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EINLEITUNG Die Herausforderung der Ungleichheit

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»Eine gefährliche und wachsende Ungleichheit«

Wie viele Milliardäre braucht man, um das Nettovermögen der halben Weltbevölkerung aufzuwiegen? Im Jahr 2015 besaßen die reichsten 62 Personen auf unserem Planeten so viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit, das heißt, sie besaßen so viel wie 3,5 Milliarden Menschen. Würden diese Superreichen beschließen, einen gemeinsamen Ausflug zu unternehmen, so fänden sie problemlos alle in einem großen Reisebus Platz. Im vergangenen Jahr wäre noch das Vermögen von 85 Milliardären nötig gewesen, um jenes der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung aufzuwiegen, sodass dieses Grüppchen für seinen Ausflug einen geräumigeren Doppeldeckerbus gebraucht hätte. Und vor nicht allzu langer Zeit, im Jahr 2010, hätten 388 Milliardäre ihr Vermögen zusammenlegen müssen, um das Eigentum der ärmeren Hälfte der Menschheit aufzuwiegen, sodass die Gruppe für ihre Reise einen Buskonvoi oder ein größeres Passagierflugzeug hätte mieten müssen, vielleicht eine Boeing 777 oder einen Airbus A340.1

Aber die gewaltigen Vermögen der Multimilliardäre sind nicht der einzige Grund für die Ungleichheit in der Welt. Das reichste Prozent der Haushalte der Welt besitzt mittlerweile etwas mehr als die Hälfte der privaten Nettovermögen auf dem Planeten. Könnten wir die Vermögenswerte beziffern, die einige der reichsten Menschen auf Konten in Steuerparadiesen versteckt haben, so würde sich die Verteilung noch weiter zu ihren Gunsten verschieben. Diese Ungleichverteilung ist nicht nur auf die gewaltigen Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen in den reichen Industrieländern und denen in den Entwicklungsländern zurückzuführen. Innerhalb der einzelnen Gesellschaften gibt es ähnliche Ungleichgewichte. Die reichsten 20 Amerikaner besitzen heute genauso viel wie die ärmere Hälfte der Haushalte in den Vereinigten Staaten und das eine Prozent der höchsten Einkommen macht etwa ein Fünftel des nationalen Gesamteinkommens aus. Die Ungleichheit nimmt in vielen Teilen der Welt zu. Seit einigen Jahrzehnten werden Einkommen und Vermögen in Europa und Nordamerika, in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, in China, Indien und anderen Ländern ungleichmäßiger verteilt. Und dem, der bereits hat, wird noch mehr gegeben: In den Vereinigten Staaten haben die Personen, die dem einkommensstärksten Prozent des obersten Prozents angehörten (also die Personen im obersten Zehntausendstel der Einkommensverteilung), ihren Einkommensanteil seit den 70er-Jahren fast um das Sechsfache erhöht, während das oberste Zehntel dieser Gruppe (das oberste Promille) seinen Anteil vervierfacht hat. Die übrigen Mitglieder des obersten Prozents haben ihren Anteil um etwa drei Viertel gesteigert – was kein Grund zur Klage ist, aber weit von den Zugewinnen der oberen Schichten dieser Gruppe entfernt liegt.2

Das »eine Prozent« mag ein handliches Schlagwort sein, das leicht von der Zunge geht und auch in diesem Buch wiederholt verwendet wird, aber es verschleiert das Ausmaß der Vermögenskonzentration in den Händen einer noch kleineren Gruppe. In den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts prägte Nathaniel Parker Willis den Begriff der »oberen Zehntausend«, um die bessere Gesellschaft von New York zu beschreiben. Mittlerweile brauchen wir eine Abwandlung dieses Begriffs, um jene Gruppe richtig zu beschreiben, die am meisten zur zunehmenden Ungleichheit beiträgt: Sie ist das »obere Zehntausendstel«. Und sogar in dieser auserlesenen Gruppe klafft eine große Lücke zwischen denen ganz an der Spitze und dem Rest der Superreichen. Das derzeit größte amerikanische Vermögen entspricht etwa dem 1.000.000-Fachen des Jahreseinkommens des durchschnittlichen Haushalts, womit diese Relation heute zwanzigmal höher ist als im Jahr 1982. Dennoch dürfte die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten nicht so groß sein wie in China, das trotz seines deutlich geringeren Bruttoinlandsprodukts mittlerweile anscheinend eine noch größere Anzahl von Milliardären aufweist.3

Diese Entwicklungen werden mit wachsender Sorge beobachtet. 2013 bezeichnete US-Präsident Barack Obama die zunehmende Ungleichheit als »entscheidende Herausforderung«:

Diese gefährliche und wachsende Ungleichheit und der Mangel an Aufwärtsmobilität untergraben die grundlegende Abmachung mit der amerikanischen Mittelschicht: Wenn du hart arbeitest, hast du eine Chance voranzukommen. Ich glaube, dies ist die entscheidende Herausforderung unserer Zeit: Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Wirtschaft allen arbeitenden Amerikanern dient.

Zwei Jahre zuvor hatte sich der Investor und Multimilliardär Warren Buffett darüber beklagt, dass er und seine »megareichen Freunde« nicht genug Steuern bezahlten. Diese Einschätzung wird von großen Teilen der Gesellschaft geteilt. 2013 erschien eine 700 Seiten dicke wissenschaftliche Abhandlung über die Ungleichheit im Kapitalismus; innerhalb von anderthalb Jahren wurden 1,5 Millionen Exemplare des Buchs verkauft, das den Spitzenplatz in der Sachbuchbestsellerliste der New York Times eroberte. Bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei für die Präsidentschaftswahl 2016 mobilisierte Senator Bernie Sanders mit seinen unablässigen Angriffen auf die »Milliardärsklasse« eine große Anhängerschaft und sicherte sich Millionen kleiner Wahlspenden von der Basis. Selbst die Führung der Volksrepublik China hat das Problem öffentlich eingestanden und einen Bericht über eine »Reform des Systems der Einkommensverteilung« abgesegnet. Etwaige Zweifel zerstreut Google, einer der großen Entegalisierer in der San Francisco Bay Area, wo ich lebe: Das Unternehmen gibt uns die Möglichkeit, zu verfolgen, wie die Einkommensungleichheit im Bewusstsein der Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnt (Schaubild E.1).4

Schaubild E.1: Einkommensanteil des reichsten Prozents in den Vereinigten Staaten (pro Jahr) und Erwähnungen des Konzepts der »Einkommensungleichheit« (dreijährige gleitende Durchschnittswerte), 1970–2008

Werden die Reichen also immer reicher? Ganz so einfach ist es nicht. Wenn wir über die viel geschmähte Gier der »Milliardärsklasse« oder allgemeiner des »einen Prozents« sprechen, sollten wir bedenken, dass die Einkommensanteile der reichsten Gruppen in den Vereinigten Staaten erst vor Kurzem wieder das Niveau des Jahres 1929 erreicht haben und dass die Vermögen heute weniger konzentriert sind als damals. In England besaß das reichste Zehntel der Haushalte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verblüffende 92 Prozent der gesamten persönlichen Vermögen und verdrängte fast alle anderen Gruppen; heute beträgt ihr Vermögensanteil wenig mehr als die Hälfte. Ausgeprägte Ungleichheit hat eine sehr lange Geschichte. Vor zweitausend Jahren entsprachen die größten römischen Privatvermögen dem 1,5-Millionenfachen des durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Einkommens im Römischen Reich, was etwa dem Verhältnis zwischen dem Vermögen von Bill Gates und dem amerikanischen Durchschnittseinkommen entspricht. Soweit wir wissen, unterschied sich auch die allgemeine Einkommensungleichheit im Römischen Reich nicht allzu sehr von der in den heutigen Vereinigten Staaten. Doch um das Jahr 600 n. Chr., zur Zeit von Papst Gregor dem Großen, waren die großen Vermögen verschwunden und die Überreste des römischen Adels waren auf milde Gaben des Papstes angewiesen. Manchmal verringerte sich die Ungleichheit, obwohl zwar große Teile der Bevölkerung verarmten, aber die Reichen sehr viel mehr verloren. In anderen Fällen verbesserte sich die Lage der arbeitenden Bevölkerung, während die Kapitalerträge sanken: Ein berühmtes Beispiel ist Westeuropa nach dem Schwarzen Tod, wo sich infolge des stark gesunkenen Arbeitskräfteangebots die Reallöhne verdoppelten oder verdreifachten und die Arbeiter Fleisch und Bier genossen, während die Grundherren Mühe hatten, ihren Lebensstil aufrechtzuerhalten.5

