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~Das Tagebuch~

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Nachbarländer mögen in Sehweite liegen

Daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann.

Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben

Ohne hin und her gereist zu sein.

Lao-Tse

I

Wir wollen auf die Quellen der unnennbaren Verzweiflung achten, die in allen Seelen fließen. Die Seelen horchen angespannt nach der Melodie ihrer Jugend, deren man sie tausendfach versichert. Aber je mehr sie in die ungewissen Jahrzehnte sich versenken und ihr Zukünftigstes ihrer Jugend noch einbeziehen, desto verwaister atmen sie in der leeren Gegenwart. Eines Tages erwachen sie zur Verzweiflung: der Entstehungstag des Tagebuches.

Es stellt mit hoffnungslosem Ernst die Frage, in welcher Zeit der Mensch lebt. Daß er in keiner Zeit lebt haben die Denkenden immer gewußt. Die Unsterblichkeit der Gedanken und Taten verbannt ihn in Zeitlosigkeit, in deren Mitte lauert der unbegreifliche Tod. Zeitlebens umspannt ihn Leere der Zeit und dennoch Unsterblichkeit nicht. Gefressen von den mannigfaltigen Dingen entschwand die Zeit ihm, jenes Medium ward zerstört, in der die reine Melodie seiner Jugend schwellen sollte. Die erfüllte Stille in der seine späte Größe reifen sollte wurde ihm entwendet. Ihm entwendete sie der Alltag, unterbrach mit Geschehnis, Zufall und Verpflichtung tausendfältig jugendliche Zeit, unsterbliche, die er nicht ahnte. Drohender noch erhob hinter der Alltäglichkeit sich der Tod. Jetzt erscheint er noch im Kleinen und tötet täglich, um weiter leben zu lassen. Bis eines Tages der große Tod aus Wolken fällt, wie eine Hand, die nicht mehr leben läßt. Von Tag zu Tag, Sekunde zu Sekunde selbsterhält sich das Ich, klammert sich an das Instrument: die Zeit, die es spielen sollte.

Der also Verzweifelte entsann sich seiner Kindheit, damals war noch Zeit ohne Flucht und Ich ohne Sterben. Er sieht und sieht hinab in jene Strömung, aus der er aufgetaucht war, und er verliert langsam, endlich und erlösend sein Begreifen. In solcher Vergessenheit, unwissend was er meint und doch erlöster Meinung entstand das Tagebuch. Dies unergründliche Buch eines nie gelebten Lebens, Buch eines Lebens, in dessen Zeit alles, was wir unzulänglich erlebten, sich zum Vollendeten verwandelt.

Das Tagebuch ist eine Befreiungstat, heimlich und schrankenlos in ihrem Siege. Kein Unfreier wird dieses Buch verstehen. Da das Ich verzehrt von Sehnsucht nach sich selbst, verzehrt vom Willen zur Jugend, verzehrt von Machtlust über die Jahrzehnte, die kommen werden, verzehrt von Sehnsucht, sich gesammelt durch die Tage hinzutragen, von Lust des Müßigganges entzündet zu dunklem Feuer – da es sich dennoch verflucht sah in die Zeit des Kalenders, der Uhren und Börsen und kein Strahl einer Zeit der Unsterblichkeit sich zu ihm senkte – da begann es selber zu erstrahlen. Strahl, wußte es, bin ich selber. Nicht die trübe Innerlichkeit jenes Erlebenden, der mich Ich nennt und mit Vertrautheit martert, sondern Strahl des andern, das zu bedrängen mich schien und das ich doch selbst bin: Strahl der Zeit. Zitternd steht ein Ich, das wir aus unsern Tagebüchern nur kennen, am Rande der Unsterblichkeit, in die es hinabstürzt. Es ist ja Zeit. In ihm, dem Ich, dem Geschehnisse widerfahren, Menschen begegnen, Freunde, Feinde und Geliebte, in ihm verläuft die unsterbliche Zeit, die Zeit seiner Größe selber läuft ab in ihm, ihre Erstrahlung ist er und nichts anderes.

