe erhöhte. Ein Teil der Bauern verlor jeglichen Grundbesitz, was die Vermögensungleichheit zusätzlich verschärfte. Obendrein stiegen die Pachtzinsen für einfache Bauern zwischen dem Jahr 1000 und dem frühen 14. Jahrhundert deutlich, obwohl ihre Grundstücke schrumpften. In Frankreich sank die Größe der typischen Parzelle zwischen dem 9. und dem frühen 14. Jahrhundert von rund zehn Hektar auf unter drei Hektar.4

Die Ungleichheit wurde auch durch die Einkommens- und Vermögenskonzentration an der Spitze verstärkt. Im Jahr 1200 gab es in England 160 Magnaten (Barone) mit einem Durchschnittseinkommen von 200 Pfund. Hundert Jahre später war diese Gruppe auf rund 200 Personen mit einem durchschnittlichen Einkommen von 670 Pfund gewachsen, was einer realen Verdopplung des Einkommens entsprach. Wie in Zeiten wachsender Ungleichheit üblich wuchsen die größten Vermögen am stärksten: Im Jahr 1200 verfügte der reichste Baron, Roger de Lacy aus Chester, über 800 Pfund (das Vierfache des durchschnittlichen Jahreseinkommens seiner Standesgenossen). Hundert Jahre später erzielte Edmund, Earl of Cornwall, ein Jahreseinkommen von 3800 Pfund, was einer realen Verdreifachung entsprach und das Durchschnittseinkommen der Barone jener Zeit um das Fünfeinhalbfache überstieg. Die mittlere Ebene der englischen Elite wuchs noch stärker: Die Anzahl der Ritter stieg zwischen 1200 und 1300 von rund 1000 auf etwa 3000, wobei die Einkommensschwellen weitgehend unverändert blieben. Die Entwicklung der Ungleichheit der militärischen Einkommen kann anhand des Verhältnisses zwischen dem Sold von Rittern und dem von Fußsoldaten verfolgt werden: Es stieg von 8 zu 1 im Jahr 1165 auf 12 zu 1 im Jahr 2015 und 12 bis 24 zu 1 im Jahr 1300. Es ist kein Zufall, dass auch die französischen Weinimporte Anfang des 14. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreichten. Die Realeinkommen der Elite stiegen zur selben Zeit, als die des gemeinen Volkes sanken. In anderen Teilen Europas dürften die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungswachstum und Kommerzialisierung ähnliche Auswirkungen gehabt haben.5

Kurz vor Ausbruch der Pest im Jahr 1347 war Europa insgesamt so weit entwickelt und so ungleich wie seit den Tagen des Römischen Reichs nicht mehr. Wir können lediglich Vermutungen über das Verhältnis zwischen diesen beiden Höhepunkten der Ungleichheit anstellen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Ungleichheit insgesamt selbst im frühen 14. Jahrhundert etwas geringer als knapp ein Jahrtausend zuvor gewesen sein dürfte. Im Hochmittelalter gab es keine der spätrömischen Aristokratie entsprechende Gesellschaftsschicht. Der römische Adel hatte Landgüter im westlichen Mittelmeerraum und seinem Hinterland besessen und Einnahmen eines riesigen imperialen Staatsapparats abgeschöpft, der im mittelalterlichen Europa seinesgleichen suchte. Nur im Byzantinischen Reich dürfte die Extraktionsrate noch höher als auf dem Höhepunkt des Römischen Reichs gewesen sein, aber das byzantinische Reichsgebiet lag im Wesentlichen außerhalb des eigentlichen Europa. Interessant ist, dass eine isolierte Schätzung des Gini-Koeffizienten der Einkommen in England und Wales um das Jahr 1290 bei einer vergleichbaren Pro-Kopf-Produktion auf eine etwas geringere Ungleichheit als im Römischen Reich im 2. Jahrhundert hindeutet. Aber aussagekräftigere Vergleiche zwischen dem Ausmaß der Ungleichheit in römischer Zeit und jenem im Hochmittelalter dürften unmöglich sein. Für unsere Untersuchung bedeutsam ist, dass es im Hochmittelalter zweifellos zu einer allgemeinen Entegalisierung bei Einkommen und Vermögen kam. Steueraufzeichnungen, die auf eine hochgradige Vermögenskonzentration in Paris und London um das Jahr 1310 hindeuten (die Gini-Koeffizienten erreichten einen Wert von 0,79 und waren möglicherweise noch höher), belegen, welche Bedingungen gegen Ende der lang anhaltenden kommerziellen Revolution in jener Zeit herrschten.6

All das änderte sich, als im Jahr 1347 in Europa eine aus dem Mittleren Osten kommende Pestepidemie ausbrach. Der Schwarze Tod kehrte in den folgenden Jahrhunderten immer wieder als Endemie zurück und tötete zig Millionen Menschen. Schätzungen zufolge fiel der Krankheit bis 1400 mehr als ein Viertel der europäischen Bevölkerung zum Opfer – Italien dürfte ein Drittel und England sogar knapp die Hälfte seiner Einwohner verloren haben. In der Folge wurden Arbeitskräfte knapp: Bis Mitte des 15. Jahrhunderts verdoppelten sich die Reallöhne ungelernter Arbeiter in den Städten überall in Europa, während der Anstieg bei Handwerkern etwas geringer ausfiel. In England verdoppelten sich auch die Löhne von Landarbeitern, während die Bodenrente sank und die Vermögen der Elite schrumpften. Von England bis Ägypten wurde die Ernährung besser und die Menschen wurden größer. Wie wir in Kapitel 10 sehen werden, geht aus Steuerregistern italienischer Städte hervor, dass die Vermögensungleichheit deutlich sank: Die lokalen oder regionalen Gini-Koeffizienten fielen um mehr als zehn Punkte und die Anteile der Spitzenvermögen um ein Drittel oder mehr. Eine der schlimmsten Erschütterungen in der Geschichte der Menschheit hatte die Auswirkungen einer jahrhundertelangen Entegalisierung rückgängig gemacht.7

Der Aufstieg zu neuen Gipfeln der Ungleichheit

Als die Pestendemien Ende des 15. Jahrhunderts abklangen, erholte sich die europäische Bevölkerung. Die wirtschaftliche Entwicklung schritt voran und die Ungleichheit nahm wieder zu. Die Entstehung von fiskal-militärischen Staaten in Europa, die Errichtung von Kolonialreichen und eine beispiellose Ausweitung des Welthandels trieben den institutionellen Wandel und die Entstehung neuer Netzwerke für den wirtschaftlichen Austausch an. Obwohl Handel und Tributwesen stets Seite an Seite existiert hatten, rückte der wirtschaftliche Austausch Schritt für Schritt in den Vordergrund, da die Kommerzialisierung die Tributstaaten veränderte und ihre Abhängigkeit von Handelseinnahmen erhöhte. Die Entwicklung eines stärker integrierten Weltsystems, das sich auf den Edelmetallabbau in der Neuen Welt und den interkontinentalen Handel stützte, mobilisierte Reichtümer und vergrößerte die Kluft zwischen Reich und Arm rund um den Erdball. Als sich Europa in die Schaltzentrale eines weltweiten Handelsnetzes verwandelte, vergrößerte der wirtschaftliche Fortschritt die Macht der merkantilen Eliten und band die auf dem Land lebende Bevölkerungsmehrheit in Marktaktivitäten ein, die ihre Bindung an den Boden schwächten. Tribut extrahierende Eliten verwandelten sich in kommerzielle und unternehmerische Grundbesitzer und Händler knüpften engere Beziehungen zu den Regierungen. Die Bauern wurden durch Einfriedung, Steuern, Schulden und die Kommodifizierung des Bodens vom Land getrennt. Neben diesen modernisierenden Marktprozessen existierten die in der räuberischen Nutzung politischer Macht verwurzelten traditionellen Methoden der Bereicherung weiter: Stärkere Staaten ebneten den Weg zum Reichtum. All das erhöhte die Vermögensungleichheit.8

