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Tessy hat mir das Ende dieser Geschichte erzählt. Aber Tessy lügt meistens. Oder vielmehr, sie mag die Wahrheit nicht sagen. „Die Wahrheit ist langweilig und stimmt nie.“ Das ist so einer ihrer anfechtbaren Kernsprüche. Ich sagte ihr: „Das ist doch alles Lüge oder Kleinmädchenphantasie.“ Sie streckte die Hände beschwörend aus, kleine, katzenkrallige, schmale Hände, und schüttelte die rostrote Mähne, von der sie immer behauptete, daß sie von Natur aus rostrot sei. Aber schon damals fuhr sie alle vierzehn Tage aus unserem Dorf in die Stadt hinunter, weil vom Haarboden her die Haare ein schlichtes Braun zu zeigen begannen. Sie ist also nicht rostrot, sondern bestenfalls kastanienbraun. Rostrote Mädchen gibt es überhaupt nicht. Nein — Tessy schwindelt. „Es ist die reinste Wahrheit“, rief sie und sprang von der Couch auf, „ich schwöre dir bei ... bei ...“

Es fiel ihr nichts ein, wobei sie schwören konnte. Denn sie ist dreiundzwanzig, sehr gescheit, sehr begabt, tuscht reizende kleine Aquarelle, bemalt Seidenstoffe, wenn sie mal welche ergattert, mit phantastischen kleinen Landschaften, schreibt rührende Gedichte, beinahe Volksweisen, im Stil von Matthias Claudius. Andere würden mit solchen Begabungen oder mit einer von ihnen in dieser Zeit ihr Geld machen. Aber Tessy kann das nicht. „Ich schwöre dir bei ... bei ...“ wiederholte sie, aber es fiel ihr wieder nichts ein. Denn sie glaubt an gar nichts. Wie sollte sie auch? Zehn war sie, als das Dritte Reich begann, zweiundzwanzig, als sie Vittorio kennenlernte. „Schwöre nicht“, sagte ich ihr, „alle kleinen Leute lügen.“ Sie schnaufte verächtlich durch ihre hübsche schmale Nase. Dann sagte sie: „Manuela war einssechsundsiebzig groß. Viel zu groß für eine Tänzerin. Und willst du etwa behaupten, daß sie die Wahrheit sprach?“

Nein — das wollte ich nicht behaupten. Aber bei Manuela kam es nicht darauf an, was sie sprach. Alles, was sie war, war sie vermittels ihrer Schönheit. Was sie sagte, war gleichgültig, und außer mir hörte niemand recht hin, wenn sie etwas sagte. Das bedingt auch meine Sonderstellung zu Manuela ... die anderen Männer waren viel zu sehr damit beschäftigt, sie anzuschauen oder um sie zu werben.

Ich versuchte Tessy das zu erklären. Aber sie antwortete: „Du warst natürlich verliebt in sie, wie alle Männer.“

„Du irrst dich“, antwortete ich würdig. „Es gibt Männer, die eine Frau schön finden können, auch wenn sie sich nicht in sie verlieben.“

Tessy setzte sich wieder auf die große Couch. Sie setzte sich wie immer in den Kreuzsitz, ordnete lange und sorgfältig ihr buntes, schweres Hauskleid, drehte sich mühevoll aus einem schlechten Tabak „Kawalla“ eine Zigarette und steckte sie bedächtig an. „Du irrst — mein Fürst“, sagte sie dann dozierend. „Schönheit ist nichts, was an und für sich existiert. Die Augen des Mannes machen eine Frau schön oder häßlich.“ Und nach einer Weile setzte sie merkwürdig zart hinzu: „Damals ... du weißt schon, wann ... sagte Vittorio, ich sei schöner als Manuela.“

„Und du hast das geglaubt?“

„Er glaubte das. Also war ich schön.“

Ich ging hinaus, um einen Tee zu kochen, denn es war bitter kalt. Der Ostwind lag genau auf den Fenstern und pustete durch die Holzplatten, mit denen die beiden linken Fensterflügel primitiv vernagelt waren. Mit dem bißchen feuchten Torf und dem halbgrünen Holz konnte man nicht dagegen anheizen. Aber ich hatte eine ganze Menge Tee aus Kanada bekommen, von Fosters, die schon 1934 hinübergegangen sind und mir jetzt geschrieben haben; sie begriffen nicht, warum ich eigentlich in Deutschland geblieben sei unter einem Regime, das doch nur so enden konnte, wie es geendet ist. Ja, Fosters sind klüger gewesen als ich. Dafür geht es ihnen jetzt auch gut, und sie können allen ihren Freunden Tee schicken.

