Читать книгу Von den Meyerschen in die große, weite Welt ... - Werner Hetzschold - Страница 5
EINE FIKTIVE REISE DURCH OSTEUROPA UND DURCH VERSUNKENE, LÄNGST VERGESSENE LANDSCHAFTEN MIT LÄNGST VERKLUNGENEN, BERÜHMTEN KLANGVOLLEN NAMEN
ОглавлениеSehr oft führte ihn sein Weg nach Salzburg. Jetzt ist er alt geworden, empfindet nunmehr die Reise auch per Bahn als anstrengend und mühsam. Auf das Auto hat er in den letzten Jahren völlig verzichtet. Den Straßenverkehr erlebt er als ein ewiges Chaos, gefährlich, unüberschaubar, voller tragischer Überraschungen. Der alte Mann sitzt in seinem winzigen Zimmerchen, das früher einmal sein Arbeitszimmer gewesen war, hinter seinem mit Büchern beladenen Schreibtisch, vor sich eine riesige Europa-Karte, für die er erst einmal Raum schaffen muss, um sie entfalten zu können. Vor wenigen Jahren noch konnte er die Karte ohne Brille lesen. Diese Zeit ist für immer vorbei. Das Alter hinterlässt auch bei ihm seine Spuren. Er plant eine Reise durch Ost-Europa, will berühmte Städte mit klangvollen Namen und Persönlichkeiten besuchen, die einst dort lebten, arbeiteten, ihre Spuren hinterlassen haben. Er plant eine Reise durch Landschaften, deren einstige Namen im Heute vergessen sind, der Geschichte zugeordnet werden, die aber immer wieder in der Literatur auftauchen, auch in der modernen. Zunächst wird ihn sein Weg nach Salzburg führen, dann nach Oberösterreich. Von Linz geht es weiter nach Böhmen. Prag kennt er sehr gut. Dann wendet er sich Schlesien zu und Galizien. Ob er nach Pommern, Preußen, Masowien, Litauen, Lettland, Estland, Wolhynien, Siebenbürgen oder Transsylvanien, Walachei, Bessarabien, Bukowina, Banat gelangt, weiß er noch nicht. Das hängt davon ab, wie er sich gesundheitlich fühlt. Es ist auch möglich, dass er von Galizien die Heimreise über die Slowakei nach Mähren, von dort nach Niederösterreich, in die Steiermark und nach Kärnten nach Hause wählt. Er wird sehen, was die Zukunft bringt, wie sie sich gestaltet.
Mit dem Zeigefinger fährt er auf der Landkarte die Strecke zwischen seinem Bahnhof und Salzburg ab. In Gedanken, in Fahrtrichtung sitzend, betrachtet er verträumt die Landschaft, die in seinen Augen zu den schönsten der Welt gehört. Hier unmittelbar vor den Alpen gibt es Berge, die typisch für das Mittelgebirge sind, mit Weiden, Feldern und Wäldern. In unmittelbarer Umgebung der vielen Seen, die ein Ergebnis der letzten Eiszeit sind, sind alle Arten von Mooren entstanden, die magisch die an ihnen und ihrer vielfältigen Flora und Fauna Interessierten aus aller Welt anziehen. Und dann die vielen sauberen Dörfer mit ihren reich verzierten Häusern, den Blumen-, Gemüse- und Obstgärten. Dazwischen Wiesen mit vielen Blumen, die für seine Augen ein Genuss und eine Freude sind. Nur die Schmetterlinge, aber auch die vielen anderen Insekten sind weniger geworden. Von Jahr zu Jahr werden sie weniger. Diese bittere Erkenntnis stimmt ihn traurig und nachdenklich zugleich. Er mag eine lebendige, keine sterile Schönheit. Ständig wechseln die Bilder. Jedes eine Schönheit für sich. Der „Meridian“, so heißt der Zug, nähert sich Salzburg. Immer häufiger finden in den Zügen Kontrollen statt. Er kennt die Ursachen. Die Menschen auf der weiten Welt befinden sich wieder auf Wanderschaft. So war es auch damals nach dem zweiten Weltkrieg. Viele, viele Millionen Menschen waren damals auf der Flucht, in alle Himmelsrichtungen strömten sie auf der Suche, einen Ort zu finden, der ihnen gestattete zu bleiben, um sich dort eine neue Lebensexistenz aufzubauen. Auch seine Eltern, seine Großeltern, viele aus der Verwandtschaft gehörten zu denen, die kreuz und quer durch Europa zogen, ständig auf der Suche nach dem gelobten Land, nach einem Land mit einer vielleicht sicheren Zukunft. Sie verloren sich aus den Augen während dieser rastlosen Wanderungen, aber nicht aus dem Sinn. Sie suchten einander so lange, bis sie sich gefunden hatten oder zumindest die Gewissheit erlangt hatten, dass der oder die aus ihrer Sippe auf dem Wege der Entbehrungen und seelischen Schmerzen an Schwäche, an Krankheiten verstorben waren.