Das Europa des Spätmittelalters und insbesondere der frühen Neuzeit ist von besonderer Bedeutung für die historische Untersuchung der materiellen Ungleichheit. Für diese Zeit liegen quantitative Daten zur Vermögensverteilung vor, was es uns erlaubt, die Veränderungen im Lauf der Zeit zu verfolgen und die Entwicklungen in verschiedenen Bereichen zu vergleichen. (Quantitative Daten zur Einkommensverteilung gibt es aus dieser Zeit nicht.) Die Daten stammen überwiegend aus örtlichen Registern, in denen der steuerpflichtige Grundbesitz erfasst wurde, und können durch Informationen über Bodenrenten und Arbeitseinkommen ergänzt werden. Im Folgenden verwende ich die Informationen über die Vermögens- und Einkommensverteilung nebeneinander. Eine systematische Aufschlüsselung der beiden Verteilungen ist für diese Zeit normalerweise nicht möglich: Wer die vormoderne Ungleichheit studiert, muss normalerweise aus einer größeren Anzahl von Quellen schöpfen, als modernen Ökonomen ratsam scheinen dürfte. Aber das ist kein gravierendes Problem, denn in den vorindustriellen Gesellschaften konnten sich Vermögens- und Einkommensungleichheit kaum in unterschiedliche Richtungen entwickeln.9

Obwohl diese Datensätze keine geeignete Grundlage für Statistiken zur Ungleichheit in einzelnen Ländern darstellen, ermöglichen sie uns ein besseres Verständnis der Struktur und Entwicklung der Vermögenskonzentration als die Informationen zu früheren Perioden. Dank ihres inneren Zusammenhalts und ihrer Konsistenz über längere Zeiträume hinweg dürften einige dieser Datenreihen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit ein realistischeres Bild der groben Umrisse der Entwicklung zeichnen als moderne Versuche, aus verschiedenartigen Quellen landesweite Trends abzuleiten. Das gilt sogar für das 19. Jahrhundert. In ihrer Gesamtheit zeigen die Daten aus mehreren west- und südeuropäischen Gesellschaften, dass die Ressourcen in den großen Städten ungleichmäßiger als in kleineren Ortschaften und auf dem Land verteilt waren, dass die Ungleichheit nach dem Abklingen der Pestepidemien im Allgemeinen wieder zunahm und dass dieser Anstieg unter sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen stattfand.

Eine verstärkte Arbeitsteilung, die Differenzierung von Kenntnissen und Einkommen, die räumliche Konzentration der Elite und des merkantilen Kapitals und der Zustrom ärmerer Migranten hatten in den Städten stets die Ungleichheit erhöht. Aus dem Florentiner Zensus (catasto) von 1427 geht eine positive Korrelation der Vermögensungleichheit mit dem Ausmaß der Verstädterung hervor. Der Gini-Koeffizient für die Vermögensverteilung in der Hauptstadt Florenz lag bei 0,78 – und vermutlich sogar näher bei 0,85, wenn man die nicht im Zensus erfassten besitzlosen Armen berücksichtigt. In kleineren Städten (0,71–0,75) und den Ortschaften des von der Landwirtschaft geprägten Flachlands (0,63) waren die Gini-Werte niedriger und besonders niedrig waren sie in den ärmsten Gebieten, das heißt in Hügellandschaften und Bergregionen (0,52–0,53). Im Einklang damit war der Einkommensanteil der reichsten Haushalte unterschiedlich hoch: In Florenz entfielen 67 Prozent des Gesamteinkommens auf die reichsten fünf Prozent, während der Einkommensanteil dieser Gruppe in den Bergen bei 36 Prozent lag. Die Daten aus anderen italienischen Steuerregistern zeichnen ein ähnliches Bild: Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert war die Vermögenskonzentration in den toskanischen Städten Arezzo, Prato und San Gimignano durchweg höher als in den umgebenden ländlichen Gebieten. Dasselbe Muster ist in geringerem Umfang im Piemont zu beobachten.10

Eine ausgeprägte Vermögensungleichheit (Gini-Koeffizient von mindestens 0,75) war im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit ein typisches Merkmal der großen westeuropäischen Städte. Besonders extrem waren die Verhältnisse in Augsburg, einem der Wirtschaftszentren Deutschlands in jener Zeit: Mit der Erholung von der durch die Pest ausgelösten Nivellierung ging ein Anstieg des Gini-Koeffizienten für die urbane Vermögensverteilung von 0,66 im Jahr 1498 auf einen rekordverdächtigen Wert von 0,89 im Jahr 1604 einher. Eine stärker polarisierte Gesellschaft ist kaum vorstellbar: Eine winzige Minderheit der Einwohner besaß fast das gesamte Vermögen, während ein bis zwei Drittel der Bevölkerung nichts besaß, was zu erfassen sich gelohnt hätte. Auf diesen Fall werden wir am Ende von Kapitel 11 zurückkommen. In den großen niederländischen Städten war die Vermögenskonzentration ähnlich ausgeprägt (die Gini-Koeffizienten lagen zwischen 0,8 und 0,9), aber die kleineren Städte hinkten deutlich hinterher (0,5–0,65). Sehr ausgeprägt war die Einkommensungleichheit in Amsterdam, wo der entsprechende Gini-Koeffizient im Jahr 1742 auf einen Wert von 0,69 stieg. Aus englischen Steuerregistern aus den Jahren 1524 und 1525 geht hervor, dass der Gini-Koeffizient für die städtische Vermögensungleichheit im Allgemeinen über 0,6 lag und teilweise Werte von 0,82 bis 0,85 erreichte, was deutlich über den Werten von 0,54 bis 0,62 für die ländlichen Gebiete lag. Die Vermögensverteilung in Nachlassregistern korrelierte ebenfalls mit der Siedlungsgröße. In einigen dieser Regionen stagnierten die Urbanisierungsraten zwischen 1500 und 1800, vor allem in Italien und auf der Iberischen Halbinsel, aber in England und den Niederlanden stiegen sie deutlich, was mit zunehmender Ungleichheit einherging.11

Ab dem 15. Jahrhundert, als die Ungleichheit infolge der Pest ihren Tiefpunkt erreichte, nahm sie in fast allen Regionen Europas, für die Daten vorliegen, wieder zu. Besonders detaillierte Informationen liegen für die Niederlande vor, deren wirtschaftlicher Fortschritt besonders früh begann und die zu jener Zeit mit einiger Sicherheit das höchste Pro-Kopf-BIP der Welt hatten. Die Entwicklung in den Niederlanden gibt Aufschluss über die entegalisierende Wirkung der kommerziellen und städtischen Entwicklung. Im späten 17. Jahrhundert war der Anteil der in Städten lebenden Bevölkerung auf 40 Prozent gestiegen; in der Landwirtschaft arbeitete nur noch ein Drittel der Bevölkerung. In den großen Städten wurden Güter für den Export erzeugt und verarbeitet. Ein schwacher Adel war von einer wirtschaftlichen Elite in den Hintergrund gedrängt worden, die keiner despotischen Ausbeutung ausgesetzt war. Die ausgeprägte Ungleichheit in den Städten war auf die urbane Kapitalkonzentration sowie darauf zurückzuführen, dass viele Grundbesitzer in den Städten wohnten. In Amsterdam wurden im Jahr 1742 fast zwei Drittel der Einkommen mit Kapitalinvestitionen und unternehmerischen Aktivitäten erzielt. Aufgrund der Verschiebung von arbeitsintensiven zu kapitalintensiven Produktionsmethoden und infolge des stetigen Zustroms ausländischer Arbeitskräfte, der Druck auf die Reallöhne ausübte, stieg der Anteil der Kapitaleinkünfte am Gesamteinkommen in Holland zwischen 1500 und 1650 von 44 auf 59 Prozent.12

