Читать книгу Von Dünen, See und Strand - Werner Bitter - Страница 9
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„Scheißwetter was“ meinte der junge Mann vom Parkservice, als er mein Auto übernahm. Ein kräftiger Südwestwind blies über die Mole in Norddeich und trieb dabei vom Atlantik mitgebrachte Wolken vor sich her. Feiner Sprühregen behinderte die Fernsicht. „Man kann es sich nicht aussuchen“ antwortete ich und nahm mein Gepäck auf. „Auf der Insel werde ich die Sonne finden“ fügte ich hinzu, sah noch seinen spöttisches Blick, hörte sein „Viel Spaß beim Suchen“ während ich in Richtung Fähre davon ging.
Die Gangway zeigte nach unten, verriet mir durch ihre Neigung den niedrigen Wasserstand. Wir würden mit der auflaufenden Flut zur Insel fahren. Der kräftige Südwest würde die Flut unterstützen und ausreichende Wassermassen in das Watt drücken. Keine Gefahr für das Schiff an den Untiefen im Juister Watt eine unfreiwillige Fahrtunterbrechung in Kauf nehmen zu müssen.
Ich hatte es mir im hinteren Teil des Salons bequem gemacht. Zwei, drei bekannte Gesichter waren mir aufgefallen auf dem Weg dort hin, aber niemand den ich hätte begrüßen müssen und vor allem keiner, dem ich mehr Aufmerksamkeit schuldig gewesen wäre. Ich nahm die Unterlagen aus der Tasche, deren Lektüre ich einem unverbindlichen Gespräch vorzog. Einen Kaffee bestellte ich mir noch bei der freundlichen jungen Frau von der Bordrestauration, dann räkelte ich mich behaglich in meinem Stuhl zurecht und schlug die Unterlagen auf, deren Inhalt mich heute zur Insel führte. Alte Dokumente über das Haus der Großeltern auf der Insel, die ich mitgenommen hatte als das Haus verkauft wurde. Erst Jahre später war ich dazu gekommen die Unterlagen grob zu sichten. Nun fuhr ich wieder zur Insel. In den alten Kirchenbüchern würde ich, so meine Hoffnung, ergänzende Informationen finden.
Ich hatte kaum mit der Lektüre begonnen, als sich am Nebentisch schräg hinter mir fünf Damen mittleren Alters mit viel Stühlerücken und vernehmlich geäußerter Lebensfreude niederließen. Es waren noch viele Tische frei, warum musste es ausgerechnet der Nebentisch sein; die erhoffte Ruhe zum Lesen während der Überfahrt sah ich schwinden. Leicht resigniert wandte ich mich wieder meinen Unterlagen zu.
Als wir das alte Insulanerhaus der Großeltern endgültig leerräumten, hatte ich die Dokumente eher zufällig entdeckt. Die alte Kommode stand schon in meinen Kindertagen auf dem Speicher und wahrscheinlich hatte sie Jahrzehnte vorher auch bereits dort gestanden. Ein rötlichbrauner Anstrich hatte das Holz möglicherweise vor stärkerem Angriff durch Luftfeuchtigkeit bewahrt.
Zwei große Schubladen in Kommodenbreite und zwei darüber angeordnete, nebeneinanderliegende kleine, so stand sie vor mir. Sie sollte nach unten geschafft werden. Die Schubladen waren leer, wusste ich von früheren Untersuchungen. Als Kind glaubte ich etwas Besonderes in dem alten Möbel entdecken zu können. Tatsächlich hatte ich in einer Schublade Krimskrams vorgefunden mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Einige Muscheln, die jemand vom Strand mitgebracht und dann vergessen hatte und eine Zigarrenkiste ohne Deckel, in der mehrere alte Abzeichen und sogar eine im ersten Weltkrieg erworbene Auszeichnung aufbewahrt worden waren. Ich brachte den Fund nach unten, daran erinnerte ich mich vage. Dort wird der Inhalt der Zigarrenkiste in einer anderen Schublade zwischengelagert worden sein, bevor er auf irgendeine Weise entsorgt wurde.