Der „Meridian“ hat sein Ziel erreicht. Auf den Bahnsteigen patrouilliert Polizei. Die Polizisten kontrollieren Reisende, die wie Ausländer, wie Fremde aussehen. Der alte Mann wird nicht beachtet. Keiner interessiert sich für ihn. Weder die deutsche noch die österreichische Polizei. Sie lassen ihn laufen, wohin er will. Er kennt den Weg ins Zentrum. Viele, viele Male ist er diesen Weg gegangen. Immer wieder fasziniert ihn diese Stadt. In der Innenstadt gibt es Straßen, die jeweils noch heute von einem Gedicht geadelt werden. Nach dem ersten Weltkrieg veränderte Österreich sich radikal. Die Donau-Monarchie Österreich-Ungarn verschwand nicht nur von der Landkarte, auch aus der Erinnerung. Es gab keinen Kaiser mehr, keinen österreichischen Adel. Wer dennoch wie Herbert von Karajan Wert auf sein „von“ legte, wählte es als Teil seines Künstlernamens. So einfach war es für adlige Künstler. Die Gedichte auf den Gedenktafeln, denen der alte Mann an den Häuserfassaden im Herzen von Salzburg begegnet, schrieb der Dichter Georg Trakl. Jetzt steht der alte Mann vor dem Geburtshaus des Dichters. Ihn befällt eine Art Rührung, eine schwer in den Griff zu bekommende Sentimentalität, gepaart mit Wehmut und Trauer. Hier in Salzburg wurde Georg als fünftes von sieben Geschwistern 1887 geboren, hier verlebte er seine Jugend. Der Vater war wohlhabender Besitzer einer Eisenhandlung, gehörte dem gehobenen Bürgertum an. Die Mutter Maria Catharina war eine geborene Halik, entstammte einer tschechischen Familie. Viele Familien in Österreich haben slawische Vorfahren, aber auch aus anderen ethnischen Minderheiten, sie alle waren einst Bürger der Donau-Monarchie, die ihre Wurzeln hatten im heutigen Südpolen, in der Ukraine, in Tschechien, in der Slowakei, in Slowenien, in Kroatien, in Serbien, in Montenegro, in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Rumänien und Bulgarien und in Ungarn. Die Mutter hatte ein problematisches Verhältnis zu ihren Kindern. Die Ursache dafür war sicherlich ihre Drogenabhängigkeit, von der die Kinder nichts wussten, die älteren unter ihnen vielleicht etwas davon ahnten. Für die begüterte Salzburger Bürgerschaft gehörte sie zu ihnen, lebte das Leben einer normalen Ehefrau in diesen privilegierten Kreisen. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Georg wie seine Geschwister unter der Aufsicht einer französischen Gouvernante, die ein unerlässlicher Ersatz für die fehlende Mutterliebe war. Sie erzog die Kinder streng im katholischen Glauben, lehrte sie die französische Sprache, machte sie mit der französischen Literatur vertraut. Für Georg ist diese französische Gouvernante ein unermesslicher Gewinn. Sie macht ihn mit den Dichtern Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire bekannt. Sie prägen sein Dichtertum. Auch bei Alexander Puschkin war es ähnlich. Er wurde nicht von seiner leiblichen Mutter umsorgt und gehütet, sondern von seiner Amme, einer Russin. Diese Amme war nicht nur für ihn Mutter-Ersatz, sondern für ihn die Bezugsperson, die er liebte. Puschkin erhielt eine standesgemäße Ausbildung, aber seine Liebe zur russischen Sprache empfing er von ihr, seiner Amme. Seine berühmten Dichtungen verfasste er alle in Russisch. Der alte Mann muss an Brecht denken, an den kaukasischen Kreidekreis. Der weise Richter spricht nicht der leiblichen Mutter das Kind zu, sondern der Frau, die sich wie ein leibliche Mutter um ihr nicht leibliches Kind gesorgt hatte. Der alte Mann erinnert sich: Als Schüler der Erweiterten Oberschule hatte er im Fach Deutsche Literatur einen Vortrag über Brecht und dessen Werk „Der kaukasische Kreidekreis“ gehalten. Eine ganze Unterrichtsstunde füllte er mit seinem Beitrag aus, errang damit nicht nur eine sehr gute Note, sondern vor allem Anerkennung als Redner.