Wie hat sich also die Verteilung von Einkommen und Vermögen im Lauf der Zeit entwickelt und warum hat sie sich in bestimmten Phasen der Geschichte so sehr verändert? Trotz der großen Aufmerksamkeit, die der Ungleichheit seit einigen Jahren zuteilwird, wissen wir über die historische Dimension des Phänomens immer noch sehr viel weniger, als man meinen sollte. Eine große und wachsende Anzahl fachwissenschaftlicher Forschungsarbeiten ist der drängendsten Frage gewidmet: Warum hat die Konzentration der Einkommen in den Händen kleiner Gruppen in der letzten Generation vielerorts zugenommen? Weniger Autoren haben die Ursachen untersucht, die dafür verantwortlich waren, dass die Ungleichheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in großen Teilen der Welt geringer wurde – und noch viel weniger haben sich mit der Verteilung der materiellen Ressourcen in der ferneren Vergangenheit beschäftigt. Es ist zweifellos richtig, dass die Sorgen über die wachsenden Einkommensunterschiede in der heutigen Welt den Anstoß zum Studium der langfristigen Entwicklung der Ungleichheit gegeben haben, so, wie der gegenwärtige Klimawandel die Forscher zur Analyse der einschlägigen historischen Daten bewegt hat. Aber wir haben noch keinen Überblick, es fehlt eine globale Studie, in der die allgemeine rekonstruierbare Geschichte dargestellt wird. Wir brauchen eine die verschiedenen Kulturen übergreifende, vergleichende Langzeitstudie, die es uns ermöglicht, uns ein Bild von den Mechanismen zu machen, die über die Verteilung von Einkommen und Vermögen entscheiden.

Die vier apokalyptischen Reiter

Damit materielle Ungleichheit entstehen kann, müssen Ressourcen verfügbar sein, die über jene Mindestproduktion hinausgehen, die erforderlich ist, um uns alle am Leben zu erhalten. Überschüsse existierten bereits vor Zehntausenden Jahren und es gab schon damals Menschen, die bereit waren, diese Überschüsse ungleichmäßig zu verteilen. In der Eiszeit fanden Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften Zeit und Mittel, um einige ihrer Toten mit sehr viel größerem Prunk zu bestatten als andere. Doch erst die Nahrungsmittelproduktion – Ackerbau und Viehzucht – schuf Reichtum in einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Eine wachsende und anhaltende Ungleichheit wurde zu einem der prägenden Merkmale des Holozäns. Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren ermöglichte die Akkumulation und Erhaltung produktiver Ressourcen. Es entwickelten sich soziale Normen, die Ansprüche auf diese Vermögenswerte festzulegen, darunter die Möglichkeit, sie von einer Generation auf die folgende zu übertragen. Unter diesen Bedingungen hing die Verteilung von Einkommen und Vermögen von verschiedenen Faktoren ab: Wie sich der Reichtum von einer Generation zur nächsten entwickelte, wurde von Gesundheit, Eheschließungsstrategien und Fortpflanzungserfolg, Konsum und Investitionsentscheidungen, Ernteüberschüssen, Heuschreckenplagen und Rinderpest beeinflusst. Im Lauf der Zeit begünstigten sowohl Glück als auch Aufwand eine ungleichmäßige Verteilung der Ressourcen.

Im Prinzip hätten Institutionen die entstehende Ungleichheit durch Eingriffe reduzieren können, die geeignet waren, für eine ausgewogenere Verteilung der materiellen Ressourcen und Arbeitserträge zu sorgen, und einige vormoderne Gesellschaften scheinen das tatsächlich versucht zu haben. Doch in der Praxis tendierte die gesellschaftliche Entwicklung in die andere Richtung. Die Domestizierung der Nahrungsquellen ging mit einer Domestizierung der Menschen einher. Die Entstehung von Staaten als einer ausgesprochen kompetitiven Organisationsform schuf steile Machthierarchien, in denen Zwang eingesetzt wurde, um einzelnen Gruppen einen privilegierten Zugang zu Einkommen und Vermögen zu verschaffen. Die politische Ungleichheit verstärkte die wirtschaftliche Ungleichheit und weitete sie aus. In den meisten Agrargesellschaften machte der Staat die wenigen auf Kosten der vielen reicher: Die Einkünfte aus öffentlichen Ämtern nahmen sich vielfach gering aus im Vergleich zu den Erträgen von Korruption, Erpressung und Plünderung. Die Folge war, dass viele vormoderne Gesellschaften so ungleich wurden, wie sie es nur irgendwie werden konnten, und sie die Überschussaneignung durch kleine Eliten so weit trieben, wie es unter Bedingungen eines geringen Pro-Kopf-BIP und eines minimalen Wirtschaftswachstums möglich war. Auch als vergleichsweise gutartige Institutionen vor allem in der aufstrebenden westlichen Welt ein kräftiges Wirtschaftswachstum in Gang setzten, blieb die Ungleichheit groß. Urbanisierung, Kommerzialisierung, Innovationen im Finanzsektor, eine zunehmende Globalisierung des Handels und schließlich die Industrialisierung brachten den Kapitaleigentümern reiche Erträge. Während die durch bloßen Machteinsatz erzielten wirtschaftlichen Renten schrumpften, wodurch eine traditionelle Quelle der Bereicherung langsam versiegte, erleichterten stabilere Eigentumsrechte und staatliche Bestimmungen den Schutz des erblichen Privatvermögens. Obwohl sich die wirtschaftlichen Strukturen, gesellschaftlichen Normen und politischen Systeme wandelten, blieben Einkommens- und Vermögensungleichheit hoch oder wuchsen gar unter den veränderten Bedingungen an.

Über Jahrtausende hinweg eignete sich die Zivilisation nicht für eine friedliche Egalisierung. In sehr unterschiedlichen Gesellschaften und auf verschiedenen Entwicklungsstufen begünstigte Stabilität die Einkommensungleichheit: im pharaonischen Ägypten ebenso wie im viktorianischen England, im Römischen Reich ebenso wie in den Vereinigten Staaten. Um die Verteilung von Einkommen und Vermögen ausgeglichener zu gestalten und die Kluft zwischen Reich und Arm zu verringern, bedurfte es gewaltsamer Erschütterungen der bestehenden Ordnung. Denn – das zeigt die gesamte dokumentierte Menschheitsgeschichte – jede wirksame Nivellierung war das Ergebnis einer großen Erschütterung. Im Lauf der Geschichte haben vier verschiedene Arten gewaltsamer Brüche die Ungleichheit verringert: Massenmobilisierungskriege, transformative Revolutionen, Staatsversagen und verheerende Pandemien. Diese vier Kräfte bezeichne ich als die »vier apokalyptischen Reiter der Nivellierung«. So wie ihre biblischen Gegenstücke machten sie sich daran, »der Erde den Frieden zu nehmen« und »zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde«. Manchmal tauchte nur einer dieser Reiter auf, manchmal griffen mehrere gemeinsam an und immer lösten sie Katastrophen aus, die in den Augen der Zeitgenossen wahrlich apokalyptisch wirkten. Hunderte Millionen Menschen fielen ihnen zum Opfer. Und wenn sich der Sturm legte, hatte sich die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen manchmal dramatisch verringert.6