Wirtschaftsentwicklung und städtisches Wachstum erhöhten die Ungleichheit im Lauf der Zeit, da sich ein kleiner Teil der niederländischen Bevölkerung einen unverhältnismäßig großen Teil des neu entstandenen Reichtums aneignen konnte, während die Anzahl der Armen weiter wuchs. Aus der längsten verfügbaren Datenreihe zur Vermögensentwicklung geht hervor, dass der Vermögensanteil des reichsten Prozents der Einwohner Leidens von 21 Prozent im Jahr 1498 auf 33 Prozent im Jahr 1623, 42 Prozent im Jahr 1675 und 59 Prozent im Jahr 1722 stieg. Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Haushalte, deren Einkommen so niedrig war, dass sie keine Steuern zahlen mussten, von 76 auf 92 Prozent. Der Großteil der einschlägigen Informationen stammt aus Steuerregistern, in denen der jährliche Mietwert von Häusern in verschiedenen Teilen Hollands festgehalten ist; dies ist ein indirekter und weniger zuverlässiger Proxywert, der das tatsächliche Ausmaß der Vermögensungleichheit wahrscheinlich nicht wiedergibt, da die Reichen mit wachsendem Vermögen einen progressiv sinkenden Teil ihres Einkommens für die Unterkunft ausgeben. Ein gewichteter Wert für große Teile Hollands zeigt einen dauerhaften Anstieg des Gini-Koeffizienten von 0,5 im Jahr 1514 auf 0,56 im Jahr 1561, 0,61 (oder 0,63) um das Jahr 1740 und 0,63 im Jahr 1801. Zwischen 1561 und 1732 stiegen die Gini-Koeffizienten der Mietwerte überall, und zwar von 0,52 auf 0,59 in den Städten und von 0,35 auf 0,38 auf dem Land. Aus der aktuellsten standardisierten Erhebung von Daten zu fünfzehn niederländischen Städten ergibt sich ein allgemeiner Anstieg zwischen dem 16. und dem späten 19. Jahrhundert.13

Diese Entwicklung kann nur teilweise mit dem wirtschaftlichen Fortschritt erklärt werden. Manchmal nahm die Vermögenskonzentration zu, obwohl das Wirtschaftswachstum zum Stillstand gekommen war. Nur in den nördlichen Provinzen der Niederlande ging die Zunahme der Ungleichheit mit dem Wirtschaftswachstum einher, während in den südlichen Provinzen überhaupt kein systematischer Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen zu erkennen ist. Eine unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung wirkte sich nicht auf die allgemeine Tendenz einer steigenden Ungleichheit aus und dasselbe gilt für unterschiedliche Steuersysteme: Während die intensive regressive Besteuerung des Konsums im Süden eine entegalisierende Wirkung hatte, waren die Steuern in der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen im Norden tatsächlich progressiv und zielten auf Luxusgüter und Immobilien. Dennoch nahm die Ungleichheit in der gesamten Region zu.

Das überrascht nicht: Im wirtschaftlich dynamischeren Norden wurden die entegalisierenden Kräfte des Welthandels und der Verstädterung durch eine wachsende Streuung der Einkommen verstärkt, die ihren Ursprung zumindest teilweise in den soziopolitischen Machtverhältnissen hatte. In Amsterdam stiegen die Gehälter von hochrangigen Verwaltungsbeamten, Angestellten, Lehrern und Badern (Chirurgen) zwischen 1580 und 1789 schneller – um das Fünf- bis Zehnfache – als jene von Zimmermännern, die sich lediglich verdoppelten. Bei einigen Berufen wie dem des Chirurgen mag dies darauf zurückzuführen sein, dass ihren Kenntnissen wachsender Wert beigemessen wurde, obwohl der Qualifikationsbonus in jener Zeit im Allgemeinen nicht stieg. Aber großzügige Gehaltserhöhungen für Staatsbeamte und verwandte Wissensarbeiter wie Schullehrer dürften in erster Linie auf den Wunsch der Staatsdiener zurückzuführen sein, mit jenen Angehörigen derselben bürgerlichen Schicht Schritt zu halten, die in den Genuss steigender Kapitaleinkünfte kamen. Anscheinend bewirkte der Anstieg der kommerziellen Kapitaleinkünfte eine deutliche Erhöhung der Einkommen bestimmter sozial privilegierter Gruppen. Die Rentenökonomie der Eliten führte zu einer Polarisierung der Einkommensverteilung.14

Auf dem Territorium (im contado) von Florenz stieg die in den Grundbesitzregistern dokumentierte Vermögensungleichheit von einem Tiefstwert von 0,5 Mitte des 15. Jahrhunderts auf 0,74 um das Jahr 1700. In Arezzo erhöhte sich der Gini-Koeffizient zwischen 1390 und 1792 von 0,48 auf 0,83, in Prato kletterte er von 0,58 im Jahr 1546 auf 0,83 im Jahr 1763. Die Vermögenskonzentration war vor allem auf den wachsenden Vermögensanteil der reichsten Bevölkerungsgruppe zurückzuführen: Zwischen dem späten 15. oder dem frühen 16. Jahrhundert und dem frühen 18. Jahrhundert stieg der Anteil des reichsten Prozents der Haushalte an den verzeichneten Vermögenswerten im contado von Florenz von 6,8 auf 17,5 Prozent, in Arezzo von 8,9 auf 26,4 Prozent und in Prato von 8,1 auf 23,3 Prozent. Ähnliche Trends lassen sich aus den Daten in piemontesischen Registern ableiten, wo die Gini-Koeffizienten der Vermögensverteilung in mehreren Städten um bis zu 27 Prozent und in einigen ländlichen Gemeinden in ähnlichem Ausmaß stiegen. Im apulischen Königreich Neapel stieg der Vermögensanteil der reichsten fünf Prozent der Bevölkerung zwischen 1600 und 1750 von 48 auf 61 Prozent. Im Piemont und in Florenz wuchs der Anteil der Haushalte, deren Vermögen den örtlichen Medianwert um das Zehnfache oder mehr überstieg, von drei bis fünf Prozent Ende des 15. Jahrhunderts auf zehn bis 14 Prozent drei Jahrhunderte später: Die Polarisierung verschärfte sich, als sich das Einkommen einer wachsenden Anzahl von Haushalten vom Medianwert entfernte.15

Anders als in den Niederlanden fanden diese Veränderungen überwiegend in einer Phase der wirtschaftlichen Stagnation im 17. Jahrhundert und eines noch länger andauernden Mangels an Fortschritten in der Urbanisierung statt. Dafür sind drei entegalisierende Kräfte verantwortlich gemacht worden: die demografische Erholung vom Bevölkerungsschwund infolge der Pestepidemien, die graduelle Enteignung und Proletarisierung ländlicher Produzenten und die Entstehung des fiskal-militärischen Staats. Wie anderswo in Europa verringerte ein wachsendes Arbeitskräfteangebot auch hier den Wert der Arbeit im Verhältnis zu dem von Boden und anderem Kapital. Die Elite eignete sich mehr und mehr Land an, ein Prozess, den wir sowohl in den Niederlanden als auch in Frankreich verfolgen können. Zudem gingen die Stadtstaaten mit ihren autonomen Traditionen des Gemeinwesens und ihren Konzepten von Bürgertum und Republikanismus in größeren Staaten auf, die mehr Zwang ausübten und die Steuerbelastung erhöhten. Im Piemont und in den südlichen Niederlanden leitete die Staatsverschuldung Ressourcen von den Arbeitskräften zu wohlhabenden Kreditgebern um.16