Der alte Mann folgt den Spuren, den Wegen des Dichters Georg Trakl. Er würde sich nicht wundern, wenn der junge Mann, der künftige Dichter, um eine Straßenecke biegt und unvermutet, rein zufällig vor ihm steht. Vielleicht befindet er sich gerade auf dem Nachhause-Weg vom Gymnasium. Das humanistische Staatsgymnasium in Salzburg ist für ihn eine Belastung. Es raubt ihm die Zeit, die er für seine Dichtungen benötigt. Er verlässt das Gymnasium ohne Matura 1905, experimentiert in dieser Zeit erstmals mit Drogen. Drogen werden ihn sein weiteres Leben begleiten. Eine dreijährige Ausbildung nimmt er 1905 in der Salzburger Apotheke „Zum weißen Engel“ in der Linzergasse auf. Der alte Mann überquert die Salzach über die Staatsbrücke, schon befindet er sich in der Linzergasse in der Rechten Altstadt am Fuße des Kapuzinerbergs. Während der Regierungszeit der Fürst-Erzbischöfe war sie die wichtigste Verkehrsader zwischen Salzburg und Linz. Hier mitten in der belebten Altstadt erlernte Georg das Apotheker-Handwerk. Für ihn bot es gleichzeitig den Vorteil, dass er schnell und leicht an die Drogen gelangen konnte. Seine beiden Theaterstücke „Totentag“ und „Fata Morgana“, zwei Einakter, wurden im Salzburger Stadttheater uraufgeführt, bescherten ihm keinen Erfolg, stürzten ihn in eine Schaffenskrise, ließen seinen Drogen-Konsum rapide ansteigen. Nach Beendigung seiner Ausbildung zum Apotheker beginnt er das Studium der Pharmazie in Wien. Gedichte von ihm werden nun auch in Zeitungen außerhalb Salzburgs gedruckt. Finanzielle Schwierigkeiten kommen nach dem Tod des Vaters auf die Familie zu. Der alte Mann hat es immer geahnt, jetzt weiß er es, der Vater war das Zentrum der Familie, regelte und ordnete das Alltagsleben, gewährte der Familie diesen hohen Lebensstandard. Nachdem Georg den akademischen Grad Magister der Pharmazie erworben hat, nimmt er seinen Militär-Dienst bei einer Sanitätsabteilung in Wien als Einjährig-Freiwilliger auf. Depressionen quälen ihn. Er betäubt sie mit Drogen. Wie die Literaturwissenschaftler später herausfinden, gelingt ihm in dieser Zeit der Durchbruch als Dichter. Seine schwermütige Lyrik ist voller Musikalität. Nach seinem Militär-Jahr als Freiwilliger unternimmt er den Versuch, sich eine Existenz als Apotheker in Innsbruck aufzubauen, scheitert aber. Ein Jugendfreund vermittelt Georg Kontakte zu führenden Literaten. Seine Gedichte erscheinen regelmäßig in renommierten Zeitungen und Zeitschriften. Er findet Eingang in die Literatur- und Künstlerszene Österreichs. Er lernt Karl Kraus, Oskar Kokoschka und Adolf Loos kennen. Seine Ängste, seine Depressionen nehmen zu, gipfeln in Panik-Attacken. Er meidet fremde Menschen, hat Angst vor ihnen. Seine kontinuierlichen Rausch-Zustände versetzen ihn in ein Leben zwischen Euphorie und Betäubung.
Der alte Mann denkt einen Augenblick nach. Hat nicht auch Paracelsus im letzten Jahr vor seinem Tod in der Linzergasse gewohnt? Einen tollen Namen hatte dieser Arzt und Wissenschaftler. Er hieß Theophrastus Bombastus von Hohenheim. Schon einmal hatte sich Paracelsus in Salzburg aufgehalten. Das war im Jahre 1525 gewesen, während der Bauernkriege. Er sympathisierte mit den Bauern. Nur mit Schwierigkeiten konnte er sich der Obrigkeit entziehen. Heimlich flüchtete er aus der Stadt. Auf dem Sebastians-Friedhof bei der Sebastians-Kirche wurde er begraben. Der alte Mann überlegt. Vielleicht stattet er ihm noch einen Besuch ab. Momentan beschäftigt ihn der Dichter Georg Trakl. Eine Position als Militärmedikamenten-Beamter quittiert er nach wenigen Wochen. Ruhelos, wie ein Getriebener reist er auf der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle und nach Verlagen für seine Gedichte zwischen Salzburg, Innsbruck und Wien hin und her. Wie ein Besessener arbeitet er an seinen Gedichten, veröffentlicht seinen zweiten Gedichtband „Sebastian im Traum“. 1914 im August bricht der Erste Weltkrieg aus. Trakl findet als Militär-Apotheker in der Armee Verwendung, erlebt und überlebt die Schlacht bei Gródek, wird zum Sanitätsleutnant befördert. Georg erkennt, dass er den Verwundeten kaum helfen kann. Diese bittere Erkenntnis stürzt ihn in Verzweiflung, Er wird Augenzeuge, als 13 Ruthenen vor dem Sanitätszelt auf Bäumen gehängt werden. Ein Nervenzusammenbruch erlöst ihn. Kein Ausweg bietet sich ihm. Er will sich erschießen, doch er wird daran gehindert. Er wird in das Militärhospital in Krakau eingeliefert. Er entzieht sich dem Leben, indem er eine Überdosis Kokain nimmt.