Jedoch sind nur bestimmte Arten der Gewalt dazu geeignet, die Ungleichheit wesentlich zu verringern. Die meisten Kriege wirkten sich nicht systematisch auf die Verteilung der Ressourcen aus: Obwohl archaische Konfliktformen, die auf Eroberung und Plünderung beruhten, die siegreichen Eliten reicher und die unterlegenen ärmer machten, hatten weniger klare Ergebnisse keine vorhersehbaren Konsequenzen. Damit ein Krieg die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen verringern konnte, musste er die gesamte Gesellschaft erfassen und Menschen wie Ressourcen in einem Ausmaß mobilisieren, das zumeist nur die modernen Nationalstaaten bewerkstelligen konnten. Das erklärt, warum die zwei Weltkriege zu den größten Gleichmachern der Geschichte zählen. Die physische Zerstörung durch industrielle Kriegführung, konfiskatorische Besteuerung, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, Inflation, Unterbrechung der globalen Güter- und Kapitalströme und weitere Faktoren löschten in Kombination miteinander die Vermögen der Eliten aus und verteilten die Ressourcen neu. Die Massenmobilisierungskriege dienten auch als ungemein wirkungsvolle Katalysatoren für egalisierende Maßnahmen, indem sie überzeugende Argumente für die Ausweitung des Wahlrechts, die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitskräfte und die Ausweitung des Sozialschutzes lieferten. Die Erschütterungen der Weltkriege lösten einen Prozess aus, der als »Große Kompression« bezeichnet wird: Es kam zu einer deutlichen Verringerung der Einkommens- und Vermögensungleichheit in den entwickelten Ländern. Diese Kompression fand im Wesentlichen in der Weltkriegsepoche zwischen 1914 und 1945 statt, war jedoch erst mehrere Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen. Frühere Massenmobilisierungskriege hatten keine derart umfassenden Auswirkungen gehabt. Die Verteilungsergebnisse der Napoleonischen Kriege oder des Amerikanischen Bürgerkriegs waren uneinheitlicher und je weiter wir in der Zeit zurückreisen, desto weniger Belege für eine nennenswerte Nivellierung durch Kriege finden wir. Die Stadtstaatenkultur im antiken Griechenland mit ihren Hauptvertretern Athen und Sparta kann man als eines der frühesten Beispiele dafür betrachten, dass eine umfassende militärische Mobilisierung der Bevölkerung und egalitäre Institutionen zur Eindämmung der materiellen Ungleichheit beitragen, wenngleich mit gemischtem Erfolg.

Die Weltkriege brachten die zweite große Nivellierungskraft hervor: die transformative Revolution. Innere Konflikte haben im Lauf der Geschichte normalerweise die Ungleichheit nicht verringert: In der vormodernen Geschichte kam es häufig zu Bauernaufständen und städtischen Erhebungen, die jedoch zumeist scheiterten, und Bürgerkriege in Entwicklungsländern erhöhten die Ungleichheit eher, als sie zu verringern. Eine gewaltsame Umgestaltung der Gesellschaft muss außergewöhnlich heftig sein, um den Zugang zu den materiellen Ressourcen neu zu verteilen. So wie der egalisierende Massenmobilisierungskrieg war die transformative Revolution in erster Linie ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Die Kommunisten verringerten die Ungleichheit dramatisch, indem sie die Vermögenden enteigneten, die Ressourcen umverteilten und anschließend oft kollektivierten. Je umfassender die Transformation, desto größer die Gewalt: Am Ende forderten diese Revolutionen ähnlich viele Menschenleben und verursachten vergleichbar großes menschliches Leid wie die Weltkriege. Sehr viel weniger blutige Umstürze wie die Französische Revolution bewirkten eine entsprechend geringere Nivellierung.

Gewalt kann Staaten vollkommen zerstören. Ein Staatsversagen oder ein Systemkollaps ist ein Garant für eine massive Nivellierung. Im Lauf der Geschichte standen die Reichen zumeist entweder an der Spitze der politischen Machthierarchie oder in einem engen Verhältnis zu den Herrschern; zumindest unterhielten sie gute Beziehungen zu Personen, die Kontakt zur Machthierarchie hatten. Darüber hinaus gewährte ihnen der Staat einen gewissen Schutz für wirtschaftliche Aktivitäten oberhalb des Subsistenzniveaus, so gering dieser auch, gemessen an modernen Maßstäben, gewesen sein mag. Löste sich der Staat auf, so wurden diese Positionen, Verbindungen und Schutzmechanismen geschwächt oder gingen vollkommen verloren. Unter dem Zusammenbruch des Staats litt die gesamte Bevölkerung, aber die Reichen hatten viel mehr zu verlieren: Der Rückgang oder Verlust des Einkommens und Vermögens der Elite komprimierte die Verteilung der Ressourcen. Derartiges geschieht, seit es Staaten gibt. Die ältesten bekannten Beispiele finden wir vor 4000 Jahren im Ende des Alten Reichs in Ägypten und des Akkadischen Reichs in Mesopotamien. Die Geschehnisse in Somalia in der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass diese einst sehr wirksame Egalisierungskraft nicht vollkommen verschwunden ist.

Ein Staatsversagen ist die extremste Manifestation des Prinzips der gewaltsamen Nivellierung: Anstatt durch eine Reform und Umstrukturierung der bestehenden politischen Ordnung eine Umverteilung und ausgewogenere Aufteilung zu bewirken, macht es reinen Tisch: Die ersten drei Reiter stehen stellvertretend für verschiedene Stadien, nicht weil sie wahrscheinlich in einer bestimmten Reihenfolge auftauchen – während die größten Revolutionen durch die größten Kriege ausgelöst wurden, erfordert ein Staatskollaps normalerweise keinen derart großen Druck –, sondern weil sie von unterschiedlicher Intensität sind. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie allesamt, gestützt auf Gewalt, die Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie die politische und gesellschaftliche Ordnung umkrempeln.

Die von Menschen ausgehende Gewalt ist jedoch nicht konkurrenzlos. In der Vergangenheit richteten Pest, Pocken und Masern schlimmere Verwüstungen als die größten Armeen und die fanatischsten Revolutionäre an. In Agrargesellschaften führten große Bevölkerungseinbußen infolge von Mikrobenangriffen, die manchmal über ein Drittel der Menschen töteten, zu einem Arbeitskräftemangel und erhöhten damit den Wert der Arbeit im Verhältnis zum Boden und zu anderem Kapital, das normalerweise von der Erschütterung unberührt blieb. Die Folge war, dass die Arbeitskräfte höhere Löhne verlangen konnten und die Pachtzinsen fielen, wodurch Arbeitgeber und Grundherren Einkommen einbüßten. Die Institutionen beeinflussten das Ausmaß dieser Verschiebungen: Die Eliten versuchten normalerweise, die bestehenden Verhältnisse durch staatliche Anordnungen und Gewaltanwendung zu erhalten, konnten die egalisierenden Marktkräfte jedoch oft nicht in Schach halten.

Die Pandemien vervollständigen schließlich unser Quartett von Reitern der gewaltsamen Nivellierung. Aber gab es noch weitere, friedlichere Mechanismen zur Verringerung der Ungleichheit? Was eine umfassende Nivellierung anbelangt, so müssen wir diese Frage mit Nein beantworten. Sämtliche überlieferten Episoden, in denen es zu einer erheblichen Verringerung der materiellen Ungleichheit kam, wurden von einer oder mehreren dieser vier Kräfte ausgelöst. Zudem veränderten Massenkriege und Revolutionen nicht nur die Gesellschaften, die direkt von diesen gewaltsamen Umwälzungen betroffen waren: Die Weltkriege und die Konfrontation mit der kommunistischen Herausforderung beeinflussten auch die wirtschaftlichen Bedingungen, gesellschaftlichen Erwartungen und politischen Maßnahmen in Ländern, die nicht direkt von diesen Prozessen betroffen waren. Diese Welleneffekte erhöhten die Wirkung der Nivellierung infolge gewaltsamer Konflikte zusätzlich. Das macht es schwierig, die Entwicklungen, die nach 1945 in großen Teilen der Welt zu beobachten waren, von den vorhergehenden Erschütterungen und ihren anhaltenden Nachwirkungen zu trennen. Die Verringerung der Einkommensungleichheit in Lateinamerika zu Beginn des 21. Jahrhunderts könnte der aussichtsreichste Fall für eine gewaltlose Egalisierung sein, aber diese Nivellierung ist bisher eher begrenzt gewesen und ihre Nachhaltigkeit ist ungewiss.

Andere Faktoren haben zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Von der Antike bis in die Gegenwart haben Bodenreformen die Ungleichheit am deutlichsten verringert, wenn sie mit Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung verbunden waren – und überall dort, wo völlig auf Gewalt verzichtet wurde, sind ihre Ergebnisse bescheiden gewesen. Die Demokratie an sich verringert die Ungleichheit nicht. Obwohl sich das Wechselspiel von Bildung und technologischem Wandel zweifellos auf die Verteilung der Einkommen auswirkt, sind die Bildungs- und Qualifikationserträge historisch nachweislich sehr anfällig für gewaltsame Erschütterungen. Schließlich gibt es keine überzeugenden empirischen Belege für die These, dass die neuzeitliche Wirtschaftsentwicklung als solche die Ungleichheit verringert. Es gibt kein Instrumentarium gutartiger Kompressionswerkzeuge, die zu irgendeiner Zeit auch nur annähernd vergleichbare Veränderungen wie die vier Reiter bewirkt hätten.