Als ich wieder hereinkam, lag Tessy auf der Couch, ganz in sich zusammengekrümmt, und schluchzte. Ich reichte ihr eine Tasse und sagte: „Trink erst mal. Das andere geht vorüber.“

Sie trank gehorsam. Der Tee war tabakbraun und heiß. „Schmeckt ... wie Konfekt“, sagte sie unter Tränen.

„Na also ... siehst du nun ein, daß es vorüber ist?“

Sie seufzte: „Es ist erstaunlich, wie dumm die Männer von früher sind.“ Darauf ließ sich schwer etwas erwidern. Tessy griff noch weiter an: „Sag mal ... früher ... geliebt habt ihr doch wohl alle nicht?“

„Nein, das habt ihr erst erfunden.“

Sie sagte: „Ich meine, ihr habt doch Tag und Nacht über die Liebe gequatscht. Psychoanalyse oder: Darf die Frau, was der Mann darf, oder darf sie nicht? Mit Spernser hast du stundenlang darüber diskutiert, oder nein?“

„Spernser war Spezialist für Frauenfragen. Er hatte doch immer ganz hübsche Ideen über alles.“

Tessy lachte tückisch: „Ideen hatte er schon ganz hübsche. Aber seine Mädchen .... erinnerst du dich noch an Didi Seifert ... die Lustabwehrkanone ... die mehlblonde Didi? Mit der hatte er was. Mensch ... da muß man ja Essays über Frauen schreiben.“

Sie erzählte ein paar tückische Einzelheiten über Spernsers Abenteuer mit Didi Seifert und Herma Zacke, bei denen Spernser einen Aushilfsposten als Liebhaber inne hatte. Nachher schlief Tessy ein. Sie lag, den Kragen ihres Tigerpelzes hochgeschlagen, und pustete leicht gegen die Haare, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Ich deckte sie mit meinem schäbigen Mantel zu. Dann saß ich frierend dicht am Kanonenofen, nein, den Ofen beinah zwischen den Knien, und dachte darüber nach, was mir Tessy erzählt hat. Das Ende dieser Geschichte gefiel mir nicht. Das Schicksal, so murrte ich, ist ein schlechter Erzähler — besonders heute. Die Geschichten enden meist abrupt, viele mit Unglücksfällen, die scheinbar gar nichts mit den Menschen zu tun haben, denen sie zustoßen. So ist es bei Manuela und Vittorio. Aber ich will nicht das Ende vorausnehmen. Wer wirklich neugierig ist, kann ja mit den letzten Seiten anfangen. Und für die anderen will ich es möglichst der Reihe nach erzählen. Nur ab und zu wird Tessy diese Geschichte unterbrechen, dann nämlich, wenn ich sie etwas fragen muß, was ich nicht weiß. Sie wird jetzt wahrscheinlich eine Zeitlang bei mir bleiben. Denn sie hat weder ein Zimmer, noch eine Zuzugserlaubnis, noch eine Arbeit, noch Geld, noch Lebensmittelkarten. Es ist nicht einfach, sie wieder auf die Beine zu stellen. Sie ist am Ende. Ich muß mich um sie kümmern. Sonst geht sie zugrunde. Eigentlich wäre es Vittorios Aufgabe gewesen, sich um sie zu kümmern. Aber — abgesehen davon, daß man sich vom Himmel oder von der Hölle aus nicht für seine verstoßenen Damen einsetzen kann: Vittorio und sich um eine Frau kümmern! Das tun nur dumme Männer von früher.

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