Diese Fallstudien belegen die langfristige Kontinuität der entegalisierenden Mechanismen. Mindestens seit altbabylonischer Zeit förderten starkes Wirtschaftswachstum, Kommerzialisierung und Verstädterung die Ungleichheit. Dasselbe gilt für die römische Zeit und das Hochmittelalter. Wie wir gesehen haben, können die Landnahme durch wohlhabende Kapitalbesitzer und eine durch die Steuerextraktion und andere staatliche Eingriffe begünstigte Bereicherung der Eliten sogar bis in die sumerische Zeit zurückverfolgt werden. Die Einkommens- und Vermögenskonzentration in der frühen Neuzeit unterschieden sich nur in den Abläufen und im Umfang von den früheren Prozessen: Die Eliten waren nicht mehr darauf angewiesen, die herkömmlichen Strategien der Rentenökonomie dadurch zu ergänzen, dass sie Ressourcen stahlen oder benachteiligten Gruppen abpressten, sondern sie konnten vom Erwerb öffentlicher Schuldverschreibungen profitieren. Der Welthandel eröffnete ihnen nie da gewesene Investitionschancen und die Urbanisierung nahm ein beispielloses Ausmaß an. Aber die grundlegenden Mittel der Entegalisierung blieben unverändert und entfalteten nach der zeitweiligen Unterbrechung durch eine gewaltsame Erschütterung erneut ihre Wirkung.

Der komplementäre Charakter dieser bewährten entegalisierenden Faktoren ist die wichtigste Erklärung dafür, dass die Ergebnisse trotz sehr unterschiedlicher wirtschaftlicher und institutioneller Bedingungen überall ähnlich ausfielen (Schaubild 3.2). In der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen wurde die Zunahme der Ungleichheit vom Welthandel, dem Wirtschaftswachstum und der Verstädterung angetrieben, während der Anstieg im Piemont und in der Toskana anscheinend vor allem auf den Abgabendruck zurückzuführen war und im Süden der Niederlande wirkten beide Mechanismen zusammen. In England, dessen Wirtschaft zu jener Zeit nach jener der nördlichen Niederlande die dynamischste Europas war, verschärften die Kommerzialisierung und das Wachstum der Städte die materielle Ungleichheit: In Nottingham stieg der Gini-Koeffizient der Vermögensverteilung zwischen 1473 und 1524 von 0,64 auf 0,78 und eine Auswertung von Nachlassregistern ergab einen Anstieg von Werten zwischen 0,48 und 0,52 in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf 0,53 bis 0,66 achtzig Jahre später. Aus neun derartigen Registern geht hervor, dass die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung am Ende dieses Zeitraums zwischen 24 und 35 Prozent des Gesamtvermögens besaßen, nachdem der entsprechende Anteil ursprünglich nur 13 bis 25 Prozent betragen hatte.17

Schaubild 3.2 Gini-Koeffizienten der Vermögensverteilung in Italien und den Niederlanden, 1500–1800

Ganz anders waren die wirtschaftlichen Bedingungen in Spanien, wo eine Ruralisierung stattfand; die Viehhaltung wich dem Ackerbau und die Löhne sanken. Aufgrund der Stagnation und teilweise sogar Rückentwicklung wuchs das Verhältnis zwischen nominellem Pro-Kopf-BIP und nominellen Löhnen ab etwa 1420 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stetig, eine Entwicklung, die Aufschluss über einen fortschreitenden entegalisierenden Wertverlust der Arbeitskraft mit sinkenden Reallöhnen gab, ein Phänomen, das auch in vielen anderen europäischen Ländern zu beobachten war. Das Verhältnis zwischen Bodenrenten und Arbeitslöhnen, ein weiterer Indikator für die Ungleichheit, schwankte in diesem Zeitraum stärker, war im Jahr 1800 jedoch ebenfalls höher als 400 Jahre zuvor (Schaubild 3.3). Diese Erkenntnisse decken sich mit der Beobachtung, dass die anhand von Steuerregistern ermittelte Vermögensungleichheit in der Provinz Madrid zwischen 1500 und 1840 zunahm (wobei diese Entwicklung jedoch ungleichmäßig verlief).18

Schaubild 3.3 Verhältnis von Pro-Kopf-BIP und Löhnen bzw. Reallöhnen in Spanien, 1277–1850

In Frankreich schwächte der kombinierte Druck von demografischer Erholung und Wachstum der Landgüter ab dem 16. Jahrhundert im ländlichen Raum die gesellschaftliche Mitte und führte zu einer Polarisierung zwischen Großgrundbesitzern und Kleinbauern, deren Höfe zu klein waren, um sie zu ernähren, was sie in Pachtverträge und Lohnarbeit zwang. Die bisher einzige dokumentierte Ausnahme von dieser allgemeinen Entwicklung wurde in Portugal beobachtet. Aus Steueraufzeichnungen geht hervor, dass die Einkommensungleichheit zwischen 1565 und 1700, als die wirtschaftliche Entwicklung und die Urbanisierung stagnierten und die Überseeimperien geschwächt wurden, insgesamt geringfügig sank. Die Qualifikationsboni blieben in dieser Zeit weitgehend stabil und das Verhältnis zwischen Bodenrenten und Löhnen verringerte sich im gesamten 17. Jahrhundert, bevor es sich ab den Siebzigerjahren dieses Jahrhunderts teilweise erholte. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die geringfügige Verringerung der Einkommensungleichheit im Wesentlichen auf kleine Ortschaften und ländliche Gemeinden beschränkt war, während sie in den urbanen Zentren langfristig (wenn überhaupt) nur geringfügig abnahm.19

In Ermangelung gewaltsamer Erschütterungen konnte die Ungleichheit abhängig von den örtlichen wirtschaftlichen und institutionellen Bedingungen aus verschiedensten Gründen zunehmen; wesentlich ist, dass sie (fast) immer wuchs. Vorbehaltlich ihrer beschränkten Aussagekraft decken sich die Resultate moderner Bemühungen, nationale Gini-Koeffizienten für die Einkommensverteilung in dieser Zeit zu ermitteln, im Wesentlichen mit den Trends, die aus den lokalen empirischen Datensätzen abgeleitet werden können. Der Gini-Koeffizient der Einkommensungleichheit in den Niederlanden dürfte zwischen 1561 und 1732 von 0,56 auf 0,61 gestiegen sein, um dann während der Napoleonischen Kriege bis 1808 wieder auf 0,57 zu sinken. In Anbetracht der eher unsoliden Grundlagen der schematischen Berechnungen sollten diese Werte am besten als Hinweis auf eine einigermaßen hohe und stabile Ungleichheit betrachtet werden. Die entsprechenden Gini-Werte für England und Wales stiegen von 0,45 im Jahr 1688 – das heißt von einem Niveau, das deutlich über dem vermutlichen Höhepunkt von 0,37 im Mittelalter lag – auf 0,46 im Jahr 1739 und 0,52 im Jahr 1801. Auch in Frankreich war der Gini-Koeffizient im Jahr 1788 mit etwa 0,56 hoch. Diese Werte waren allesamt höher als die für das Römische Reich und Byzanz ermittelten und dasselbe gilt für die Pro-Kopf-Produktion: In den Niederlanden überstieg sie das Subsistenzniveau um das Vier- bis Sechsfache, in England und Wales um das Fünfbis Siebenfache und in Frankreich um das Vierfache. Zum Vergleich: In Rom, Byzanz und dem mittelalterlichen England war die Produktion nur etwa doppelt so hoch gewesen wie für die Subsistenz erforderlich. Aber wie wir bereits gesehen haben, genügte die wirtschaftliche Entwicklung als solche nicht, um größere Ungleichheit heraufzubeschwören: Bei einer Produktion, die das Subsistenzniveau um das Zweieinhalbfache überstieg, waren die Pro-Kopf-Überschüsse in Altkastilien im Jahr 1752 nicht sehr viel höher als im Römischen Reich, aber die Einkommensungleichheit war höher (Gini-Koeffizient 0,53), was darauf hindeutet, dass hier starke soziale und politische Entegalisierungskräfte wirkten.20