Aber die Wirkung von Erschütterungen lässt im Lauf der Zeit nach. Wann immer ein Staat zusammenbricht, nimmt früher oder später ein anderer seinen Platz ein. Der von den Pestepidemien des Mittelalters verursachte Bevölkerungsschwund kam zum Stillstand, sobald die Ausbrüche abklangen, und die demografische Erholung stellte das frühere Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital im Lauf der Zeit wieder her. Die Weltkriege waren relativ kurz und ihre Nachwirkungen haben mittlerweile nachgelassen: Spitzensteuersätze und Gewerkschaftsdichte sind wieder gesunken, die Globalisierung hat sich wieder verstärkt, der Kommunismus ist verschwunden, der Kalte Krieg ist vorüber und die Gefahr eines dritten Weltkriegs ist geringer geworden. All das hilft uns zu verstehen, wie es zur jüngsten Zunahme der Ungleichheit gekommen ist. Die traditionellen gewaltsamen Gleichmacher haben sich zurückgezogen und werden kaum in absehbarer Zukunft zurückkehren. Ähnlich wirksame alternative Nivellierungsmechanismen sind nicht in Sicht.

Selbst in den fortschrittlichsten Volkswirtschaften genügen Umverteilung und Bildung bereits heute nicht mehr, um der wachsenden Ungleichverteilung vor Steuern und Transfers entgegenzuwirken. In den Entwicklungsländern kann mit Nivellierungseingriffen noch einiges bewirkt werden, aber die haushaltspolitischen Hemmnisse sind groß. Es scheint keine einfache Lösung zu geben, um durch Ausübung des Wahlrechts, staatliche Vorschriften oder Bildungsmaßnahmen für eine gleichmäßigere Verteilung der Ressourcen zu sorgen. In weltgeschichtlicher Perspektive sollte das keine Überraschung sein: Soweit wir wissen, wurde in Gesellschaften, die von großen gewaltsamen Erschütterungen und deren Auswirkungen verschont wurden, nie eine wesentliche Verringerung der Ungleichheit beobachtet. Wird sich das in der Zukunft ändern?

Worum es in diesem Buch nicht geht

Die ungleichmäßige Verteilung von Einkommen und Vermögen ist nicht die einzige gesellschaftlich oder historisch bedeutsame Art von Ungleichheit. Dasselbe gilt für Ungleichheit, die ihren Ursprung im Geschlecht und in der sexuellen Orientierung, in der ethnischen Zugehörigkeit, im Alter, in den Fähigkeiten und Überzeugungen hat, und es gilt für den ungleichen Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung, politischer Vertretung und Lebenschancen. Insofern ist der Titel dieses Buchs weniger präzise, als er sein könnte. Auf der anderen Seite hätte der Untertitel »Gewaltsame Erschütterungen und die Weltgeschichte der Einkommens- und Vermögensungleichheit von der Steinzeit bis zur Gegenwart und darüber hinaus« nicht nur die Geduld des Verlegers auf eine harte Probe gestellt, sondern er wäre auch unnötig exklusiv gewesen. Schließlich haben Machtungleichgewichte stets entscheidenden Einfluss auf den Zugang zu den materiellen Ressourcen gehabt: Ein detaillierterer Titel wäre also präziser, zugleich jedoch zu eng gefasst gewesen.

Ich erhebe nicht den Anspruch, sämtliche Aspekte der wirtschaftlichen Ungleichheit zu behandeln. Ich konzentriere mich auf die Verteilung der materiellen Ressourcen in den Gesellschaften und lasse die Frage der wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Ländern beiseite. Dies ist gewiss ein wichtiges und viel diskutiertes Thema. Ich untersuche jedoch die Bedingungen innerhalb bestimmter Gesellschaften, ohne auf die zuvor genannten anderen Quellen von Ungleichheit Bezug zu nehmen, da ihr Einfluss auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen nur schwer oder überhaupt nicht über lange Zeiträume hinweg verfolgt und verglichen werden kann. Mein Interesse gilt in erster Linie den Fragen, warum die Ungleichheit unter bestimmten Bedingungen sank und welche Mechanismen die Nivellierung ermöglichten. Grob gesagt, entstand unvermeidlich ein Druck zu wachsender Ungleichheit, als unsere Spezies zur Gewinnung von Nahrung aus domestizierten Pflanzen und Tieren übergegangen und sesshaft geworden war, eine staatliche Ordnung entwickelt und erbliche Eigentumsrechte anerkannt hatte. Die Ungleichheit ist ein grundlegender Bestandteil des sozialen Daseins des Menschen. Eine genauere Auseinandersetzung mit der Frage, wie dieser Druck im Lauf der Jahrtausende entstand, insbesondere mit den komplexen Synergien zwischen dem, was wir grob als Zwang und Marktkräfte bezeichnen könnten, würde eine eigene, noch umfangreichere Studie erfordern.7

Schließlich behandle ich die gewaltsamen Erschütterungen (sowie alternative Faktoren) und ihre Auswirkungen auf die materielle Ungleichheit, verzichte jedoch auf eine allgemeine Untersuchung der umgekehrten Beziehung, das heißt der Frage, ob – und wenn ja, wie – die Ungleichheit dazu beitrug, diese gewaltsamen Erschütterungen herbeizuführen. Es gibt mehrere Gründe für meinen Widerwillen gegen eine Auseinandersetzung mit dieser Frage. Da eine ausgeprägte Ungleichheit ein Kennzeichen der meisten historischen Gesellschaften war, ist es nicht leicht, die Beziehung zwischen den spezifischen Erschütterungen und dieser kontextuellen Bedingung zu erklären. Nebeneinander existierende Gesellschaften mit vergleichbarer Ungleichheit besaßen eine sehr unterschiedliche innere Stabilität. Einige Gesellschaften, die gewaltsamen Erschütterungen ausgesetzt waren, waren nicht ausgesprochen ungleich: Ein Beispiel ist das vorrevolutionäre China. Manche Erschütterungen waren im Wesentlichen oder zur Gänze exogener Natur, darunter insbesondere die Pandemien, die die Ungleichheit verringerten, indem sie das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit veränderten. Selbst von Menschen verursachte Erschütterungen wie die beiden Weltkriege wirkten sich auch auf Gesellschaften aus, die nicht direkt an diesen Konflikten beteiligt waren. Studien zum Beitrag der Einkommensungleichheit zur Entstehung von Bürgerkriegen verdeutlichen die Komplexität dieser Beziehung. Nichts von alledem bedeutet, dass die Ungleichverteilung der Ressourcen nicht geeignet war, zum Ausbruch von Kriegen und Revolutionen oder zu Staatsversagen beizutragen. Es bedeutet einfach, dass es gegenwärtig keinen überzeugenden Grund für die Annahme gibt, es bestehe ein systematischer Kausalzusammenhang zwischen allgemeiner Einkommens- und Vermögensungleichheit und dem Eintreten gewaltsamer Erschütterungen. Wie neuere Studien gezeigt haben, dürfte eine Analyse spezifischer Merkmale, die eine Verteilungsdimension aufweisen – zum Beispiel des Wettbewerbs innerhalb von Elitegruppen –, eher geeignet sein, Belege für Beiträge dieser Faktoren zu gewaltsamen Konflikten und Zusammenbrüchen zu liefern.

Für die Zielsetzungen dieser Untersuchung behandle ich gewaltsame Erschütterungen als getrennte Phänomene, die sich auf die materielle Ungleichheit auswirken. Ich versuche, die langfristige Wirkung derartiger Erschütterungen als Nivellierungskräfte zu beurteilen, unabhängig davon, ob es genug Daten gibt, um einen sinnvollen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen und dem vorherigen Niveau der Ungleichheit herzustellen oder zu bestreiten. Wenn meine ausschließliche Konzentration auf einen Kausalpfeil – von Erschütterungen zu geringerer Ungleichheit – einen Anstoß zur Beschäftigung mit dem Gegenargument gibt, so begrüße ich dieses Ergebnis. Vielleicht wird nie eine plausible Darstellung möglich sein, die die zu beobachtende Veränderung in der Verteilung von Einkommen und Vermögen vollkommen endogenisiert. Dennoch würde sich eine gründlichere Untersuchung möglicher Rückkoppelungsschleifen zwischen Ungleichheit und gewaltsamen Erschütterungen zweifellos lohnen. Meine Untersuchung kann nur ein Baustein für dieses größere Projekt sein.8

Wie wird es gemacht?

