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Erinnern

Schweigend fuhren wir durch die Novembernacht. Von Zeit zu Zeit blickte ich verstohlen hinüber zu dem Mann, der neben mir auf dem Rücksitz des Wagens saß. Dann schaute ich wieder aus dem Fenster in die Dunkelheit und überlegte, was ich sagen sollte. Es kommt nicht allzu häufig vor, dass mir die Worte fehlen, aber auf dieser Fahrt von Raesfeld nach Gelsenkirchen war das der Fall. Dabei wusste ich, dass ich mit Rudi Assauer reden musste, bevor unsere Wege sich trennten.

Ich kannte Rudi seit vielen, vielen Jahren. Wir hatten durch den Fußball ein gutes Verhältnis mit immer wiederkehrenden Begegnungen. Aber das waren eher Inseln. Es ist sicher falsch zu sagen, wir wären Freunde gewesen. Denn dazu gehört eine andere Art von Vertrautheit – und vor allem mehr zeitliche Nähe. Rudi und ich hatten abseits des Fußballs so gut wie keine gemeinsamen Interessen, daher sahen wir uns nur alle paar Wochen mal, meistens zu einem Anlass wie dem, der uns an jenem Herbsttag nach Raesfeld ins westliche Münsterland geführt hatte.

Nachdem Rudi im Mai 2006 völlig überraschend als Manager des FC Schalke abberufen worden war, erhielt er viele Einladungen. Seine Aura war noch immer lebendig, so bekam er Anfragen von Firmen, Banken oder Versicherungen, die zu Gesellschafterversammlungen und Ähnlichem gerne Gastredner präsentieren, die für Unterhaltung sorgen. Rudi machte das ein- oder zweimal, stellte aber schnell fest, dass es nicht das Richtige für ihn war. „Ich bin nicht wie der Reiner Calmund“, sagte er zu mir. „Ich kann nicht eine Stunde lang über die Bühne rennen und aus dem Bauch heraus erzählen. Das liegt mir nicht.“ Nach einer kurzen Pause setzte er vorsichtig hinzu: „Ich habe mir gedacht, wir könnten das vielleicht zusammen machen?“

Und so traten wir zusammen auf. Die Rollenverteilung lag dabei auf der Hand: Ein Ahnungsloser, das war ich, stellte dumme Fragen über Fußball, und Rudi beantwortete sie, indem er launig und humorig aus dem Nähkästchen plauderte. Manchmal diskutierten wir auch das Tagesgeschehen. Wenn wir mal unterschiedlicher Meinung waren – etwa als ich den Schalker Nationalspieler Kevin Kuranyi dafür kritisierte, dass er in der Pause eines Länderspiels das Stadion verlassen hatte und nach Hause gefahren war –, dann regte Rudi sich künstlich auf und rief zur Freude der Zuhörer: „Du kannst dich doch in einen solchen Jungen gar nicht hineinversetzen! Du hast doch nie selbst Fußball gespielt!“ (Was im Übrigen stimmt.) Zwischen 2007 und 2011 zogen wir etwa zwölf bis fünfzehn solcher Auftritte durch. Der vorletzte, im November 2010, fand vor rund 250 Mitgliedern des Lions Club Borken im Schloss Raesfeld statt.

Es gab mehrere Programmpunkte, aber schließlich waren wir an der Reihe. Es lief zunächst ganz gut. In der ersten Reihe des Publikums konnte ich Constantin Freiherr Heereman sehen, den langjährigen Präsidenten des Bauernverbandes. Wie alle anderen auch war er bester Stimmung und fühlte sich gut unterhalten. Dann aber stockte mein Partner plötzlich. Wir hatten gerade über seine Zeit bei Werder Bremen und die handelnden Personen gesprochen, da sagte Rudi: „Wie hieß der noch mal?“ Und kurz darauf erneut: „Wer war das noch gleich?“ In diesem Augenblick wurde mir bewusst, das etwas mit ihm nicht stimmte.

Wir waren an jenem Tag mit einem Fahrdienst unterwegs, der uns nach der Veranstaltung zurück zu Rudis Haus chauffierte, wo mein Wagen stand. Auf der Rückfahrt fasste ich den Entschluss, das Thema offen anzusprechen. Kurz bevor wir ankamen, sagte ich: „Rudi, ich würde heute gerne noch einmal fünf Minuten mit dir reden.“ Er erwiderte: „Ja, klar. Was hast du denn auf dem Herzen?“

Ich wartete, bis wir ausgestiegen waren und auf dem Hof vor seinem Haus standen. Dann sagte ich: „Rudi, ich habe das Gefühl, mit dir ist etwas nicht in Ordnung. Genauer gesagt: mit deinem Kopf. Ich möchte dich bitten …“ Weiter kam ich nicht, denn Rudi brach in Tränen aus. „Ich weiß es doch, ich weiß es doch“, jammerte er. Er fiel mir um den Hals und schluchzte. „Komm rein, komm mit rein“, sagte er.