Überall dort, wo die effektive Extraktionsrate – das aktualisierte Ausmaß der auf einem gegebenen Niveau des Pro-Kopf-BIP maximal möglichen Ungleichheit – grob geschätzt werden kann, blieb sie zwischen dem 16. und dem frühen 19. Jahrhundert unverändert oder stieg an. Drei Jahrhunderte nach dem Rückgang infolge der Pest hatte die Einkommensungleichheit in den Teilen West- und Südeuropas, für die bessere Daten vorliegen, in Brutto-Gini-Koeffizienten ausgedrückt, ein Niveau erreicht, das erstmals über dem in römischer Zeit beobachteten lag. Nach Bereinigung um die vom Pro-Kopf-BIP abhängigen effektiven Subsistenzerfordernisse war die Ungleichheit etwa genauso hoch wie in der Antike und im Hochmittelalter. Im Jahr 1800 waren die Reallöhne von Arbeitskräften in den Städten ausnahmslos niedriger als am Ende des 15. Jahrhunderts und, obwohl die um divergierende Lebenshaltungskosten von Gruppen mit hohen und niedrigen Einkommen bereinigte »reale« Ungleichheit etwas stärker als die nominellen Werte schwankte, war die Tendenz auch hier steigend.21

Außerhalb Europas

Wie entwickelte sich die Ungleichheit in der übrigen Welt? Osmanische Nachlassregister aus vier kleinasiatischen Städten, die komplette Vermögen einschließlich Grundstücke und des persönlichen Besitzes sowie Bargeld, Kredite und Schulden beinhalten, verraten uns einiges über die Entwicklung der Vermögensungleichheit zwischen 1500 und 1840. Wie in Europa korrelierten das mittlere Vermögen und das Maß der Ungleichheit auch dort positiv mit der Größe der Städte. In drei Städten, für die umfassende Datenreihen vorliegen, waren die Gini-Koeffizienten der Vermögenskonzentration in den Jahren 1820 und 1840 höher als zu dem Zeitpunkt, an dem diese Reihen begannen, wobei sie vom frühen 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert schwankten. Dasselbe gilt im Großen und Ganzen auch für das höchste Dezil der Vermögensanteile. Die aggregierten Gini-Koeffizienten ländlicher Nachlässe stiegen von 0,54 im ersten und zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts auf 0,66 in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts; dieser Anstieg dürfte mit der Kommerzialisierung der Landwirtschaft und dem Wandel der Besitzverhältnisse zusammenhängen; diese Prozesse gingen mit einer schwindenden staatlichen Kontrolle über den Boden und einer fortschreitenden Privatisierung einher. Die beobachtete Zunahme der Vermögensungleichheit deckt sich auch mit dem dokumentierten Rückgang der Reallöhne andernorts im Osmanischen Reich. Die Ungleichheit entwickelte sich östlich der Ägäis also sehr ähnlich wie in West- und Südeuropa.22

Bevor wir uns dem »langen 19. Jahrhundert« zuwenden, das mit dem Ersten Weltkrieg endete, sollten wir uns die Frage stellen, ob eine der Darstellung in Schaubild 1.1 vergleichbare Rekonstruktion der groben Konturen der Ungleichheit über mehrere Jahrtausende hinweg auch für andere Weltregionen möglich ist. Bisher müssen wir diese Frage im Wesentlichen verneinen. Wir können annehmen, jedoch nicht zuverlässig dokumentieren, dass sich die Schwankungen der Einkommens- und Vermögenskonzentration in China im Gleichschritt mit seinen »dynastischen Zyklen« bewegten. Wie ich im vorhergehenden Kapitel zu zeigen versucht habe, gibt es Grund zu der Annahme, dass die Ungleichheit unter der langen Herrschaft der Han-Dynastie zunahm und ihren Höhepunkt möglicherweise im 2. und 3. Jahrhundert in der Spätphase der Östlichen Han-Dynastie erreichte, so wie die Ungleichheit in Rom in der Endphase des vollkommen entfalteten Reiches im 4. und zu Beginn des 5. Jahrhunderts auf ein Höchstmaß gestiegen sein dürfte. In der langen »Zeit der Teilung« zwischen dem frühen 4. Jahrhundert und dem Ende des 6. Jahrhunderts nahm die Ungleichheit in China möglicherweise ab, vor allem in den nördlichen Gebieten, die zunächst zwischen zahlreichen kurzlebigen Regimen ausländischer Eroberer erbittert umkämpft waren und später eine Wiederkehr der auf der Massenmobilisierung beruhenden Kriegführung und ehrgeiziger Pläne zur Landverteilung erlebten.23

Einkommen und Vermögen dürften unter der Tang-Dynastie (6.– 9. Jahrhundert) gestiegen sein und eine zunehmende Konzentration erfahren haben, bis die Eliten in der in Kapitel 9 beschriebenen letzten Phase des Zerfalls weitgehend ausgelöscht wurden. Ein beispielloses Wirtschaftswachstum sowie die Kommerzialisierung und Verstädterung unter der Song-Dynastie hatten vermutlich ähnliche entegalisierende Auswirkungen wie in Teilen des frühneuzeitlichen Europa und im Südlichen Song-Staat erlangten die Großgrundbesitzer beträchtliche Macht. Aufgrund komplexer Wechselwirkungen von wirtschaftlichem Niedergang, Pestepidemien, Invasionen und räuberischen Regimen ist es in mongolischer Zeit schwieriger, Trends auszumachen. Unter den Ming nahm die Ungleichheit erneut zu, obwohl sie gemessen an internationalen Maßstäben in der Schlussphase der Qing-Herrschaft und auch vor dem Beginn der maoistischen Revolution insgesamt nicht besonders ausgeprägt war. Über Südasien liegen noch weniger gesicherte Erkenntnisse vor, wenn man davon absieht, dass die ausgeprägte Ungleichheit im Mogulreich des 18. Jahrhunderts und unter britischer Herrschaft 200 Jahre später ein weiterer Beleg für die entegalisierende Wirkung einer räuberischen imperialen oder Kolonialherrschaft ist.24

Die Entwicklung der Ungleichheit in der Neuen Welt kann über weite Strecken der vergangenen 600 Jahre nur in sehr groben Zügen nachgezeichnet werden. Wahrscheinlich erhöhte die Entstehung der Reiche der Azteken und Inka im 15. Jahrhundert die wirtschaftlichen Unterschiede deutlich, da die über größere Entfernung funktionierenden Tributströme und das Wachstum mächtiger Eliten zur Anhäufung erblicher Vermögen führten. In den folgenden zwei Jahrhunderten wirkten Gegenkräfte: Obwohl die spanische Expansion und die räuberische Kolonialherrschaft einer kleinen Erobererelite die Vermögenskonzentration auf einem hohen Niveau hielten oder sogar verschärften, führte ein durch die Einschleppung unbekannter Infektionskrankheiten aus Europa verursachter katastrophaler Bevölkerungsschwund (vgl. Kapitel 11) zumindest zeitweilig zur Verknappung des Arbeitskräfteangebots und zu einem Anstieg der Reallöhne. Doch nachdem die Epidemien abgeklungen waren, erholte sich die Bevölkerung wieder. Das Arbeitskräfteangebot stieg im Verhältnis zum landwirtschaftlich nutzbaren Boden, die Urbanisierung schritt voran und die Kolonialherrschaft wurde vollkommen stabilisiert. Im 18. Jahrhundert war die Ungleichheit in Lateinamerika wahrscheinlich wieder so groß wie eh und je. Die Revolutionen und Unabhängigkeitskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten möglicherweise eine egalisierende Wirkung, bis der Rohstoffboom in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Ungleichheit auf ein noch höheres Niveau trieb. Die Einkommenskonzentration setzte sich mit kurzen Unterbrechungen bis ins späte 20. Jahrhundert fort (Schaubild 3.4).25