Um das Transportgewicht der Kommode zu verringern beschloss ich die Schubladen zu entfernen, das würde die Handhabung vereinfachen. Ich zog an der unteren Schublade, die sich jedoch nur ein Stück weit herausziehen ließ. Klar, dachte ich, der feuchte Dachboden hat seine Spuren hinterlassen. Gut zehn Minuten zog, stieß, zerrte und ruckelte ich bis die beiden großen und eine der beiden kleinen Schubladen neben der Kommode lagen. Die letzte, es war die auf der linken Seite, bewegte sich keinen Zentimeter. Und plötzlich wusste ich, genau das hatte ich bereits erlebt als ich in meinen Kindertagen die alte Kommode untersuchte. Da die Ausbeute damals gering und die beiden anderen Schubladen leer gewesen waren, hatte ich das Interesse verloren. Jetzt ärgerte ich mich über die sich verzögernde Entrümpelungsaktion und insbesondere darüber, nicht gleich getan zu haben was ich nun beschloss. Ich holte ein Beil und schlug das Möbel auseinander. Als die linke kleine Schublade frei wurde, blickte ich überrascht auf einen grauen Aktendeckel, der etwa fünf Zentimeter Papier einschloss. Zwei Gummibänder hielten den Stoß zusammen. Vorsichtig nahm ich ihn auf, rümpfte die Nase als ich Muffgeruch wahrnahm und zog an den Gummibändern. Kurz wanderten meine Gedanken zurück in die Kindheit. Die Großmutter hatte solche Gummibänder für ihre Einmachgläser benutzt, und einen Moment lang glaubte ich den Duft eingemachter Brombeeren riechen zu können.
Vorsichtig begann ich die zum Teil zusammengefalteten oder in Briefumschlägen steckenden Dokumente zu sichten. Manche waren vergilbt oder auch an den Rändern von Feuchtigkeit angefressen, andere wiederum trotz ihres Alters in hervorragendem Zustand. Es handelte sich um Dokumente, die das Haus betrafen, dies wurde mir schnell klar. Baugesuche für An- oder Umbauten, Bauscheine, alte Versicherungsunterlagen der Brandkasse und zwei Kauf-Contracte von 1854 und 1866.
Hatte die alte Kommode ihren Inhalt nicht hergeben wollen? Möglicherweise hatten auch andere Hausbewohner in der Vergangenheit bereits versucht die klemmende Schublade zu öffnen und den Versuch abgebrochen, nachdem voraussehbar war, dass sie nichts enthielt, schließlich waren die anderen Schubladen auch leer gewesen. Ich sah es als Glücksfall. Vermutlich hätten andere den alten Papierkram entsorgt. Mich interessierten die Dokumente, und so tauchte ich in die Welt der Ahnenforschung ein. Meine Ur-Urgroßmutter, Sara Wäcken, beschäftigte mich seit einiger Zeit. Sie brachte den Familiennamen, den Mädchennamen meiner Mutter, auf die Insel. Die Urmutter nenne ich sie. Kaum mehr als ihren Namen weiß ich. Einen unehelich geborenen Sohn brachte sie mit auf die Insel, meinen Urgroßvater Jürgen Wäcken. In den vorgefundenen Dokumenten gibt es keinen Hinweis, keine Spur die weiter führt, die mir mehr über Sara verrät.
„Nich lang schnacken, Kopf in’n Nacken“ tönte es vom Nebentisch. Ohne den Kopf zu wenden weiß ich als gebürtiger Norddeutscher was nun geschieht. Die fünf Damen nehmen mit nach hinten gekipptem Kopf etwas Hochprozentiges zu sich, nordisch klar vermutlich. Hoffentlich gibt nicht jede der Damen eine Runde, denke ich beiläufig. Nein, das wohl nicht, aber jede musste einen Witz erzählen. Also, was da zu hören war gab es früher nur auf Herrenabenden.