Der alte Mann bleibt vor einer Tafel mit einem Gedicht von Georg Trakl stehen. Nur wenige Gedichte wurden zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Die Germanisten bewerten seine Gedichte höchst unterschiedlich. Der alte Mann seufzt. Er weiß, die Bewertung von Lyrik ist eine individuelle Angelegenheit. Trotz objektiver Kriterien entscheidet letztlich der persönliche Geschmack. Wenn der Leser keinen Zugang zum Text findet, legt er ihn beiseite, auch wenn die studierten Germanisten den Text als große Kunst bezeichnen. Der alte Mann hat die Vermutung, dass auch Drogenkonsum, die Drogenabhängigkeit Trakls sich auf Form und Inhalt seiner Gedichte ausgewirkt haben, auch wenn diese Feststellung unausgesprochen blieb. In vier Phasen haben die studierten Germanisten, Sprach- und Kulturwissenschaftler seine Schaffensperiode aufgeteilt. Sehr viel Kluges haben sie geschrieben. Sie gelangten zu dem Ergebnis, dass die vier Phasen fließend ineinander übergehen. Jahrelang hat Trakl an seinen Gedichten gebastelt. Immer wieder feilte er an ihnen, veränderte sie. Er strebte höchste Perfektion an, tauschte Verszeilen aus, erfand neue Sprachbilder, fasste Strophen zu einer neuen Strophe zusammen oder entwickelte aus einer Strophe ein neues Gedicht. Immer wieder untersuchen die studierten, klugen Leute seine Gedichte, inwieweit der sprachliche Einfluss der französischen Dichter Verlaine, Baudelaire und Rimbaud sich in ihnen widerspiegelt, immer wieder suchen sie für ihn nach sprachlichen Vorbildern.
Der alte Mann überquert eine Fußgänger-Brücke. Sie heißt der Traklsteg. In Innsbruck gibt es einen Traklpark, eine kleine Grünfläche am Inn. Oft soll Trakl sich dort aufgehalten haben.
Der alte Mann hält inne, verweilt einen Augenblick, denkt nach, setzt seinen Weg fort. Unvermittelt steht er vor dem Geburtshaus von Wolfgang Amadeus Mozart. Viele Male hat er das Museum in der Getreidegasse Nummer 9 besucht. Hier verbrachte Mozart seine Kindheit und Jugend. Wieder stehen vor dem Haus Reisegruppen aus aller Welt. Das Geburtshaus zieht nicht nur als Museum viele Mozart-Fans aus aller Welt an, sondern es ist auch eine Pilgerstätte, ein Wallfahrtsort, der auf dem Programm jeder Reisegesellschaft steht, die als eines ihrer Reiseziele Salzburg angibt. Diesmal verzichtet er auf einen Rundgang durch die Wohnräume, in denen Mozart gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester Nannerl gelebt hat. Die original rekonstruierte Wohnung gewährt einen Einblick in die Zeit des Komponisten, vermittelt das Gefühl, das die Familie gerade jetzt nicht zu Hause ist, vielleicht sich auf einer der vielen Reisen befindet. Der Besucher lernt die spannende Lebensgeschichte eines Mannes kennen, der als Wunderknabe gefeiert wurde, zeitlebens auf Reisen war, einen mysteriösen Tod starb. Ihm fällt die Künstler-Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“ von Eduard Mörike ein, die zu seiner Lieblingslektüre als Kind und Jugendlicher gehörte. Er erinnert sich, damals wurde ihm in der Schule gelehrt, dass Mozart arm wie eine Kirchenmaus gewesen sei. Später erfuhr er, dass Mozart ein Reitpferd besessen habe und das Geld mit vollen Händen ausgegeben hätte. Ihm fiel auf, dass vieles nicht stimmte, was ihm über Mozart gesagt worden war von Leuten, von denen er damals angenommen hatte, sie müssten alles über Mozart, über dessen Leben und über dessen Epoche wissen. Inzwischen ist er zu der Erkenntnis gekommen, dass Mozarts Vater nicht nur ein großer Künstler war, sondern vor allem im Gegensatz zu seinem Sohn ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er vermarktete seine beiden Kinder an den vielen Fürstenhöfen Europas, stellte seine eigene Karriere zugunsten der Karriere seiner Kinder zurück. Überall wurde sein Sohn mit dem Namen Wolferl als Wunderkind gefeiert. Gerade einmal sechs Jahre alt, bereist er Westeuropa, lernt Frankreich, Belgien, Deutschland, England kennen. In Italien vervollkommnet er sein musikalisches Können, zumindest wird das von Leuten erwähnt, die vorgeben es zu wissen. Mit dem Fürstbischof, der weltlicher und geistlicher Herrscher von Salzburg ist, hat Mozart in seiner Position als Hoforganist wiederholt Probleme, weicht nach Wien aus, bemüht sich eine Existenz als freiberuflicher Künstler aufzubauen. Er ist nicht alt geworden, gerade einmal 35 Jahre. Und was hat sich seitdem alles ereignet?