Es gibt viele Möglichkeiten, die Ungleichheit zu messen. In den folgenden Kapiteln stütze ich mich vorwiegend auf zwei der grundlegenden Kennzahlen: den Gini-Koeffizienten und die prozentualen Anteile der verschiedenen Bevölkerungsgruppen am Nationaleinkommen oder -vermögen. Der Gini-Koeffizient ist ein Maß, das Aufschluss darüber gibt, inwieweit die Verteilung von Einkommen oder Vermögen von vollkommener Gleichheit abweicht. Wenn alle Mitglieder einer gegebenen Population exakt dieselbe Menge an Ressourcen erhalten oder besitzen, liegt der Gini-Koeffizient bei 0. Wenn ein Mitglied sämtliche Ressourcen kontrolliert und alle anderen Mitglieder nichts haben, nähert sich der Koeffizient dem Wert 1 an. Je ungleichmäßiger die Ressourcen verteilt sind, desto höher ist folglich der Gini-Koeffizient. Er kann als Bruchteil von 1 oder als prozentualer Anteil ausgedrückt werden; ich ziehe die erste Variante vor, weil auf diese Art klarer zwischen Gini-Koeffizient und Einkommens- und Vermögensanteilen unterschieden werden kann, die normalerweise in Prozenten angegeben werden. Die Anteile verraten uns, wie viel eine bestimmte Gruppe, die anhand ihrer Position in der Gesamtverteilung definiert wird, im Verhältnis zum gesamten Einkommen oder Vermögen der Bevölkerung erhält oder besitzt. Beispielsweise umfasst das berühmte »eine Prozent« jene Einheiten – oft sind es Haushalte – einer gegebenen Bevölkerung, die höhere Einkommen beziehen oder mehr Vermögenswerte besitzen als die übrigen 99 Prozent der Einheiten. Gini-Koeffizienten und Einkommensanteile sind komplementäre Maße, die Aufschluss über verschiedene Eigenschaften einer gegebenen Verteilung geben: Die Gini-Koeffizienten geben das Gesamtmaß der Ungleichheit wieder, während die Anteile wesentliche Aufschlüsse über die Form der Verteilung geben.

Beide Indizes können herangezogen werden, um die Zusammensetzung der verschiedenen Versionen der Einkommensverteilung zu messen. Das Einkommen vor Steuern und staatlichen Transfers wird als »Markteinkommen« bezeichnet, das Einkommen nach Transfers ist das »Bruttoeinkommen« und das Einkommen nach Steuerabzügen und Transfers wird als »verfügbares Einkommen« definiert. Im Folgenden werde ich mich nur mit Markteinkommen und verfügbarem Einkommen befassen. Überall dort, wo ich den Begriff Einkommensungleichheit ohne weitere Erläuterung verwende, meine ich das Markteinkommen. Über weite Strecken der dokumentierten Geschichte ist die Ungleichheit der Markteinkommen die einzige Art von Ungleichheit, die mit Sicherheit bestimmt oder geschätzt werden kann. Zudem waren die Unterschiede in der Verteilung von Markt-, Brutto- und verfügbaren Einkommen vor der Errichtung umfassender staatlicher Umverteilungssysteme in den modernen westlichen Staaten im Allgemeinen sehr gering, was für viele Entwicklungsländer noch heute gilt. Die in diesem Buch genannten Einkommensanteile beruhen durchweg auf der Verteilung der Markteinkommen. Sowohl zeitgenössische als auch historische Daten zu den Einkommensanteilen insbesondere der Gruppen an der Spitze der Verteilung stammen zumeist aus Steuerregistern, in denen sich die Angaben auf die Einkommen vor fiskalischen Interventionen beziehen. In einigen wenigen Fällen verwende ich auch die Verhältnisse zwischen den Einkommensanteilen oder bestimmte Perzentile der Einkommensverteilung, einen alternativen Maßstab des relativen Gewichts der verschiedenen Einkommensgruppen. Es gibt detailliertere Indizes der Ungleichheit, die jedoch zumeist nicht für Langzeitstudien geeignet sind, die sich über sehr unterschiedliche Datensätze erstrecken.9

Bei der Messung der materiellen Ungleichheit stoßen wir auf zwei Arten von Problemen: Die einen sind konzeptueller Natur, die anderen betreffen die Beweiskraft. Zwei wichtige konzeptuelle Probleme sind zu berücksichtigen. Erstens dienen die meisten verfügbaren Indizes dazu, die relative Ungleichheit auf der Grundlage des Anteils bestimmter Bevölkerungssegmente an den Gesamtressourcen zu messen und darzustellen. Hingegen geht es bei der absoluten Ungleichheit um die unterschiedlichen Mengen an Ressourcen, die sich diese Bevölkerungssegmente aneignen. Diese beiden Zugänge liefern sehr unterschiedliche Ergebnisse. Nehmen wir beispielsweise eine Bevölkerung, in der das Einkommen des durchschnittlichen Haushalts im obersten Dezil der Einkommensverteilung zehnmal höher ist als das des durchschnittlichen Haushalts im untersten Dezil, also zum Beispiel 100.000 gegenüber 10.000 Dollar. In der Folge verdoppelt sich das Nationaleinkommen, wobei die Einkommensverteilung unverändert bleibt. Der Gini-Koeffizient und die Einkommensanteile bleiben dieselben. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Einkommen gestiegen, ohne dass die Ungleichheit zugenommen hätte. Gleichzeitig hat sich jedoch die absolute Einkommenskluft zwischen dem obersten und untersten Dezil verdoppelt – von 90.000 auf 180.000 Dollar –, denn die wohlhabendsten Haushalte haben sehr viel mehr dazugewonnen als die einkommensschwachen Haushalte. Dasselbe gilt für die Verteilung der Vermögen. Tatsächlich gibt es kaum ein glaubwürdiges Szenario, in dem Wirtschaftswachstum nicht zu einer Zunahme der Ungleichheit führen wird. Daher können wir sagen, dass die relativen Ungleichheitsmaße ein konservativeres Bild der Entwicklung zeichnen, da sie die Aufmerksamkeit von der unablässig wachsenden Kluft zwischen den Einkommen und Vermögen ablenken und die kleineren und multidirektionalen Veränderungen der Ressourcenverteilung in den Vordergrund rücken. In diesem Buch folge ich der üblichen Praxis, den Standardmaßen der relativen Ungleichheit wie dem Gini-Koeffizienten und den Einkommensanteilen der obersten Gruppen Vorrang zu geben, lenke jedoch gegebenenfalls die Aufmerksamkeit auf ihre Beschränkungen.10

Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass der Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung auf das Niveau des Existenzminimums und der wirtschaftlichen Entwicklung reagiert. Zumindest theoretisch ist es durchaus möglich, dass das gesamte Einkommen in einem Land einer einzigen Person zufließt. Aber wer überhaupt kein Einkommen erzielt, kann unmöglich überleben. Das bedeutet, dass der Gini-Koeffizient der Einkommen nie den nominellen Höchstwert von ~1 erreichen kann. Genauer gesagt, wird er durch die Menge der über den Selbsterhalt hinausgehenden Überschüsse eingeschränkt. Diese Beschränkung gilt insbesondere für Volkswirtschaften mit geringem Einkommen, die über weite Strecken der Menschheitsgeschichte vorherrschend waren und noch heute in einigen Weltregionen existieren. Beispielsweise könnte der Gini-Koeffizient in einer Gesellschaft, deren Bruttoinlandsprodukt das Subsistenzminimum um das Doppelte überstiege, nicht über 0,5 steigen, selbst wenn es einer einzigen Person gelänge, sich das gesamte über das für das nackte Überleben aller anderen Mitglieder der Gesellschaft erforderliche Maß hinausgehende Einkommen anzueignen. Wenn die Wirtschaftsleistung steigt, wird das mögliche Höchstmaß der Ungleichheit zudem durch sich wandelnde Definitionen dessen, was als Subsistenzminimum zu betrachten ist, sowie dadurch begrenzt, dass eine verarmte Bevölkerung nicht imstande ist, eine hoch entwickelte Volkswirtschaft zu erhalten. Die nominellen Gini-Koeffizienten müssen entsprechend angepasst werden, um die sogenannte Extraktionsrate zu berechnen, die Aufschluss darüber gibt, inwieweit die in einer gegebenen Umgebung theoretisch mögliche Ungleichheit tatsächlich erreicht worden ist. Diese komplexe Frage, die sich insbesondere auf Vergleiche der Ungleichheit über sehr lange Zeiträume hinweg auswirkt, findet jedoch erst seit sehr kurzer Zeit Aufmerksamkeit. Im Anhang des Buchs befasse ich mich eingehender damit.11