Schon von der Tür aus konnte ich erkennen, dass sein Schreibtisch übersät war mit Kreuzworträtseln, die er aus Zeitschriften und Zeitungen herausgeschnitten hatte. „Siehst du?“, sagte er immer noch unter Tränen. „Ich versuche doch alles, um meinen Kopf zu trainieren!“ Dann sprach er über seine Mutter, die an Alzheimer gestorben war, und seinen älteren Bruder, der mit Demenz in der geschlossenen Abteilung einer Klinik leben musste.

Ich war zutiefst betroffen. Weil wir eben keine echte Freundschaft pflegten und nicht regelmäßig Kontakt hatten, war mir sein schleichender Zerfall nicht aufgefallen. Ich habe seit jenem Tag mit vielen Menschen aus seiner näheren Umgebung gesprochen, und die haben natürlich alles hautnah mitbekommen. Auch seinen übermäßigen Alkoholkonsum, den ich nie bemerkt hatte, weil Rudi unsere Auftritte stets nüchtern absolvierte. Auch außerhalb dieser Termine hatte ich ihn niemals wirklich betrunken erlebt. Nie! Deshalb konnte ich mir auch lange auf seine Entlassung bei Schalke keinen richtigen Reim machen.

Inzwischen weiß ich, dass Rudi die ersten Anzeichen seiner Krankheit schon viele Jahre zuvor gespürt hatte, auch weil er durch seine Familiengeschichte vorgewarnt war. Deswegen trank er verstärkt, was ein fataler Fehler war. Alzheimer und Alkohol – eine unheilvolle Melange. Doch ihm war es lieber, die Leute hielten ihn für einen Säufer als für einen Verrückten.

Doch von all diesen schrecklichen psychischen Kämpfen, die er mit sich ausgetragen haben muss, wusste ich an jenem Novembertag 2010 noch nichts. Gleich am nächsten Morgen rief ich von meinem Büro aus seine Tochter Katy an und erzählte ihr, was am Abend zuvor geschehen war. Sie sagte: „Herr Hansch, ich verspreche Ihnen, dass ich meinen Vater gleich morgen früh an die Hand nehme und ihn in die Memory-Clinic nach Essen bringe.“ Das hat sie getan, und dort bekam er seine Diagnose.

Wir hatten dann noch eine letzte gemeinsame Veranstaltung, im März 2011 für eine große Immobilienfirma. Vielleicht hätten wir diesen Termin nicht mehr wahrnehmen sollen, aber die Verträge waren schon lange unterschrieben, und wir kamen mit einem blauen Auge davon, weil ich mich gut vorbereitete und viele von den Parts übernahm, die sonst Rudi innehatte. Doch es war klar: Einen weiteren Termin dieser Art konnte er nicht mehr bewältigen. Unter anderem deswegen saß ich etwa drei Monate später alleine, ohne Rudi, bei der ZDF-Morgensendung „Volle Kanne“, um über die Fußball-WM der Frauen in Deutschland zu reden. (Da Rudi für dieses Thema nun wirklich gar nichts übrig hatte, wäre er der Einladung aber wohl auch – oder gerade – bei klarstem Verstand nicht gefolgt.)

Wie nun diese Sendung auf verschlungenen Pfaden dazu führte, dass Rudi sich öffentlich outete, dass die Reporterin Stephanie Schmidt einen berührenden Film drehte, der das ganze Land bewegte, dass das Thema Alzheimer endlich in die Öffentlichkeit kam und dass ich im Herbst 2013 sogar zum Vorsitzenden einer Initiative für Demenzkranke und ihre Angehörigen wurde – das alles werde ich an späterer Stelle noch genauer erzählen.

Jetzt sei nur gesagt, dass jene Wochen und Monate wahrscheinlich noch zu etwas anderem führten, nämlich zu diesem Buch. Das ist mir allerdings erst langsam bewusst geworden, während ich weiter und weiter in die Vergangenheit reiste, um die Geschichte der vielen Zufälle zu erzählen, die mein Leben ausgemacht haben. So hatte ich mir schon immer vorgenommen, endlich herauszufinden, was meinem Vater widerfahren war und warum er nie darüber sprach. Außerdem wollte ich seit Langem den einzigen Menschen wiederfinden, den ich wirklich als engen Freund bezeichnen kann. Und ich plante schon ewig, dieses und jenes mal aufzuschreiben – und tat doch jahrelang nichts von alldem.

Deswegen glaube ich, dass der entscheidende Impuls, diese Vorhaben dann doch eines Tages anzugehen, von Rudi kam. Zu sehen, wie ihm die Vergangenheit langsam, aber unaufhaltsam entglitt und seine Erinnerungen immer mehr verblassten, bis er sich nicht einmal mehr die Namen von engen Vertrauten merken konnte, das hat mich vielleicht unterschwellig dazu bewegt, all die traurigen, lustigen und vor allen Dingen unerwarteten Begegnungen und Wendungen festzuhalten. Bevor ich sie unwiederbringlich vergessen haben werde.

Was natürlich nicht heißt, dass Erinnerungen nicht trügen können. So habe ich zum Beispiel mein ganzes Leben lang geglaubt, dass ich meinen Vater erst mit sieben Jahren zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Aber vielleicht ist es gar nicht so gewesen ...

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