Der alte Mann steht an der Salzach. Ihm gegenüber auf der anderen Seite am Rand der Stadt erhebt sich der Kapuzinerberg. Die Sonne scheint. Es ist früh am Tage, noch Zeit, den Berg hinauf zu wandern. Dort oben irgendwo hatte Stefan Zweig seine Residenz, dort verbrachte zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg einen Großteil seines Lebens. Bevor er Stefan Zweig kennen lernte, war er schon längst Arnold Zweig in der Schule begegnet, musste den Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ lesen. Das Buch gehörte zur Pflichtlektüre. In vielen Deutschstunden wurde über den Inhalt des Buches diskutiert. Vor einiger Zeit hatte er irgendwo in einer Zeitschrift gelesen, dass das Buch einen militärischen Justizmord am Ende des Ersten Weltkrieges zum Inhalt hat. Da war zu lesen, dass dieser Roman die Konfrontation zwischen säkularisiertem Judentum und ostjüdischer Frömmigkeit zum Inhalt hat. Von der Auseinandersetzung zwischen aufgeklärter preußischer Tradition und wilhelminischem Kadavergehorsam war die Rede. Der Roman ist ein Spiegelbild des Zusammenbruchs des deutschen Kaiserreiches. Stilistisch betrachtet gehöre es zwischen die Literaturströmungen des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Soweit er sich erinnern kann, war von all dem eben Gesagten in der Schule nicht die Rede. Auch blieb unerwähnt, dass Arnold Zweig Jude war. Ihm wurde gelehrt, dass Arnold Zweig wie so viele progressive Künstler aus dem Exil nach Ost-Berlin zurückgekehrt war. Er wurde als sozialistischer Schriftsteller in der DDR geehrt. Seine Werke waren untrennbarer Bestandteil des sozialistischen Realismus. Viele Auszeichnungen erhielt er, auch den Nationalpreis der DDR 1. Klasse. Er war Abgeordneter der Volkskammer der DDR, war Präsident der Deutschen Akademie der Künste der DDR, gehörte dem Kulturbund an. Sein Name hatte Gewicht in der DDR. Er war einer der führenden Repräsentanten der sozialistischen Kultur und Kunst in der DDR wie Johannes R. Becher, der als erster Minister für Kultur in der DDR in die Literaturgeschichte der DDR eingegangen ist.
Von Stefan Zweig hatte der alte Mann als Jugendlicher nichts gehört. Dieser Schriftsteller war ihm völlig unbekannt. Ein ehemaliger Mitschüler, mit dem er näher befreundet war, der aber gemeinsam mit den Eltern in den Westen gegangen war, hatte ihm zum Geburtstag ein Buch als Geschenk geschickt. Es hieß „Sternstunden der Menschheit“. Die Geschichte „Der Kampf um den Südpol“ hat er bis heute nicht vergessen. Obwohl Stefan Zweig im Gegensatz zu Arnold Zweig nicht als Verfasser von Pflichtliteratur auf der Literaturliste vermerkt war, lieh er sich Bücher von ihm in der Stadtbibliothek aus. Und jetzt begegnet er ihm in Salzburg. In dieser Stadt hat Stefan Zweig viele Jahre seines Lebens verbracht. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg kehrte Stefan Zweig nach Österreich zurück, lebte in seinem Haus am Kapuzinerberg. Die nationalsozialistische Bedrohung entging dem Schriftsteller nicht, denn für Hitler war auf dem Obersalzberg seine für ihn heile Welt errichtet worden. Dort, umgeben von der Natur in luftiger Höhe, konnte er in idyllischer Umgebung über seine Pläne nachdenken, auf Salzburg herab blicken. Stefan Zweig hatte den Führer der Nationalsozialisten geradezu in Reichweite. Er vertrat den Gedanken eines geistig geeinten Europas, war in gewisser Weise seiner Zeit voraus, indem ihm eine Art Europäische Union in seinen Vorstellungen vorschwebte, die in unserer Zeit von Politikern realisiert wird. Er wandte sich gegen Nationalismus, Chauvinismus und Revanchismus. Als die Nationalsozialisten 1933 im Deutschen Reich die Macht übernahmen, war deren Einfluss auch in Österreich sichtbar. 