Damit sind wir bei der zweiten Kategorie, bei den Problemen mit der Qualität der Belege. Der Gini-Koeffizient und die Einkommensanteile sind weitgehend kongruente Ungleichheitsmaße: Sie bewegen sich im Lauf der Zeit im Allgemeinen (wenn auch nicht immer) in dieselbe Richtung. Beide reagieren auf die Mängel der zugrunde liegenden Daten. Heute werden die Gini-Koeffizienten üblicherweise aus Haushaltserhebungen abgeleitet, von denen mutmaßliche nationale Einkommensverteilungen extrapoliert werden. Aber diese Methode ist nicht gut geeignet, um die höchsten Einkommen zu erfassen. Selbst in den westlichen Ländern müssen die nominellen Gini-Koeffizienten nach oben korrigiert werden, um die tatsächlichen Beiträge der Spitzeneinkommen richtig einschätzen zu können. In vielen Entwicklungsländern ist die Qualität der Daten zudem oft zu gering, um verlässliche nationale Schätzungen vornehmen zu können. In solchen Fällen verhindern große Konfidenzintervalle nicht nur Vergleiche zwischen den Ländern, sondern erschweren auch die Einschätzung von Veränderungen entlang der Zeitlinie. Versuche zur Messung der Gesamtverteilung der Vermögen stoßen auf noch größere Hindernisse, und zwar nicht nur in Entwicklungsländern, deren Eliten vermutlich einen großen Teil ihrer Vermögen in Steueroasen verstecken, sondern auch in Ländern wie den Vereinigten Staaten, wo große Mengen an Daten vorliegen. Die Einkommensanteile werden normalerweise anhand von Steuerdaten ermittelt, deren Qualität und Eigenschaften von Land zu Land und zwischen verschiedenen Zeiträumen erheblich schwanken und die durch die Steuervermeidung verzerrt werden können. Geringe Beteiligungsraten in einkommensschwachen Ländern und von der Politik abhängige Definitionen dessen, was als zu versteuerndes Einkommen zu betrachten ist, erhöhen die Komplexität zusätzlich. Trotz dieser Schwierigkeiten haben die Zusammenstellung und Veröffentlichung wachsender Mengen an Informationen zu den Einkommensanteilen der obersten Gruppen der Verteilung in der »World Wealth and Income Database« (WWID) unser Verständnis der Einkommensungleichheit auf ein solideres Fundament gestellt und dazu geführt, dass sich die Aufmerksamkeit von etwas undurchsichtigen Ein-Wert-Maßen wie dem Gini-Koeffizienten auf klarere Indizes der Ressourcenkonzentration verlagert.12

All diese Probleme wirken gering im Vergleich zu denen, die wir bewältigen müssen, wenn wir versuchen, das Studium der Einkommens- und Vermögensungleichheit auf die fernere Vergangenheit auszuweiten. Vor dem 20. Jahrhundert gab es kaum reguläre Einkommensteuern. In Ermangelung von Haushaltserhebungen müssen wir uns auf Proxydaten stützen, um die Gini-Koeffizienten zu berechnen. Vor dem Jahr 1800 kann die allgemeine Einkommensungleichheit in Gesellschaften nur anhand von Tabellen zur Sozialstruktur veranschlagt werden, in denen wir annähernde Schätzungen der Einkommen verschiedener Bevölkerungsgruppen finden. Diese Tabellen wurden von zeitgenössischen Beobachtern zusammengestellt oder von späteren Forschern abgeleitet. Ergiebiger ist eine wachsende Anzahl von Datensätzen, die in Teilen Europas bis ins Hochmittelalter zurückreichen und Aufschluss über die Bedingungen in einzelnen Städten oder Regionen geben. Erhaltene Archivaufzeichnungen zu Vermögensteuer in französischen und italienischen Städten, Steuern auf die Einnahmen aus der Vermietung von Häusern in den Niederlanden und Einkommensteuern in Portugal erlauben uns, die zugrunde liegende Verteilung der Vermögen und manchmal sogar der Einkommen zu rekonstruieren. Ähnliches gilt für frühneuzeitliche Aufzeichnungen über die Verteilung der landwirtschaftlichen Flächen in Frankreich und des Werts von vererbten Landgütern in England. Es können sogar Gini-Koeffizienten aus Daten abgeleitet werden, die sehr viel weiter in die Vergangenheit zurückreichen. Die Muster des Grundbesitzes im spätrömischen Ägypten, die Unterschiede zwischen den Hausgrößen im antiken und frühmittelalterlichen Griechenland, Britannien, Italien und Nordafrika sowie im aztekischen Mexiko, die Verteilung von Erbteilen und Mitgiften in der babylonischen Gesellschaft und sogar die Verteilung von Steinwerkzeugen in Çatal Höyük, einer der frühesten bekannten protourbanen Siedlungen der Welt, die vor fast 10.000 Jahren entstand, wurden auf diese Art ausgewertet. Die archäologische Forschung hat uns in die Lage versetzt, die Grenzen des Studiums der materiellen Ungleichheit bis ins Paläolithikum in der letzten Eiszeit hinauszuschieben.13

Wir können auch auf eine ganze Palette von Proxydaten zurückgreifen, die keinen direkten Aufschluss über die Verteilungen geben, jedoch von Veränderungen des Niveaus der Einkommensungleichheit beeinflusst werden. Ein gutes Beispiel ist das Verhältnis zwischen Pachtzinsen und Löhnen. In vorwiegend agrarischen Gesellschaften spiegeln Veränderungen des Werts der Arbeit in Relation zum Wert des wichtigsten Kapitaltyps Veränderungen der relativen Einkünfte der verschiedenen Gesellschaftsschichten wider: Ein Anstieg dieses Index deutet darauf hin, dass die Grundbesitzer ihren Wohlstand auf Kosten der Landarbeiter erhöhten, womit die Ungleichheit zunahm. Dasselbe gilt für eine verwandte Kennzahl, das Verhältnis zwischen durchschnittlichem Pro-Kopf-BIP und Löhnen. Je höher der nicht auf Arbeitseinkommen entfallende Anteil des Bruttoinlandsprodukts ist, desto höher ist der Index und desto ungleicher die Einkommensverteilung. Allerdings weisen beide Methoden erhebliche Schwächen auf. Auch wenn die Angaben zu Pachtzinsen und Löhnen an bestimmten Orten zuverlässig sind, müssen sie nicht repräsentativ für größere Bevölkerungen oder ganze Länder sein, da die Fehlermargen bei BIP-Schätzungen für vormoderne Gesellschaften zwangsläufig groß sind. Dennoch vermitteln uns solche Proxywerte im Allgemeinen einen groben Eindruck von der Entwicklung der Ungleichheit im Lauf der Zeit. Leichter zugänglich, aber weniger zuverlässig sind Daten zu den Realeinkommen. Im westlichen Eurasien sind mittlerweile die Reallöhne, die als Getreideäquivalente ausgedrückt werden, der letzten 4000 Jahre rekonstruiert worden. In diesem sehr langen Beobachtungszeitraum können wir Zeitspannen ausmachen, in denen die Realeinkommen von Arbeitskräften ungewöhnlich hoch waren, ein Phänomen, das plausibel mit einer verringerten Ungleichheit verknüpft werden kann. Dennoch sind Informationen zu den Reallöhnen, die nicht in Beziehung zu Kapitalwerten oder dem Bruttoinlandsprodukt gesetzt und daher nicht kontextuell eingeordnet werden können, ein sehr grober und nicht unbedingt zuverlässiger Indikator für die Einkommensungleichheit.14