Schaubild 3.4 Langfristige Entwicklung der Ungleichheit in Lateinamerika

Das lange 19. Jahrhundert

Wenden wir uns dem Beginn des modernen Wirtschaftswachstums im 19. Jahrhundert zu. Der mit dieser Entwicklung einhergehende Übergang von lokalen Datensätzen zu nationalen Schätzungen der Einkommens- und Vermögensverteilung bringt beträchtliche Unwägbarkeiten mit sich. Allein aus diesem Grund ist es überraschend schwierig, die Frage zu beantworten, ob die Industrialisierung die Ungleichheit in Großbritannien erhöhte. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass die Konzentration der Privatvermögen zwischen dem Jahr 1700 und dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stetig zunahm. In dieser Zeit stieg das reale Pro-Kopf-BIP um mehr als das Dreifache. Der Vermögensanteil des reichsten Prozents wuchs zwischen 1700 und 1910 von 39 auf 69 Prozent. Im Jahr 1873 war der Konzentrationskoeffizient für den Grundbesitz auf 0,94 gestiegen, womit die Ungleichheit bei dieser Besitzform praktisch nicht mehr zunehmen konnte. Weniger klar liegen die Dinge bei der Einkommensverteilung. Aus Daten zu Steuereinnahmen, Tabellen zur Sozialstruktur und Informationen zum Verhältnis zwischen Bodenrenten und Löhnen geht einigermaßen deutlich hervor, dass die Einkommensungleichheit zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und dem frühen 19. Jahrhundert zunahm. Aus Grundsteuerdaten und gemeldeten Löhnen abgeleitete Informationen zur Wohnungsungleichheit wurden herangezogen, um die These zu stützen, dass die Einkommensungleichheit auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter zunahm, aber es bleibt umstritten, welches Gewicht diesen Informationen tatsächlich beigemessen waren kann.26

Noch größere Zweifel sind an der früher verbreiteten Vorstellung angebracht, verschiedene Indikatoren der Ungleichheit seien in der ersten Hälfte oder den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts gestiegen, um dann bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu sinken, wodurch eine sanfte umgekehrte U-Kurve entstanden sei, die mit der Vorstellung des Ökonomen Simon Kuznets vereinbar wäre, dass die wirtschaftliche Modernisierung die Ungleichheit in einer im Übergang begriffenen Gesellschaft zunächst erhöht, um sie in weiterer Folge zu verringern. Die Beobachtung, dass die Lohnstreuung zwischen 1815 und 1851 zunahm, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren einen Höhepunkt erreichte und sich von da an bis 1911 verringerte, beruht möglicherweise auf einem statistischen Fehler, der sich aus den zugrunde gelegten Daten für verschiedene Berufe ergibt, in denen widersprüchliche Trends zu beobachten waren. Aus Daten zu Hausabgaben abgeleitete Indikatoren der Wohnungsungleichheit, die einen Anstieg des Gini-Koeffizienten von 0,61 im Jahr 1830 auf 0,67 im Jahr 1871 für alle bewohnten Häuser und ein Rückgang von 0,63 im Jahr 1874 auf 0,55 im Jahr 1911 für Privatwohnungen zeigen, müssen ebenfalls mit Vorsicht betrachtet werden. Aufstellungen zu den Einkommensanteilen sind zudem von geringem Nutzen. Aus überarbeiteten Tabellen zur Sozialstruktur geht hervor, dass die Ungleichheit im Grunde stabil blieb: Die nationalen Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung lagen in England und Wales bei 0,52 in den Jahren 1801/03 und bei 0,48 im Jahr 1867 sowie im Vereinigten Königreich bei 0,48 im Jahr 1913. Es ist wichtig, hier präzise zu sein: Wir können nicht sicher sein, dass die Einkommensungleichheit in England oder Großbritannien im Lauf des 19. Jahrhunderts weitgehend unverändert blieb, aber wir können auch nicht definitiv feststellen, dass sie sich veränderte.27

Ähnlich unklar sind die Resultate für Italien. In der neuesten Studie zur Einkommensungleichheit in Italien wird eine Reihe unterschiedlicher Indizes vorgelegt, die allesamt auf eine weitgehende Stabilität zwischen dem Jahr 1871 und dem Ersten Weltkrieg (und darüber hinaus) hindeuten, nachdem eine frühere Studie zu den Budgets privater Haushalte eine graduelle Verringerung der Ungleichheit zwischen 1881 und dem Weltkrieg zutage gefördert hatte; in dieser Zeit wurden die angenommenen entegalisierenden Wirkungen der Industrialisierung durch eine große Emigrationswelle in die westliche Hemisphäre ausgeglichen. Für Frankreich sind keine nationalen Daten zur Einkommensverteilung verfügbar. In Paris stieg die Vermögenskonzentration – gemessen am Anteil des einen Prozents der größten Vermögen am gesamten persönlichen Reichtum – von 50 Prozent im Zeitraum 1807 bis 1867 auf 72 Prozent im Jahr 1913, während der Anteil des reichsten Promilles deutlicher von 15–23 auf 33 Prozent wuchs. Landesweit stiegen die Vermögensanteile der Elite stetiger von 43 Prozent (des reichsten Prozents) und 16 Prozent (des reichsten Promilles) im Jahr 1807 auf 55 beziehungsweise 26 Prozent im Jahr 1913. In Spanien nahm die Einkommensungleichheit zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg zu.28

Für Deutschland liegen keine nationalen Daten für diesen Zeitraum vor. In Preußen stieg der Einkommensanteil des reichsten Prozents zwischen 1874 und 1891 von 13–15 Prozent auf 17–18 Prozent. Zwischen 1891 und 1913 blieb dieser Anteil netto unverändert, da die Einkommensanteile der reichsten Haushalte in beiden Jahren praktisch identisch waren und in der Zwischenzeit kaum schwankten. Sofern sich die Spitzeneinkommen änderten, bewegten sie sich prozyklisch und stiegen im Gleichschritt mit dem Wirtschaftswachstum. Die detaillierteste Erhebung zu den Gini-Koeffizienten der preußischen Einkommensverteilung hat einen stetigen Anstieg ab 1822 bis zu einem Spitzenwert im Jahr 1906 zutage gefördert, auf den ein geringfügiger Rückgang bis 1912 und eine partielle Erholung bis 1914 folgten. Da der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die »friedliche« Entwicklung der Ungleichheit an diesem Punkt unterbrach, können wir nicht wissen, ob die kurzzeitige Verringerung lediglich ein Intermezzo oder ein Wendepunkt war, an dem ohne Kriegsausbruch ein lang anhaltender Rückgang der Ungleichheit begonnen hätte. In den Niederlanden stabilisierte sich die Ungleichheit im 19. Jahrhundert, nachdem sie zuvor mehrere Jahrhunderte lang zugenommen hatte. Die Entegalisierung war noch nicht abgeschlossen: Zwischen 1808 und 1875 stieg der Gini-Koeffizient für die Verteilung des Werts vermietbaren Wohnraums in acht von zehn Provinzen und die Ungleichheit zwischen Spitzenverdienern stieg von 1742 bis 1880 und anschließend bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig erholten sich jedoch die Reallöhne und die Qualifikationsboni schrumpften. Der Gini-Koeffizient für die nationale Einkommensverteilung war im Jahr 1914 anscheinend etwa genauso hoch wie im Jahr 1800, was darauf hindeutet, dass sich die Ungleichheit im Großen und Ganzen auf einem (hohen) Niveau stabilisiert hatte.29