1934 führte die Polizei eine Hausdurchsuchung in seinem Anwesen auf dem Kapuzinerberg durch. Er war denunziert worden wegen illegalen Waffenbesitzes. Der Pazifist Stefan Zweig nahm diese Drohung sehr ernst, ahnte das sich bereits abzeichnende Unheil, zögerte nicht länger und nahm zwei Tage später den Zug, emigrierte nach London. Seine Bücher durften in Deutschland nicht mehr erscheinen, standen auf der Liste der Bücherverbrennung. Er erlitt als Autor ein ähnliches Schicksal wie Arnold Zweig. Ihre Bücher wurden vernichtet, öffentlich verbrannt. Sie wurden gezwungen Deutschland zu verlassen, verloren ihre Existenzgrundlage. Beide stammten aus dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. In Glogau in der Provinz Schlesien wurde Arnold Zweig 1887 geboren, Stefan Zweig 1881 in Wien. Arnold Zweig verstarb 1968 hoch geehrt in Ost-Berlin, Stefan Zweig setzte 1942 in Petrópolis in Brasilien seinem Leben freiwillig ein Ende. Was ist von ihnen geblieben? Ihre Bücher werden wieder gedruckt, sind Bestandteil einer jeden Buchhandlung. In Salzburg erinnert ein Stolperstein auf dem Kapuzinerberg 5 an Stefan Zweig und eine Büste, die 1983 auf dem Kapuzinerberg aufgestellt wurde. An Arnold Zweig erinnern sich vielleicht heute viele alte Menschen, denen er damals im Literaturunterricht in der ehemaligen DDR begegnet ist.
Der alte Mann schaut vom Kapuzinerberg hinunter auf Salzburg, auf die Stadt, die er so liebt. Wer hat hier noch gelebt, seine Spuren hinterlassen. An ihn erinnert kein Stolperstein, auch wenn er im Jahre 1526 vielleicht durch die Gassen von Salzburg gestolpert ist, häufig betrunken war, wie Zeitgenossen von ihm behaupteten. Paracelsus hatte zu Lebzeiten viele Neider und viele Feinde, die ihm seine medizinischen Erfolge missgönnten. Auch sprach es nicht für ihn, dass er sich zu den unteren sozialen Schichten hingezogen fühlte. So soll er 1526 für kurze Zeit in Salzburg verhaftet worden sein, weil er Kontakt zu den Bauern hatte, die sich gegen die Herrschaft des Fürstbischofs und anderer Adliger erhoben hatten. Auch als Professor wurde Paracelsus nicht sesshaft. Einst war er ein fahrender Schüler, jetzt ein fahrender Professor. Er wanderte von Stadt zu Stadt, blieb und lehrte, wenn er bleiben und lehren durfte. 1541 hielt er sich erneut in Salzburg auf, bereits vom Tode gezeichnet. Sehr früh war er gealtert. Über seinen frühen Tod waren viele Spekulationen im Umlauf. Es wurde gemunkelt, er sei vergiftet worden, andere behaupteten, er sei erschlagen worden bei einem seiner Saufgelage. Sein Leichnam wurde in Salzburg begraben. Er war keine 50 Jahre alt.
Der alte Mann beschließt seine Reise fortzusetzen. Ein ehemaliger Kollege, jetzt Pensionär mit einer fetten Pension als ehemaliger Berufsschullehrer, hatte ihm empfohlen, eine Bahnkarte zu benutzen, die es ihm erlaubt, mit sämtlichen Zügen für einen Monat quer durch Europa zu reisen. Er ist froh, diesen Vorschlag befolgt zu haben. Für ihn als Regelaltersrentner ist sie erschwinglich. Sein nächstes Reiseziel ist Linz. Die Stadt fasziniert ihn. Nach Wien und Graz ist sie die drittgrößte Stadt Österreichs, liegt an der Donau, hat Theater, Museen und gab der Linzer Torte ihren Namen, deren Rezept, so wird behauptet, das älteste Torten-Rezept der Welt sei.