Das wird nichts mehr. Ich schob die Unterlagen in meine Aktentasche, zog meine warme Jacke an und ging an Deck. Es regnete nicht mehr, aber die geschlossene Wolkendecke ließ nur fahles Tageslicht zu. Die Insel lag wie ein langer dunkler Balken an Steuerbord. Meine Gedanken kehrten zum Thema meiner Reise zurück. Meine Ur-Urgroßmutter kam vom ostfriesischen Festland, soviel steht fest. Was mag sie empfunden haben, als sie erstmals zur Insel übersetzte. Vermutlich war es ihr Mann oder zukünftiger Mann, der sie mit seinem Boot „heimholte“. War es ein Tag wie der heutige, mit Wind aus Nordwest, der den Schiffer zum Kreuzen zwang? Er wird Stunden gebraucht haben, bis die Segeltjalk die Insel erreichte. Kein Hafen wartete auf das ankommende Schiff, nicht einmal ein Landesteg. Umsteigen auf ein kleines Ruderboot, um der Insel näher zu kommen und dann die letzten Meter durch das Wasser watend, so erreichte man damals sein Ziel. Später, als Feriengäste zur Insel fuhren, wurden sie von hochrädrigen Pferdekutschen übernommen.
Sara Wäcken heiratete den Fährschiffer Hillrich Onnen, der auf Juist lebte; zumindest das scheint gesichertes Wissen zu sein. In meiner Kindheit hörte ich meinen Großvater Benno Wäcken gelegentlich von Onkel Hillrich erzählen. Unter den alten Dokumenten hatte ich eine Taufbescheinigung meines Großvaters gefunden. Dort hieß es unter Taufpaten: Der Stiefgroßvater des Täuflings, Fährschiffer Hillrich Onnen und seine Frau Anna geb. Deneke. Im Jahr 1880 gab es Sara demnach nicht mehr. Oder hatte sie die Insel verlassen? War die Ehe geschieden worden? Das war sehr unwahrscheinlich, bedenkt man die Lebensverhältnisse der Menschen im 19. Jahrhundert. – Ich hoffte in den Kirchenbüchern Antworten auf meine Fragen zu finden. Morgen würde ich damit beginnen.
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Am späten Nachmittag hatten sich die tiefhängenden dunklen Wolken verzogen, waren von ihren in großer Höhe segelnden hellgrauen und weißen Schwestern abgelöst worden, die hier und da den Blick auf das Blau des Himmels freigaben. Wenig später ließ die Sonne sich sehen, ich hatte sie gefunden. Zufrieden lächelnd dachte ich an den jungen Mann vom Parkservice in Norddeich, der mir morgens viel Glück beim Suchen gewünscht hatte. Sinnend stand ich noch eine Weile am Hafen, sah den sich von gelb über orange bis zur Purpurfarbe hin verfärbenden Himmel. – Dein Anruf erreichte mich, als ich gerade gehen wollte. „Ich stehe am Fenster“ sagtest Du „und sehe einen wunderschönen Sonnenuntergang“. „Den sehe ich auch“ antwortete ich - ca. 300 Kilometer weiter nördlich - „aber vermutlich in anderen, vielleicht schöneren Farben“?
Als ich heute am frühen Morgen aus dem Fenster schaute, lag in dem sich nach Osten hinziehenden Dünental eine weißgraue Nebeldecke. Sie schien mir nicht besonders dick zu sein, denn der größte Teil der Dünen war gut sichtbar, und darüber wölbte sich ein tiefblauer Himmel, an dem vereinzelt noch Sterne zu erkennen waren. Ich stellte mir vor, dass wir beide dort unten wandern würden und musste plötzlich lachen. Möglicherweise wäre von mir nur der Kopf zu sehen und von dir nur die Haare oder auch nichts, je nach Mächtigkeit der Nebeldecke. In spätestens zwei Stunden würde die Sonne den Nebel vertrieben haben. Nach der gestrigen Dunkelheit freute ich mich auf einen hellen Tag. Und abends würde ich vielleicht mehr wissen über Sara und dir telefonisch berichten können.