Dieser Gläubige schreibt sein Tagebuch. Und er schreibt es in Abständen, und wird es nie beenden, denn er wird sterben. Was ist der Abstand im Tagebuche? Es handelt ja nicht in der Zeit der Entwicklung, die ist aufgehoben. Es handelt gar nicht in der Zeit, die ist versunken. Sondern es ist ein Buch von der Zeit: Tagebuch. Das sendet die Strahlen seiner Erkenntnis durch den Raum. Im Tagebuch verläuft die Kette der Erlebnisse nicht, dann wäre es ohne Abstand. Sondern die Zeit ist aufgehoben und aufgehoben ein Ich, das in ihr handelt; ich bin ganz und gar in Zeit versetzt, sie strahlt mich aus. Diesem Ich, der Schöpfung der Zeit, kann nichts mehr widerfahren. Ihm beugt sich alles andere, dem noch Zeit geschieht. Denn allem andern geschieht unser Ich als Zeit, allen Dingen widerfährt das Ich im Tagebuche, sie leben zum Ich dahin. Aber diesem, der Geburt der unsterblichen Zeit, geschieht Zeit nicht mehr. Das Zeitlose widerfährt ihm, in ihm sind alle Dinge versammelt, ihm bei. Allmächtig lebt es im Abstand, im Abstand (dem Schweigen des Tagebuches) widerfährt dem Ich seine eigene, die reine Zeit. Im Abstand ist es in sich selbst gesammelt, kein Ding drängt sich in sein unsterbliches Beieinander. Hier schöpft es Kraft, den Dingen zu widerfahren, sie in sich zu reißen, sein Schicksal zu verkennen. Der Abstand ist sicher, und wo geschwiegen wird, kann nichts widerfahren. Keine Katastrophe findet in die Zeilen dieses Buches Eingang. Also glauben wir nicht an Ableitungen und Quellen; nie erinnern wir uns dessen, was uns widerfahren. Die Zeit, die erstrahlte als Ich, das wir sind, widerfährt allen Dingen um uns als unser Schicksal. Jene Zeit, unser Wesen, ist das Unsterbliche, in dem andere sterben. Was diese tötet, läßt uns im Tode (dem letzten Abstand) uns wesenhaft fühlen.

II

Neigend erstrahlt in Zeit die Geliebte der Landschaft,

Aber verdunkelt verharrt über der Mitte der Feind.

Seine Flügel schläfern. Der schwarze Erlöser der Lande

Haucht sein kristallenes: Nein und er beschließt unsern Tod.

Zögernd tritt selten das Tagebuch heraus aus der Unsterblichkeit seines Abstandes und schreibt sich. Lautlos jubelt es auf und sieht über die Schicksale hin, die klar und zeitgewoben in ihm liegen. Durstend nach Bestimmtheit treten die Dinge auf ihn zu, erwartend Schicksal aus seiner Hand zu empfangen. Sie senden ihr Ohnmächtigstes der Hoheit entgegen, ihr Unbestimmtestes erfleht Bestimmung. Sie grenzen das menschliche Wesen ein durch ihr fragendes Dasein, vertiefen Zeit; und indem sie selber auf das Äußerste den Dingen geschieht, vibriert eine leise Unsicherheit in ihr, welche fragend der Frage der Dinge Antwort gibt. Im Wechsel solcher Vibrationen lebt das Ich. Dies ist der Inhalt unserer Tagebücher: zu uns bekennt sich unser Schicksal, weil wir es auf uns schon längst nicht mehr bezogen – wir Verstorbenen, die wir auferstehen in dem, was uns zustößt.

Es gibt aber einen Ort jener Auferstehungen des Ich, wenn die Zeit in immer weitere und weitere Wellen es hinaussendet. Das ist die Landschaft. Als Landschaft umgibt uns alles Geschehen, denn wir, die Zeit der Dinge, kennen keine Zeit. Nur Neigungen der Bäume, Horizont und Schärfe der Bergrücken, die plötzlich voll Beziehung erwachen, indem sie uns in ihre Mitte stellen. Die Landschaft versetzt uns in ihre Mitte, es umzittern uns mit Frage Wipfel, umdunkeln uns mit Nebel Täler, bedrängen uns mit Formen unbegreifliche Häuser. Diesem allen widerfahren wir, ihr Mittelpunkt. Es bleibt aber von aller Zeit, da wir erzittern, eine Frage uns im Innern: sind wir Zeit? Hochmut verlockt uns zum Ja – dann verschwände die Landschaft. Wir wären Bürger. Aber der Bann des Buches läßt uns schweigen. Einzige Antwort ist, daß wir einen Pfad beschreiten. Aber uns heiligt im Schreiten der gleiche Umkreis. Und wie wir antwortlos mit der Bewegung unseres Leibes die Dinge bestimmen, Mitte sind und uns wandernd fernen und nähern, lösen wir Bäume und Felder aus ihresgleichen, überströmen sie mit der Zeit unseres Daseins. Feld und Berge bestimmen wir in ihrer Willkür: sie sind unser vergangenes Sein – so prophezeite die Kindheit. Wir sind zukünftig sie. Die Landschaft empfängt in der Nacktheit der Zukünftigkeit uns die Großen. Entblößt erwidert sie die Schauer der Zeitlichkeit, mit der wir die Landschaft bestürmen. Hier erwachen wir und haben am Morgenmahle der Jugend teil. Die Dinge sehen uns, ihr Blick schwingt uns ins Kommende, da wir ihnen nicht antworten sondern sie beschreiten. Um uns ist Landschaft wo wir die Berufung verwarfen. Tausend Juchzer der Geistigkeit umtosten die Landschaft – da sandte lächelnd das Tagebuch den einzigen Gedanken ihnen entgegen. Durchdrungen von Zeit atmet sie vor uns, bewegt. Wir sind bei einander geborgen, die Landschaft und ich. Wir stürzen von Nacktheit in Nacktheit. Wir erreichen uns gesammelt.