Er besteigt den Zug nach Wien über Linz, findet einen Fensterplatz in Fahrtrichtung, ist mit sich und der Welt zufrieden. Viele Reisende wählen diesen Zug. Auf den Bahnsteigen ist überall Polizei präsent, führen Stichproben durch, kontrollieren jeden Fahrgast, der als Fremder, damit als Ausländer in Frage kommt. Ein wohlsituierter Herr nimmt ihm gegenüber Platz, betrachtet nachdenklich die Szene, beginnt ein Gespräch. „So viele Fremde überall. Hier bei uns in Österreich überall nur Ausländer! Wohin soll das nur führen? Europa wird von ihnen unterwandert. Bald haben die Fremden Europa voll im Griff, schalten und walten, wie sie wollen. Vor allem in Deutschland sind sie am zahlreichsten. Alle wollen nach Deutschland. Kein Wunder! Die Bundeskanzlerin lädt sie geradezu ein. Es ist nicht zu fassen!“
„Flüchtlinge hat es zu allen Zeiten gegeben“, sagt der alte Mann.
„Aber da kamen die Flüchtlinge aus Europa. Sie sprachen alle Deutsch, waren mit der deutschen Kultur vertraut, zumindest mit den Sitten und Gebräuchen in Europa, gehörten dem katholischen oder evangelischen Glauben an, aber nicht wie die momentanen Zuwanderer dem Islam oder anderen uns exotisch anmutenden Religionen. Schon deren Kleidung ist eine völlig andere, zumindest bei den Frauen. Wenn die total schwarz verschleiert sind, weiß ich nicht, ob unter der Burka sich eine Frau oder ein Mann verbirgt. Und Deutsch sprechen sie alle kaum, die meisten überhaupt nicht. Und Deutsch wollen sie auch nicht erlernen, zumindest die meisten. Sie gehen und kommen zum Unterricht, wann sie wollen. Ich weiß das von meiner Schwiegertochter. Sie ist Deutsch-Lehrerin. Und abschieben lassen sie sich auch nicht! Selbst wenn sie kriminell sind, dürfen sie nicht ausgewiesen werden. Es wird höchste Zeit, dass die Regierungsgeschäfte wieder starke Frauen und Männer übernehmen. So jedenfalls kann es nicht weitergehen. Dann hat sich Österreich abgeschafft, dicht gefolgt von Europa. In Frankreich lebten sowieso schon immer mehr Fremde als Franzosen. Die einzigen sind die ehemaligen Ostblockstaaten, die abblocken, ihre Grenzen dicht machen. Nicht mehr lange und es gibt kein Europa mehr. Keine Europäische Union. Dann sind das Relikte aus der Geschichte.“
„Die Europäer leisten humanitäre Hilfe, sollen humanitäre Hilfe leisten“, sagt die Kanzlerin.
„Dass mit den Flüchtlingen nimmt kein gutes Ende! Selbst die alten Ägypter hatten das schon erkannt. Seit ewigen Zeitgen kamen in der Trockenzeit die Nomaden aus Kanaan, aus Syrien mit ihren Herden nach Ägypten gezogen. Die Ägypter gewährten ihnen die Nutzung des Weidelandes am Nil. Nur bevor Fremde nach Ägypten eingelassen wurden, mussten sie sich ausweisen. Akribisch hielt die ägyptische Administration schriftlich fest, wer ins Land wollte, kontrollierte die Fremden kontinuierlich, ihr Sicherheitsdienst verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Die Ägypter hatten die ausgefeilteste Buchführung zu ihrer Zeit. Und dann passierte es! Aus irgendeinem Grunde waren sie in der Kontrolle oberflächlicher geworden. Dieser Lapsus rächte sich bitter und nachhaltig. Die Hyksos, so werden sie von der Wissenschaft genannt, war ein Volk der Nomaden, das meiner Ansicht aus viele semitischen Stämmen von der arabischen Halbinsel sich zusammensetzte und Ägypten wie ein Heuschreckenschwarm überfiel. Wenn Sie sich für Geschichte interessieren, werden Sie sicher von diesem Volk gehört haben?“ Der fein gekleidete Herr blickt den alten Mann fragend an.