In den letzten Jahren wurden beträchtliche Fortschritte bei der Auswertung vormoderner Steueraufzeichnungen und bei der Rekonstruktion von Reallöhnen, Pacht-/Lohnverhältnissen und sogar von BIPNiveaus erzielt. Wir können ohne Übertreibung sagen, dass ein Großteil dieses Buchs vor zwanzig oder auch vor zehn Jahren noch nicht hätte geschrieben werden können. Umfang, Reichweite und Geschwindigkeit der Fortschritte im Studium der historischen Einkommens- und Vermögensungleichheit machen Hoffnung für die Zukunft dieses Forschungsgebiets. Es ist klar, dass die Verteilung der materiellen Ressourcen über ausgedehnte Phasen der Menschheitsgeschichte hinweg nicht einmal in Grundzügen nachverfolgt werden kann. Doch selbst in diesen Fällen wird es uns möglicherweise gelingen, Hinweise auf Veränderungen im Lauf der Zeit zu finden. Ein besonders vielversprechender – und zugleich oft der einzige – Indikator für die Ungleichheit ist die Zurschaustellung des Reichtums durch die Eliten. Wenn archäologische Belege für verschwenderischen Konsum in Unterkunft, Ernährung oder Bestattungen bescheideneren Überresten oder Hinweisen auf eine schwindende Stratifizierung weichen, haben wir Grund zu der Annahme, dass eine Egalisierung stattfand. In den traditionellen Gesellschaften waren die Mitglieder der Vermögens- und Machtelite oft die Einzigen, die so hohe Einkommen erzielten oder so große Vermögen besaßen, dass sie viel verlieren konnten, und diese Verluste sind in den materiellen Belegen zu erkennen. Auch Unterschiede bei der Körpergröße und bei anderen physiologischen Merkmalen können mit der Verteilung der Ressourcen in Zusammenhang gebracht werden, obwohl hier auch andere Faktoren wie die Belastung durch Pathogene eine wichtige Rolle spielten. Je weiter wir uns von den Informationen entfernen, die das Ausmaß der Ungleichheit unmittelbar dokumentieren, desto mehr sind wir auf Mutmaßungen angewiesen. Aber es kann keine globale Geschichtsschreibung geben, wenn wir nicht bereit sind, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Genau das versuche ich in diesem Buch.

So sind wir mit Informationen von sehr unterschiedlicher Qualität konfrontiert: von detaillierten Statistiken zu den Ursachen der jüngsten Zunahme der Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten bis zu vagen Hinweisen auf die Ungleichverteilung der Ressourcen in der Frühzeit der Zivilisation – und dazwischen finden wir eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Datensätze. Es ist eine gewaltige Aufgabe, all diese Informationen zu einer einigermaßen kohärenten Analyse zusammenzufügen: Dies ist die eigentliche Herausforderung der Ungleichheit, die im Titel dieser Einleitung beschworen wird. Ich habe für die einzelnen Abschnitte der Untersuchung jene Struktur gewählt, die in meinen Augen am besten geeignet ist, um dieses Problem in Angriff zu nehmen. Der erste Teil, in dem ich die Entwicklung der Ungleichheit von der Entstehung des Menschen aus den Primaten bis zum frühen 20. Jahrhundert darstelle, ist nach herkömmlicher Praxis chronologisch geordnet (Kapitel 13).

Das ändert sich, sobald wir uns den vier Reitern zuwenden, den Vorkämpfern der gewaltsamen Nivellierung. In den Teilen, die den ersten beiden Mitgliedern dieses Quartetts – Krieg und Revolution – gewidmet sind, arbeite ich mich vom 20. Jahrhundert zurück in die Vergangenheit. Es gibt einen einfachen Grund für dieses Vorgehen: Die Nivellierung durch Massenmobilisierungskrieg und transformative Revolutionen ist ein im Wesentlichen neuzeitliches Phänomen. Die »Große Kompression« zwischen dem zweiten und fünften Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts liefert nicht nur die mit Abstand besten Belege für diesen Prozess, sondern verkörpert ihn auch in paradigmatischer Form (Kapitel 4–5). In einem zweiten Schritt spüre ich den Vorläufern dieser gewaltsamen Erschütterungen nach, vom Amerikanischen Bürgerkrieg bis zurück zu den Umwälzungen im alten China, Rom und Griechenland sowie von der Französischen Revolution bis zu den zahllosen Aufständen der vormodernen Ära (Kapitel 6–8). Genauso gehe ich bei der Analyse der Bürgerkriege im letzten Teil von Kapitel 6 vor, wo ich die Auswirkungen derartiger Konflikte in den zeitgenössischen Entwicklungsländern bis zurück zum Ende der Römischen Republik untersuche. Dieser Zugang erlaubt es mir, Modelle der gewaltsamen Nivellierung zu entwickeln, die ein solides Fundament in den modernen Daten haben, bevor ich untersuche, ob diese Modelle auch auf die fernere Vergangenheit angewandt werden können.

In Teil V, der den Epidemien gewidmet ist, wende ich eine abgewandelte Version derselben Strategie an und bewege mich vom am besten dokumentierten Fall – dem Schwarzen Tod im Spätmittelalter (Kapitel 10) – in der Geschichte zurück zu weniger bekannten Fällen, von denen einer (jener in Amerika nach 1492) noch nicht allzu weit zurückliegt, während die anderen in der dunkleren Vergangenheit zu finden sind (Kapitel 11). Das Ziel ist dasselbe: Es geht darum, gestützt auf die besten verfügbaren Belege, die wichtigsten Mechanismen der gewaltsamen Nivellierung zutage zu fördern, die durch das Massensterben infolge von Epidemien ausgelöst wurden, um anschließend analogen Geschehnissen nachzuspüren. In Teil IV, der dem Staatsversagen und dem Systemzusammenbruch gewidmet ist, findet dieses Organisationsprinzip seinen logischen Abschluss. Die Chronologie spielt bei der Analyse von Phänomenen, die im Wesentlichen auf die vormoderne Geschichte beschränkt waren, eine untergeordnete Rolle und es hätte nur geringen Nutzen, sich an eine bestimmte zeitliche Abfolge zu halten. Die Daten bestimmter Fälle sind weniger wichtig als die Natur der Belege und der Erfassungsbereich der modernen Forschung, die beide abhängig von Raum und Zeit stark variieren. Deshalb beginne ich mit einigen gut belegten Beispielen, bevor ich mich solchen zuwende, die ich weniger eingehend behandle (Kapitel 9). Teil VI, in dem ich mich mit möglichen Alternativen zur gewaltsamen Nivellierung befasse, ist im Wesentlichen nach Themen geordnet. Ich bewertete verschiedene Faktoren (Kapitel 1213), bevor ich mich kontrafaktischen Ergebnissen zuwende (Kapitel 14). Im letzten Teil, der gemeinsam mit Teil I den Rahmen der thematischen Untersuchung bildet, kehre ich zum chronologischen Format zurück. Ich gehe von der jüngsten Zunahme der Ungleichheit (Kapitel 15) zu den Aussichten auf eine Nivellierung in der nahen und ferneren Zukunft über (Kapitel 16) und vervollständige den evolutionären Überblick.

Eine Studie, die Hideki Jojos Japan und das Athen von Perikles, das klassische Maya-Reich und das heutige Somalia umspannt, wird auf einige meiner Historikerkollegen verwirrend wirken, aber Leser aus den Sozialwissenschaften werden sich hoffentlich weniger über meinen Ansatz wundern. Wie bereits gesagt, ist eine Untersuchung der Weltgeschichte der Ungleichheit eine große Herausforderung. Wenn wir herausfinden wollen, welche Nivellierungskräfte in der gesamten überlieferten Geschichte gewirkt haben, müssen wir Wege finden, um die Gräben zwischen den verschiedenen Fachgebieten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Forschungsdisziplinen zu überbrücken und Daten von sehr unterschiedlicher Qualität und Quantität miteinander zu verknüpfen. Eine langfristige Perspektive erfordert unorthodoxe Lösungen.

Ist es wichtig?