Die Landschaft entsendet uns die Geliebte. Uns begegnet nichts als in Landschaft und in ihr nichts als Zukunft. Sie kennt nur das einzige Mädchen, das schon Frau ist. Denn es tritt in das Tagebuch mit der Geschichte seiner Zukunft. Wir starben schon einmal miteinander. Wir waren ihr schon einmal völlig gleich. Wenn wir ihr widerfuhren im Tode, so widerfährt sie uns doch im Leben, abertausendmal. Vom Tode her ist jedes Mädchen die geliebte Frau, die uns Schlafenden immer im Tagebuch begegnet. Und ihre Erweckung geschieht zur Nacht – unsichtbar dem Tagebuche. Dies ist die Gestalt der Liebe im Tagebuche, daß sie uns in der Landschaft begegnet, unter sehr hellem Himmel. Die Inbrunst ist zwischen uns ausgeschlafen und die Frau ist Mädchen, da sie unsere unverbrauchte Zeit, die sie sammelte in ihrem Tode, jugendlich zurückschenkt. Die stürzende Nacktheit, die in der Landschaft uns überfällt, wird gleichgehalten von der nackten Geliebten.

Als unsere Zeit uns aus dem Abstand verstieß in Landschaft und auf der behüteten Bahn des Gedankens uns die Geliebte entgegenschritt, fühlten wir Zeit, die uns aussandte, gewaltig gegen uns wieder fluten. Einschläfernd ist dieser Rhythmus der Zeit, der von allerweltenwärts zu uns heimkehrt. Wer ein Tagebuch liest, schläft darüber ein und erfüllt, was das Schicksal dessen war, der es schrieb. Wieder und wieder beschwört das Tagebuch den Tod des Schreibers und sei es im Schlafe des Lesenden: Unser Tagebuch kennt nur einen Leser, der wird zum Erlöser, indem das Buch ihn bezwingt. Wir selber sind der Leser oder unser Feind. Er fand keinen Eingang in das Königtum, das um uns blühte. Er ist nichts anderes als das vertriebene, geläuterte Ich, unsichtbar in der unnennbaren Mitte der Zeiten verweilend. Er gab sich nicht dem Strom des Schicksals hin, das uns umfloß. Wie die Landschaft sich uns entgegenhob, sonderbar von uns beseeligt, wie die Geliebte uns vorüberfloh, ehmals von uns gefraut, steht inmitten des Stroms, aufrecht wie sie, der Feind. Aber mächtiger. Er sendet Landschaft und Geliebte uns entgegen und ist der unermüdliche Denker der Gedanken, die uns nur kommen. Vollendet klar begegnet er uns, und während die Zeit sich in die stumme Melodie der Abstände verbirgt, ist er am Werke. Plötzlich erhebt er sich im Abstand wie die Fanfare und sendet uns dem Abenteuer entgegen. Er ist nicht weniger als wir Erscheinung der Zeit, aber der gewaltigste Reflektor unsrer selbst. Blendend vom Wissen der Liebe und den Schauungen ferner Lande bricht er rückkehrend in uns ein und stört unsere Unsterblichkeit auf zu immer fernerer und fernerer Sendung. Er kennt die Reiche der hundert Tode, die die Zeit umgeben und will sie in Unsterblichkeit ertränken. Nach jedem Anblick und jeder Todesflucht kehren wir zu uns heim als unser Feind. Von keinem andern Feind sagt jemals das Tagebuch, weil vor der Feindschaft unsres erlauchten Wissens jeder Feind versinkt, stümperhaft neben uns, die wir niemals unsere Zeit erreichen, immer hinter sie flüchten oder vorwitzig sie überflügeln. Immer die Unsterblichkeit aufs Spiel setzend und sie verlierend. Dies weiß der Feind, er ist das unermüdliche, mutige Gewissen, das uns stachelt. Unser Tagebuch schreibt das seinige, während er tätig ist in der Mitte des Abstandes. In seiner Hand ruht die Waage unserer Zeit und der unsterblichen. Wann wird sie einstehen? Wir werden uns selbst widerfahren.