Über die skandinavischen Länder liegen relativ umfangreiche, teilweise jedoch widersprüchliche Daten für diesen Zeitraum vor. Bei einer punktuellen Feststellung des Einkommensanteils des reichsten Prozents der Ehepaare und alleinstehenden Erwachsenen in Dänemark wurde im Jahr 1870 eine Quote von 19,4 Prozent ermittelt. Als die entsprechenden Berichte im Jahr 1903 wieder aufgenommen wurden, lag der entsprechende Anteil bei 16,2 Prozent. Bis 1908 stieg er auf 16,5 Prozent, um anschließend aufgrund der Bereicherung bestimmter Gruppen im Weltkrieg kurzfristig zu steigen; dasselbe Phänomen war auch in anderen neutralen Ländern zu beobachten. Obwohl die aus diesen Daten hervorgehende Verringerung der Ungleichheit zwischen 1870 und 1903 nicht dramatisch war, weckt sie Zweifel an der Zuverlässigkeit der früheren Daten.30

Ähnliche Vorbehalte sind in Bezug auf Aufzeichnungen zu einer einmalig eingehobenen Steuer im Jahr 1789 angebracht: Diese Daten deuten darauf hin, dass der Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung zu jenem Zeitpunkt bei 0,6 bis 0,7 lag, womit die Ungleichheit das in dieser Volkswirtschaft theoretisch mögliche Höchstmaß erreicht hätte oder ihm zumindest sehr nahegekommen wäre. Die Zweifel an diesen Werten erschweren es, eine anhaltende Abschwächung der Einkommensungleichheit zwischen dem Ende des 18. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts anzunehmen. Im Gegensatz dazu bestätigen Berichte über die Vormachtstellung von Großgrundbesitzern im späten 18. Jahrhundert Berechnungen, die auf eine erhebliche Vermögensstreuung innerhalb des wohlhabendsten Zehntels der dänischen Gesellschaft zwischen 1789 und 1908 hindeuten.31

Auch die Entwicklungen in Norwegen und Schweden werfen Fragen nach der Qualität der Aufzeichnungen auf. In Norwegen blieb der Vermögensanteil des reichsten Prozents zwischen 1868 und 1930 weitgehend stabil bei 36 bis 38 Prozent, nachdem er zuvor ab 1789 gesunken war. Auch der Einkommensanteil dieser Gruppe schwankte zwischen 1875 und 1906 nur geringfügig in einer schmalen Bandbreite von 18 bis 21 Prozent, stürzte dann jedoch plötzlich auf etwa elf Prozent in den Jahren 1910/13 ab. Es ist keineswegs klar, ob eine Rezession in den Jahren 1908 und 1909 eine ausreichende Erklärung für diese Abweichung ist. Sofern dieser Rückgang tatsächlich stattfand und nicht nur ein statistischer Fehler war, deutet er auf eine nivellierende Erschütterung hin. Die Trends in Schweden ähneln denen in Norwegen: Der Einkommensanteil des reichsten Prozents sank von 27 Prozent im Jahr 1903 auf 20–21 Prozent in den Jahren 1907 bis 1912. Die Einkommensungleichheit nahm jedoch zwischen 1870 und 1914 zu und anders als in Dänemark und Norwegen stieg die Vermögenskonzentration in Schweden zwischen 1800 und 1910 geringfügig.32

Schaubild 3.5 Langfristige Entwicklung der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten

In den entstehenden Vereinigten Staaten von Amerika wuchs die Ungleichheit mit kurzen Unterbrechungen zweieinhalb Jahrhunderte (Schaubild 3.5). Die Entwicklung in der Kolonialzeit ist kaum dokumentiert, aber es ist davon auszugehen, dass die Ausweitung der Sklaverei die Einkommens- und Vermögensungleichheit im späten 17. Jahrhundert und über weite Strecken des 18. Jahrhunderts erhöhte. Im Unabhängigkeitskrieg und der unmittelbar daran anschließenden Phase nahm die Ungleichheit zeitweilig ab, denn die Feindseligkeiten zerstörten Kapital, der Militärdienst und die Verluste sowie die Flucht von Sklaven verringerten das Arbeitskräfteangebot, der Außenhandel wurde beeinträchtigt und die urbanen Eliten wurden von den Verwerfungen unverhältnismäßig schwer getroffen. Wohlhabende Loyalisten verließen das Land, andere verarmten und die Kluft zwischen städtischen und ländlichen Löhnen und zwischen den Einkommen qualifizierter und ungelernter städtischer Arbeitskräfte verringerte sich. Zwischen 1800 und 1860 ließen die rasche Zunahme der Arbeitskräfte, der technische Fortschritt, von dem Industrie und städtische Gebiete profitierten, und die Weiterentwicklung der Finanzinstitutionen die Ungleichheit auf ein bis dahin ungekanntes Ausmaß steigen. Zwischen 1774 und 1860 stieg der landesweite Gini-Koeffizient für die Einkommensverteilung von 0,44 auf 0,51 (im Jahr 1850 erreichte er den Wert von 0,49) und im Jahr 1860 entfiel ein Zehntel des Gesamteinkommens auf das »eine Prozent«, nachdem dieser Anteil 1774 noch bei 8,5 Prozent und 1850 bei 9,2 Prozent gelegen hatte. In den Staaten, in denen die Sklaverei praktiziert wurde, war die Ungleichheit im Allgemeinen noch ausgeprägter. Sowohl die deutlich erhöhte Konzentration des Grundbesitzes in den Händen der wohlhabendsten Amerikaner als auch ein massiver Anstieg der Einkommensunterschiede zwischen den Arbeitskräften trugen zu dieser Entwicklung bei: Der Vermögensanteil des reichsten Prozents der Haushalte stieg zwischen 1774 (14 Prozent) und 1860 (32 Prozent) um mehr als das Doppelte, während der Gini-Koeffizient für die Einkommensverteilung von 0,39 auf 0,47 kletterte.33

Wie ich in Kapitel 6 genauer zeigen werde, nivellierte der Bürgerkrieg die Vermögen im Süden, während er die Ungleichheit im Norden weiter erhöhte. Die beiden gegenläufigen regionalen Trends hoben sich auf nationaler Ebene weitgehend auf. Die Entegalisierung setzte sich bis ins frühe 20. Jahrhundert fort: Der Einkommensanteil des reichsten Prozents stieg zwischen 1870 und 1913 um fast das Doppelte von rund zehn auf rund 18 Prozent und die Qualifikationsboni erhöhten sich. Urbanisierung, Industrialisierung und die massenhafte Einwanderung gering qualifizierter Arbeitskräfte waren die Gründe für diese Entwicklung. Eine Reihe von Indizes zu den Vermögensanteilen der reichsten Bevölkerungsgruppen deutet ebenfalls auf einen stetigen Anstieg zwischen 1640 und 1890 oder sogar 1930 hin. Zwischen 1810 und 1910 stieg der Anteil aller Vermögenswerte, der sich im Besitz des reichsten Prozents der amerikanischen Haushalte befand, fast um das Doppelte von 25 auf 46 Prozent. Besonders ausgeprägt war die Vermögenskonzentration an der Spitze: Während das größte nachgewiesene Vermögen in den Vereinigten Staaten im Jahr 1790 25.000-mal so groß war wie das durchschnittliche jährliche Arbeitseinkommen, besaß John D. Rockefeller im Jahr 1912 das 2,6-Millionenfache des Durchschnittseinkommens, was einem relativen Anstieg um zwei Größenordnungen entsprach.34

Ich habe bereits den lang anhaltenden Anstieg der Ungleichheit in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften bis zur Epoche der Weltkriege erwähnt. Da die Rohstoffausfuhren die regionalen Eliten reich machten, nahm die Einkommenskonzentration zu: Nach einer Schätzung stieg der Gini-Koeffizient für die Einkommensverteilung im Süden des Kontinents, der Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay umfasste, zwischen 1870 und 1920 von 0,575 auf 0,653, während eine alternative Analyse fast von einer bevölkerungsgewichteten Verdopplung der Ungleichheit ausgeht (von 0,296 im Jahr 1870 auf 0,475 im Jahr 1929). Obwohl diese Zahlen mit einigen Fragezeichen zu versehen sind, ist klar, in welche Richtung der allgemeine Trend ging.