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Über Sara konnte ich jahrzehntelang nichts herausfinden. Selbst mein Großvater wusste nichts Näheres über die Frau zu berichten, die seine Großmutter väterlicherseits sein musste. Es gab kein Wissen in der Familie über ihren Verbleib, kein erklärendes Dokument und auch keinen Grabstein auf dem Friedhof der Auskunft hätte geben können. Wenn ich anfing an ihrer gewesenen Existenz zu zweifeln ist das nicht verwunderlich.
Heute nun würde ich die alten Kirchenbücher einsehen. Und nach fleißigem und teilweise mühsamem Studium entdeckte ich eine dokumentierte Spur ihres Lebens. Im Jahr 1853 ist vermerkt, dass Gretje Weers Onnen am 12. August, nachmittags geboren wurde. Eltern sind der Fährschiffer Hilrich Onnen und seine Ehefrau Sarke geb. Wäcken. (Sarke ist die ostfriesische Koseform für Sara.) Es gab sie also wirklich. Im Jahr 1857 folgte ein weiterer Eintrag; der Sohn Hillrich wurde registriert. Dann 1861 der sechste September, morgens 4 Uhr, ein Mädchen, todtgeboren. Aus Sarke ist nun Sara geworden. Unter 1862 finde ich einen weiteren Eintrag: Onnen (Knabe) Der siebente September nachmittags zwei Uhr; Eltern Hilrich Onnen und seine Ehefrau Sara geb. Wäcken; todtgeboren. An jenem 7. September 1862 endet auch das Leben meiner Ur-Urgroßmutter Sara. Im Kirchenbuch der Sterbefälle finde ich: Sara Onnen geb. Wäcken, Ehefrau des Fährschiffers Hilrich Onnen zu Juist; 37 Jahre, 7 Monate und 25 Tage. Und unter Tag und Stund steht vermerkt: der 7.09. nachmittags drei Uhr; beerdigt 11. Sept. 1862.
Dem damaligen Brauch folgend erhielten totgeborene und auch lebendgeborene Kinder, die nicht mehr getauft werden konnten, keinen Namen.
Sara überlebte die Geburt ihres fünften Kindes um eine Stunde. – Ich war betroffen, musste innehalten, ließ die Notizen, die ich machen wollte, zunächst ungeschrieben. So jung musste sie sterben, meine Frau war fast genauso alt, als wir unser jüngstes Kind bekamen. Zwei Kinder aus der Ehe mit Hillrich, gerade neun und fünf Jahre alt verloren ihre Mutter. Der älteste Sohn, Jürgen, den sie mit in die Ehe gebracht hatte, war kaum achtzehn; vermutlich war er gar nicht auf der Insel, fuhr bereits zur See. Die Nachricht von ihrem Tod erreichte ihn möglicherweise erst, als er für ein paar Tage nach Haus zurückkehrte. Sein Stiefvater Hillrich wird es gewesen sein, der ihn, als er in Norddeich die Schaluppe bestieg, über den Tod der Mutter informierte.
Der Schleier, der so lange über dem Leben und Sterben von Sara Wäcken, der Urmutter wie ich sie nenne, lag, ist nun beiseitegeschoben, gibt den Blick frei auf säuberlich festgehaltene Daten und Fakten. Mehr nicht. Es gibt kein Bild, keine Erzählung, kein von ihr geschriebener Brief der etwas über ihre Person aussagen könnte. So bleibt für mich weiterhin die Frage bestehen: Wer war Sara Wäcken? Was für ein Mensch war sie?
Verständlicher ist jetzt auch, warum meine Vorfahren und ihr Umfeld so wenig über Sara wussten. Als mein Großvater in den 1890er Jahren des vorvorigen Jahrhunderts vom Kind zum Jugendlichen wurde, war Sara schon über dreißig Jahre tot.