III

Die Feigheit des Lebenden, dessen Ich mannigfaltig allen Abenteuern beiwohnt und ständig sein Antlitz verbirgt im Kleid seiner Würde – sie mußte zuletzt unerträglich werden. So viele Schritte wir in das Königreich des Schicksals taten, so oft wandten wir uns rückwärts – ob wir auch unbeobachtet wahrhaft seien: da ermüdete einmal die unendlich gekränkte, gekrönte Hoheit in uns, sie wandte sich, grenzenlos fortan voll Verachtung für das Ich, das man ihr gegeben. Sie bestieg einen Thron im Imaginären und wartete. Mit großen Lettern schrieb der Griffel ihres schlafenden Geistes das Tagebuch.

So handelt es sich denn in diesen Büchern um die Thronbesteigung eines, der abdankt. Abdankte er dem Erlebnis, dessen er sein Ich nicht würdig befindet noch fähig, dem er sich endlich entzieht. Einst fielen die Dinge auf seinen Weg, statt ihm zu begegnen, von allen Seiten bedrängten sie einen, der ständig flüchtete. Niemals kostete der Edle die Liebe der Unterlegnen. Er mißtraute, ob denn auch er gemeint sei von den Dingen. Meinst du mich? fragte er den Sieg der ihm zufiel. Meinst du mich? das Mädchen, das sich an ihn schmiegte. Also riß er sich aus seiner Vollendung. Erschien er dem Sieg doch als Sieger, der Liebenden als der Geliebte. Aber ihm war Liebe widerfahren und Sieg war ihm zugestoßen, während er den Penaten seiner Heimlichkeit Opfer brachte. Niemals war er dem Schicksal begegnet, an dem er vorbei lief.

Als aber im Tagebuche die Hoheit des Ich sich zurückzog und das Rasen gegen das Geschehen verstummte, zeigten die Ereignisse sich unbeschlossen. Die immer fernere Sichtbarkeit des Ich, welches nichts mehr auf sich bezieht, webt den immer näheren Mythos der Dinge, die hinstürmen in bodenloser Neigung zum Ich, als unberuhigte Frage, nach Bestimmung dürstend.

Der neue Sturm erbraust im bewegten Ich. Ausgesandt ist es als Zeit, in ihm selber stürmen die Dinge dahin, ihm entgegnend in ihrer fernenden, demütigen Richtung, dahin zur Mitte des Abstandes, zum Schoße der Zeit hin, von da das Ich erstrahlte. Und Schicksal ist: diese Gegenbewegung der Dinge in der Zeit des Ich. Und jene Zeit des Ich, in der die Dinge uns widerfahren, das ist die Größe. Ihr ist alle Zukunft vergangen. Der Dinge Vergangenheit ist die Zukunft der Ich-Zeit. Aber die Vergangenen werden zukünftig. Von neuem entsenden sie die Zeit des Ich, wenn sie eingegangen sind in den Abstand. Mit den Geschehnissen schreibt das Tagebuch die Geschichte unseres zukünftigen Seins. Und prophezeit uns also unser vergangenes Schicksal. Das Tagebuch schreibt die Geschichte unserer Größe vom Tode an. Einmal ist ja die Zeit der Dinge aufgehoben in der Zeit des Ich, Schicksal ist aufgehoben in der Größe, Abstände sind aufgehoben im Abstand. Einmal widerfährt uns der erstarkte Feind in seiner grenzenlosen Liebe, der alle unsere geblendete Schwäche sammelte in seiner Stärke, all unsere Nacktheit bettete in seine Leiblosigkeit, all unser Schweigen übertönte mit seiner Stummheit und alle Dinge heimbringt und alle Menschen endet – der große Abstand. Tod. Im Tode widerfahren wir uns selbst, es löst sich unser Tot-sein aus den Dingen. Und die Zeit des Todes ist unsere eigene. Erlöst gewahren wir die Erfüllung des Spieles, die Zeit des Todes war die Zeit unseres Tagebuches, der Tod der letzte Abstand, der Tod der erste liebende Feind, der Tod, der uns mit aller Größe und den Schicksalen unserer breiten Fläche in die unnennbare Mitte der Zeiten trägt. Der für einen einzigen Augenblick uns Unsterblichkeit gibt. Tausendfach und einfach ist dies der Inhalt unserer Tagebücher. Die Berufung, die unsere Jugend stolz abwies, überrascht uns. Aber sie ist nichts, als Berufung zur Unsterblichkeit. Wir gehen ein in die Zeit, die im Tagebuch war, dem Symbol der Sehnsucht, Ritus der Reinigung. Mit uns versinken die Dinge zur Mitte, mit uns erwarten sie uns gleich die neue Erstrahlung. Denn Unsterblichkeit ist nur im Sterben und Zeit erhebt sich am Ende der Zeiten.

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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