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Das Glück des antiken Menschen

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1916

Der nachantike Mensch kennt vielleicht nur eine einzige seelische Verfassung, in der er sein Inneres mit voller Reinheit und voller Größe zugleich zum Ganzen der Natur, des Kosmos in Beziehung setzt, nämlich den Schmerz. Der sentimentalische Mensch, wie Schiller ihn nennt, kann ein annähernd reines und großes, das heißt annähernd naives Gefühl seiner selbst nur um den hohen Preis gewinnen, daß er sein ganzes inneres Wesen zu einer von der Natur geschiedenen Einheit zusammenfaßt. Noch seine höchste menschliche Einfachheit und Einfalt beruht auf dieser Scheidung von der Natur durch den Schmerz und in dieser Entgegensetzung tritt denn wieder zugleich ein sentimentalisches Phänomen und zugleich eine Reflexion in die Erscheinung. Es liegt geradezu der Gedanke nahe, als sei die Reflexion mit solcher Intensität dem modernen Menschen verhaftet, daß im schlichten, einfältigen Glück, das den Gegensatz zur Natur nicht kennt, der innere Mensch ihm allzu gehaltlos und uninteressant erscheint, um im tiefsten frei nach außen sich zu entfalten, um nicht vielmehr in einer Art von Scham im Verborgnen, Engen zu bleiben. Auch dem Modernen bedeutet das Glück naturgemäß einen Zustand der naiven Seele κατ’ ἐξοχήν, aber nichts ist bezeichnender, als sein Versuch, diese reinste Offenbarung des Naiven ins Sentimentalische umzudeuten. Die Begriffe der Unschuld und des Kindlichen mit ihrem Wust falscher und verdorbner Vorstellungen bestreiten diesen Prozeß der Umdeutung. Während die naive Unschuld, die große, in unmittelbarer Berührung mit allen Kräften und Gestalten des Kosmos lebt, ihre Symbole in der Reinheit, Kraft und Schönheit der Gestalt findet, bedeutet sie dem Modernen die Unschuld des Homunkulus, eine mikroskopische Diminutivunschuld, in Form einer Seele die von der Natur nichts weiß, die durch und durch verschämt, auch vor sich selbst ihren Zustand nicht zu erkennen wagt, gleichsam – um das zu wiederholen – als sei ein glücklicher Mensch ein allzuleeres und ausgeblasenes Gehäuse, um nicht bei seinem eignen Anschauen in Scham zu versinken. Daher hat die moderne Empfindung des Glückes das Kleinliche und Heimliche zugleich, und sie hat die Vorstellung der glücklichen Seele geboren, die ihr Glück vor sich selbst in beständiger Tätigkeit und künstlicher Gefühlsverengerung verleugnet. Die gleiche Bedeutung hat die Vorstellung vom kindlichen Glück, da sie auch im Kinde nicht das fühlende, reine Wesen sieht, dem unmittelbarer als einem andern Gefühl zum Ausdruck wird, sondern sie sieht ein egozentrisches Kind, eines das aus Unwissenheit und Verspieltheit die Natur umdeutet und verkleinert zu uneingestandenen Gefühlen. In Büchners »Lenz« ist in einer Phantasie des Kranken, der sich nach Ruhe sehnt, das kleine Glück der Sentimentalen Seele so geschildert: »›Sehen Sie‹, fing er wieder an, ›wenn sie so durchs Zimmer ging und so halb für sich allein sang, und jeder Tritt war eine Musik, es war so eine Glückseligkeit in ihr, und das strömte in mich über; ich war immer ruhig, wenn ich sie ansah oder sie so den Kopf an mich lehnte, … Ganz Kind; es war, als war ihr die Welt zu weit: sie zog sich so in sich zurück, sie suchte das engste Plätzchen im ganzen Haus, und da saß sie, als wäre ihre ganze Seligkeit nur in einem kleinen Punkt, und dann war mir’s auch so; wie ein Kind hätte ich dann spielen können.‹«

Es ist entscheidend für das Bild, das der antike Mensch vom Glück hat, daß jene kleine Bescheidenheit, die im Individuum das Glück begraben, es durch Reflexion unerreichbar tief in seinem Innersten verbergen will (als Talisman gegen das Unglück), bei ihm zu ihrem furchtbarsten Gegenteil wird, zum Frevel des wahnwitzigen Hochmuts, zur ὕβρις. ὕβρις ist dem Griechen der Versuch, sich selbst – das Individuum, den innern Menschen – als Träger des Glückes darzustellen, ὕβρις ist der Glaube, Glück sei eine Eigenschaft, und gar noch die der Bescheidenheit, ὕβρις der Glaube, Glück sei etwas anderes als ein Geschenk der Götter, das diese jede Stunde nehmen können, die jede Stunde unerhörtes Unglück dem Sieger verhängen können (wie dem heimkehrenden Agamemnon). Damit ist es nun gesagt, daß die Gestalt, in der das Glück den antiken Menschen heimsucht, der Sieg ist. Sein Glück ist ein Nichts, wenn nicht dies – daß die Götter es ihm verhängen, und sein Verhängnis ist es, wenn er glauben will, ihm und gerade ihm hätten die Götter es gegeben. In dieser höchsten Stunde, die den Menschen zum Heroen macht, die Reflexion von ihm fernzuhalten, in dieser Stunde alle Weihen über ihn auszugießen, die den Siegenden mit seiner Stadt, mit den Hainen der Götter, mit der εὐσέβεια der Voreltern und endlich mit der Macht der Götter selbst versöhnen, sang Pindar die Siegeshymnen. Und so ist dem antiken Menschen am Glück beides zugemessen; Sieg und Feier, Verdienst und Unschuld. Beides von der gleichen Notwendigkeit und Strenge. Denn keiner kann da mehr auf Verdienst pochen, wo er in den Wettkämpfen ein Kämpfer ist, auch dem Vortrefflichsten können die Götter den Herrlichem gesandt haben, der ihn in den Staub wirft. Und er – der Sieger wird umsomehr wieder den Göttern danken, die ihm Sieg über den Heldenhaftesten verliehen. Wo bleibt hier das starre Pochen auf Verdienst, die abenteurerhafte Erwartung des Glücks, die dem Bürger das Leben fristen? Der ἀγών, und dies ist ein tiefer Sinn seiner Institution, fristet jedem das Maß des Glückes, das Götter ihm verhängen. Wo aber bleibt auch die leere müßige Unschuld des Unwissenden, mit der der Moderne sein Glück vor sich selber verbirgt? Allen sichtbar, gepriesen von dem Volke steht der Sieger da, Unschuld tut ihm bitter not, der das Gefäß des Sieges wie eine Schale voll Weines in erhobenen Händen hält, von dem ein verschütteter Tropfen auf ihn fallend ihn ewig befleckte. Verdienst hat er nicht zu verleugnen und nicht zu erschleichen, das die Götter ihm gaben, und nicht Reflexion auf seine Unschuld tut ihr not, wie der kleinen, unruhigen Seele, sondern Erfüllung der Weihen, damit der göttliche Kreis, der ihn einmal erwählt, den Fremdling bei sich halte als Heroen.

Das Glück des antiken Menschen ist beschlossen im Siegesfest: im Ruhm seiner Stadt, im Stolze seines Gaues und seiner Familie, in der Freude der Götter und im Schlafe, der ihn zu den Heroen entrückt.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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