Ein Sonderfall ist Japan. Anscheinend sanken die Qualifikationsboni in der Tokugawa-Zeit und das Ausmaß der Ungleichheit war eher gering, als die Isolation des Landes in den Fünfzigerjahren des 18. Jahrhunderts endete. Ein Grund für die geringe Ungleichheit dürfte gewesen sein, dass die merkantilen Eliten bis dahin nicht in der Lage gewesen waren, die im internationalen Handel erzielten Gewinne abzuschöpfen. Dazu kommt, dass in der Isolation die landwirtschaftliche Produktivität stieg und der Nichtagrarsektor wuchs. Die Steuern wurden auf der Grundlage feststehender Annahmen bezüglich der Produktion festgesetzt, was die »300 Fürsten«, die große Ländereien besaßen, daran hinderte, sich die wachsenden landwirtschaftlichen Überschüsse anzueignen, sodass ihr Anteil an den Gesamteinnahmen sank. Erst die Öffnung Japans für den Welthandel und die folgende Industrialisierung des Landes ermöglichten eine stetige Zunahme der Ungleichheit.35

Alles in allem ergeben sich im Jahrhundert vor der Weltkriegsepoche so klare nationale Trends, wie wir von einer Zeit erwarten können, die, an heutigen Maßstäben gemessen, relativ bescheidene Datenmengen lieferte, die obendrein oft uneinheitlich und von geringer Qualität sind. Bis 1914 nahm die Ungleichheit in einem ausgedehnten Zeitraum, der abhängig von den verfügbaren Daten für die einzelnen Länder zwischen mehreren Jahrzehnten und mehr als einem Jahrhundert umfassen kann, entweder zu oder blieb unverändert. In England war die Einkommensungleichheit zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits derart ausgeprägt, dass sie vermutlich nicht mehr wesentlich hätte steigen können, obwohl die ebenfalls beträchtliche Vermögenskonzentration weiter stieg und ein beispielloses Ausmaß erreichte. Während die Verhältnisse in den Niederlanden, wo sich die Ungleichheit ebenfalls früh entwickelte, und möglicherweise auch in Italien stabil blieben, nahm die Ungleichverteilung von Vermögen oder Einkommen in Frankreich, Spanien und über weite Strecken auch in Deutschland, in den Vereinigten Staaten, in den lateinamerikanischen Ländern, für die ausreichende Daten vorliegen, sowie in Japan zu. Bei konservativer Deutung der Ergebnisse entsteht der Eindruck, dass die Ungleichheit in den skandinavischen Ländern in diesem Zeitraum im Wesentlichen stabil blieb, wenn man von einer gewissen Streuung der Vermögen innerhalb der reichsten Gruppe im 19. Jahrhundert und von einigen plötzlichen und bisher nicht ausreichend erklärten Einbrüchen der Einkommensanteile der Reichen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg absieht. Vom späten 18./frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg stieg der Vermögensanteil des reichsten Prozents in sechs der acht Länder, für die Daten vorliegen, nämlich in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Schweden, Finnland und den USA.

Ausreichend dokumentierte Verringerungen der Ungleichheit waren selten: Nach den geringfügig egalisierenden Erschütterungen der amerikanischen, französischen und lateinamerikanischen Revolutionen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Amerikanische Bürgerkrieg das einzige Ereignis, das nachweislich die Vermögenskonzentration in einer Region teilweise rückgängig machte. Abgesehen von derartigen sporadischen Ereignissen, die mit einer durchweg gewaltsamen Nivellierung einhergingen, verharrte die Ungleichheit zumeist auf einem hohen Niveau oder nahm weiter zu. Allgemein lässt sich sagen, dass dies unabhängig davon galt, ob die Industrialisierung in einem Land früher oder später stattgefunden hatte oder noch auf sich warten ließ, ob der Boden knapp oder im Überfluss vorhanden und wie das politische System gestaltet war. Der technologische Fortschritt, die wirtschaftliche Entwicklung, die zunehmende Globalisierung der Güter- und Kapitalströme und die fortschreitende Festigung der staatlichen Systeme schufen in Kombination mit den ungewöhnlich friedlichen Bedingungen, die ein Jahrhundert lang herrschten, eine Umwelt, in der das Privateigentum geschützt und Kapitalinvestoren mit einem geringeren Verlustrisiko agieren konnten. In Europa ermöglichte dies, dass sich der lang anhaltende Anstieg der Ungleichheit, der nach dem Ende der Pest im Spätmittelalter begonnen hatte, vier weitere Jahrhunderte fortsetzte. In anderen Weltregionen dauerten die Entegalisierungsphasen weniger lang, aber sie holten stetig auf.36

Am Ende von Kapitel 14 werde ich mich mit möglichen Antworten auf die Frage befassen, ob die Welt kurz davor stand, in eine Phase der noch extremeren Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen einzutreten. Aber wie wir wissen, kam es nicht dazu. Am 28. Juni 1914 um kurz vor elf Uhr vormittags erschoss ein neunzehnjähriger bosnischer Serbe den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie, als sie in einer offenen Karosse durch die Straßen Sarajevos rollten. Auf die Frage, wie schwer er verwundet sei, antwortete der sterbende Kronprinz mit schwacher Stimme: »Es ist nichts.« Er irrte sich.

36 Jahre und mehr als 100 Millionen gewaltsame Tode später waren Europa und Ostasien zerstört und kommunistische Massenmörder beherrschten ein Drittel der Weltbevölkerung. Zwischen 1914 und 1945 (oder den nächstliegenden Jahren, für die Daten vorliegen) sank der Einkommensanteil des »einen Prozents« in Japan um zwei Drittel, in Frankreich, Dänemark, Schweden und vermutlich auch Großbritannien um mehr als die Hälfte, in Finnland um die Hälfte und in Deutschland, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten um mehr als ein Drittel. Die Ungleichheit verringerte sich auch in Russland und den von ihm beherrschen Ländern sowie in China, Korea und Taiwan. Dort, wo revolutionäre Umwälzungen ausblieben, konnten die Eliten ihren Reichtum besser verteidigen, aber auch im Allgemeinen nahm die Vermögenskonzentration ab. In Westeuropa sank der Kapitalbesitz im Verhältnis zum jährlichen BIP zwischen 1910 und 1950 um etwa zwei Drittel und weltweit um bis zu 50 Prozent und diese Umverteilung schwächte die wirtschaftliche Vormachtstellung der reichen Investoren erheblich. Zwei der vier Reiter der gewaltsamen Nivellierung – der Krieg mit Massenmobilisierung und die transformative Revolution – waren mit verheerenden Konsequenzen auf die Welt losgelassen worden. Zum ersten Mal seit dem Schwarzen Tod wurde der Zugang zu den materiellen Ressourcen – in einem möglicherweise seit dem Zusammenbruch des Weströmischen Reichs nicht mehr beobachteten Ausmaß – sehr viel gleichmäßiger verteilt und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit fand dieser Prozess in großen Teilen der Welt gleichzeitig statt. Als diese »Große Kompression« abgeschlossen war, was in den meisten Weltregionen in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geschah, war die effektive Ungleichheit sowohl in den Industrieländern als auch in den bevölkerungsreichten Entwicklungsländern Asiens auf Niveaus gesunken, die nicht mehr beobachtet worden waren, seit die Menschen Tausende Jahre früher sesshaft geworden waren und ihre Nahrungsquellen domestiziert hatten. In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, was die Gründe dafür waren.37

Nach dem Krieg sind alle gleich

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