All das führt uns zu einer einfachen Frage: Wenn es so schwierig ist, die Dynamik der Ungleichheit über große Zeiträume und sehr verschiedenartige Kulturen hinweg zu studieren, warum sollten wir es dann überhaupt versuchen? Diese Frage betrifft zwei getrennte, aber verwandte Fragen: Ist die wirtschaftliche Ungleichheit heute wichtig? Und warum lohnt es sich, ihre Geschichte zu studieren? Der Philosoph Harry Frankfurt, der vor allem durch seine frühere Abhandlung Bullshit bekannt geworden ist, eröffnet sein Buch Ungleichheit: Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen mit einer Widerrede gegen Obamas zuvor zitierte Äußerung: »[M]ir scheint unsere fundamentalste Herausforderung jedoch nicht in dem Umstand zu bestehen, dass die Einkommen der Amerikaner extrem ungleich sind, sondern vielmehr darin, dass so viele unserer Mitbürger arm sind.« Armut ist natürlich relativ: Ein Mensch, der in den Vereinigten Staaten als arm eingestuft wird, muss in Zentralafrika nicht unbedingt als arm gelten. Manchmal wird Armut sogar abhängig von der Ungleichheit definiert – in Großbritannien wird die amtliche Armutslinie bei einem bestimmten Bruchteil des Medianeinkommens gezogen –, obwohl absolute Maßstäbe häufiger sind, etwa die von der Weltbank festgelegte Schwelle von 1,25 Dollar am Tag (zu Preisen von 2005) oder der Betrag, der in den Vereinigten Staaten anhand der Preise der Produkte in einem Warenkorb ermittelt wird. Niemand wird der Feststellung widersprechen, dass Armut unabhängig davon, wie sie definiert wird, nicht wünschenswert ist: Die Herausforderung besteht darin, zu zeigen, dass nicht die Armut oder die großen Vermögen, mit denen die Ungleichheit verknüpft wird, sondern die Einkommens- und Vermögensungleichheit als solche negative Auswirkungen auf unser Leben haben.15

Der pragmatischste Zugang konzentriert sich auf die Auswirkungen der Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum. Wiederholt haben Ökonomen darauf hingewiesen, dass die Beurteilung dieses Zusammenhangs schwierig sein kann und dass die empirische Beschreibung der Forschung nicht immer der theoretischen Komplexität des Problems angemessen ist. Dennoch vertreten einige Autoren die Ansicht, dass ein höheres Maß an Ungleichheit tatsächlich mit geringeren Wachstumsraten einhergeht. Beispielsweise beschleunigt eine geringer ausgeprägte Ungleichverteilung der verfügbaren Einkommen nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern führt auch zu längeren Wachstumsphasen. Vor allem in Entwicklungsländern scheint die Ungleichheit das Wachstum zu hemmen. Es gibt sogar einige Belege für die sehr umstrittene These, die ausgeprägte Ungleichheit zwischen den amerikanischen Haushalten habe zur Kreditblase beigetragen, die die Finanzkrise im Jahr 2008 auslöste, da die einkommensschwächeren Haushalte von leicht zugänglichen Krediten (die teilweise das Ergebnis der Vermögensakkumulation an der Spitze waren) Gebrauch gemacht hätten, um das Konsumverhalten wohlhabenderer Gruppen nachahmen zu können. Andererseits wird angenommen, dass die Vermögensungleichheit unter restriktiveren Kreditbedingungen die einkommensschwachen Gruppen benachteiligt, indem sie ihnen den Zugang zu Krediten erschwert.16

In den reichen Ländern geht größere Ungleichheit mit einer geringeren wirtschaftlichen Mobilität von Generation zu Generation einher. Da Einkommen und Vermögen der Eltern gute Indikatoren für Bildungserfolg und Einkommen der Kinder sind, pflanzt sich die Ungleichheit fort und wird im Lauf der Zeit größer. Die entegalisierenden Konsequenzen der einkommensabhängigen Segregation in Wohnbezirken hängt damit zusammen. In den amerikanischen Ballungsräumen hat das Bevölkerungswachstum in Zonen mit hohen und niedrigen Einkommen gemeinsam mit einem Bevölkerungsschwund in den Gebieten mit mittleren Einkommen seit den Siebzigerjahren zu einer zunehmenden Polarisierung geführt. Insbesondere die wohlhabenden Wohngebiete werden zusehends isoliert, eine Entwicklung, die wahrscheinlich die Ressourcenkonzentration einschließlich lokal finanzierter öffentlicher Dienste beschleunigt, was sich wiederum auf die Lebenschancen von Kindern auswirkt und die intergenerationelle Mobilität einschränkt.17

In Entwicklungsländern erhöhen zumindest bestimmte Formen der Einkommensungleichheit die Wahrscheinlichkeit von inneren Konflikten und Bürgerkriegen. In einkommensstarken Gesellschaften sind hingegen keine so extremen Auswirkungen zu beobachten. In den Vereinigten Staaten wirkt sich die Ungleichheit nach Ansicht einiger Autoren auf den politischen Prozess aus, indem sie den Reichen die Einflussnahme auf Kandidaten erleichtert, obwohl sich die Frage stellt, ob dieses Phänomen nicht eher auf die Macht der sehr großen Vermögen als auf die Ungleichheit an sich zurückzuführen ist. Einige Studien haben eine Korrelation zwischen ausgeprägter Ungleichheit und geringerem subjektivem Glücksempfinden zutage gefördert. Nur die Gesundheit scheint von der Verteilung der Ressourcen als solcher, wenn auch nicht vom Einkommensniveau, unabhängig zu sein: Während Unterschiede beim Gesundheitszustand Einkommensungleichheit erzeugen, ist der umgekehrte Zusammenhang nicht belegt.18

All diesen Studien gemein ist die Konzentration auf die praktischen Auswirkungen der materiellen Ungleichheit und auf die entscheidenden Ursachen dafür, dass sie als Problem betrachtet werden kann. Andere Einwände gegen eine ungleichmäßige Verteilung der Ressourcen beruhen auf ethischen Normen und dem Konzept der sozialen Gerechtigkeit. Diese Überlegungen sprengen den Rahmen meiner Untersuchung, verdienen jedoch größere Aufmerksamkeit in einer Debatte, die allzu oft von wirtschaftlichen Überlegungen beherrscht wird. Doch selbst wenn wir uns auf einen engeren Rahmen beschränken, kann kein Zweifel daran bestehen, dass zumindest in bestimmten Kontexten ein hohes Maß an Ungleichheit und wachsende Unterschiede bei Einkommen und Vermögen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen. Aber was ist ein »hohes« Maß und wie können wir wissen, ob ein »wachsendes« Ungleichgewicht ein neuartiges Phänomen in den heutigen Gesellschaften ist oder ob wir uns lediglich den in der Geschichte üblichen Zuständen annähern? Gibt es, um den von François Bourguignon verwendeten Begriff zu übernehmen, ein »vertretbares« Niveau der Ungleichheit, das Länder mit zunehmender Ungleichverteilung wieder anstreben sollten? Und was bedeutet es für unser Verständnis der Faktoren, die die Verteilung von Einkommen und Vermögen bestimmen, wenn die Ungleichheit – wie in vielen reichen Ländern – heute größer als noch vor wenigen Jahrzehnten, aber geringer als vor einem Jahrhundert ist?19

Über weite Strecken der überlieferten Geschichte nahm die Ungleichheit zu oder blieb weitgehend stabil. Deutliche Verringerungen waren selten. Doch die Vorschläge für politische Eingriffe, mit denen die Zunahme der Ungleichheit gebremst oder rückgängig gemacht werden soll, berücksichtigen diese historischen Tatsachen kaum. Gibt es gute Gründe dafür? Vielleicht ist unsere Gesellschaft so vollkommen anders, so vollkommen losgelöst von ihren agrarischen und undemokratischen Ursprüngen, dass wir aus der Geschichte nichts mehr lernen können. Tatsächlich steht außer Frage, dass sich vieles verändert hat: Den einkommensschwachen Gruppen in den reichen Ländern geht es heute im Allgemeinen besser als dem Großteil der Menschen in der Vergangenheit, und selbst die am stärksten benachteiligten Einwohner der am wenigsten entwickelten Länder leben heute länger als ihre Vorfahren. Die Lebenserfahrung derer, die durch die ungleichmäßige Verteilung der Ressourcen benachteiligt werden, unterscheidet sich also in vieler Hinsicht erheblich von jener der Vergangenheit.

Aber in diesem Buch geht es nicht um die wirtschaftliche oder allgemein menschliche Entwicklung, sondern darum, wie die Erträge der Zivilisation verteilt werden, warum sie so verteilt werden und was erforderlich wäre, um diese Verteilung zu ändern. Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu zeigen, dass sich die Kräfte, die in der Vergangenheit die Ungleichheit prägten, tatsächlich nicht allzu sehr verändert haben. Wenn es unser Ziel ist, Einkommen und Vermögen gleichmäßiger zu verteilen, können wir nicht einfach die Augen davor verschließen, welche traumatischen Ereignisse in der Vergangenheit erforderlich waren, um dieses Ziel zu erreichen. Wir müssen uns fragen, ob es der Menschheit im Lauf der Geschichte jemals gelungen ist, große Ungleichheit ohne beträchtliche Gewalt zu verringern. Wir müssen uns fragen, ob gutartigere Einflüsse ähnlich viel bewirken können wie dieser große Gleichmacher und ob es wahrscheinlich ist, dass sich die Ungleichheit in Zukunft anders entwickeln wird als in der Vergangenheit. Mit diesen Fragen müssen wir uns auseinandersetzen, selbst wenn uns die Antworten nicht gefallen.

Nach dem Krieg sind alle gleich

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