Der alte Mann schaut dem fein gekleideten Herrn fest in die Augen, dann sagt er: „Ich habe von den Hyksos gehört und viel über sie gelesen. In der Geschichte treten sie unter den Namen Hapiru und Hebräer auf. Die Wissenschaft sagt, dass der Name Hyksos Hirtenkönige bedeutet, denn sie besaßen viele Ziegen und Schafe. Im Alten Testament heißt es, dass die Israeliten unter der Bezeichnung Hyksos die Amalekiter meinten, es ist auch in der Wissenschaft die Rede davon, dass sie Amoriter oder Kanaanäer waren, in Syrien und Palästina und auf der arabischen Halbinsel beheimatet gewesen sein sollen. Ich bin überzeugt, dass Abraham so ein Hirtenkönig war. In regelmäßigen Abständen suchten gewaltige Heuschrecken-Schwärme ihr Land heim, fraßen es kahl, lösten eine Hungernot aus. Die Hyksos werden auch Herrscher der Fremdländer genannt, eventuell lebten sie auch auf dem Gebiet von Anatolien, damals von den Hethitern bewohnt. Zumindest waren sie sehr mobil. Es gibt Wissenschaftler, die die Ansicht vertreten, dass die Hyksos aus den Steppen Asiens kamen. Sie sollen Pferde als Reittiere benutzt haben. Alle Wörter, die im Zusammenhang mit dem Pferd und dessen Haltung als Reittier oder als Zugtier vor den Streitwagen existierten, haben ihren Ursprung in der Sprache der Hyksos. Wenn sie in fremde Ländereien zogen, nutzten sie immer die gleiche Methode, sie trieben ihr Vieh vor sich her. So hatten sie es auch immer wieder in Ägypten praktiziert. Die Hyksos, nomadisierende Asiaten, waren nach Ägypten gekommen und wieder gegangen, nun aber fielen sie wie Heuschrecken-Schwärme in Ägypten ein und blieben. Vielleicht ist es die Zeit von Joseph und seinen Brüdern, in der in der Bibel berichtet wird. Dieses Thema hat ausführlichst Thomas Mann behandelt. Vier Bände benötigte er. Nicht einen habe ich gelesen. Richtiger muss es heißen, mit dem ersten Band habe ich begonnen, ihn dann irgendwann aus der Hand gelegt, für immer.“
„Äußerst interessant“, sagt der feine Herr. „Ich habe den Eindruck, Sie interessieren sich für Geschichte. Ich muss gestehen, Thomas Mann ist sehr anspruchsvoll, stellt höchste geistige Anforderungen an den Leser, deshalb ist er nicht jedermanns Geschmack.“
Der alte Mann verzichtet auf eine Antwort. Mitunter fürchtet er seine eigene Zunge. Sie kann sehr spitz und scharf sein.
Sein Gegenüber erhebt sich, knickt ihm wohlwollend lächelnd zu und sagt „Es war wirklich sehr amüsant und erfrischend mit Ihnen zu plaudern.“
Der Zug hält in Wels.
Nicht das erste Mal weilt der alte Mann in dieser Stadt, nur damals war er jünger und auch besser zu Fuß. Bei seinem Rundgang durch Linz zieht eine Gedenktafel die Aufmerksamkeit auf sich. Sie erinnert an Richard Tauber. Er gehörte zu den Lieblingssängern seiner Mutter. Von ihr auch weiß er, dass der Richard Tauber wie auch sie selbst ein uneheliches Kind war. Eigentlich hieß er Richard Denemy. Seine Mutter war eine Sängerin, ständig auf Tourneen. Sein Vater war ein zum römisch-katholischen Glauben konvertierter jüdischer Schauspieler, später Opern-Intendant in Chemnitz. Als sein leiblicher Sohn bereits erwachsen war und als Sänger auftrat, adoptierte er ihn. Richard wuchs in Linz bei Pflege-Eltern auf, besuchte dort die Schule. Später zog er zu seinem Vater nach Wiesbaden, der sich um die Ausbildung seines Sohnes kümmerte. Richard Tauber bekannte sich zum Katholizismus, konnte nicht begreifen, dass die Nationalsozialisten ihn als Juden verfolgten, nur weil seine Großeltern väterlicherseits sich zum praktizierten Judentum bekannten. Unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers wurde Richard Tauber in Berlin von einem SA-Trupp als Jude beschimpft, angegriffen und verprügelt. Er war ein gefragter Sänger, gastierte an vielen Theatern, erhielt erste Engagements in London und New York. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich emigrierte Richard Tauber während einer Welttournee nach Großbritannien und verblieb dort bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit dem Komponisten Franz Lehár war er eng befreundet. Der Komponist schrieb Operetten, deren Lieder er eigens für Richard Tauber wie ein Maßschneider anfertigte. In Großbritannien hatte Tauber mit seiner Operette „Old Chelsea“ großen Erfolg. Er war auch als Dirigent beim London Philharmonic Orchestra tätig und ihm wurde die britische Staatsbürgerschaft verliehen. Mit 56 Jahren starb er an Lungenkrebs, erhielt ein Ehrengrab in London.
Der alte Mann denkt nach. Neben Richard Tauber zählten zu Mutters Lieblingssängern Rudolf Schock und Joseph Schmidt. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass der Rudolf Schock aus ganz einfachen Verhältnissen stammte. Der Vater war Arbeiter gewesen und früh verstorben. Die Mutter arbeitete als Putzfrau und Garderobenfrau am Stadttheater Duisburg. Er und seine Geschwister, die alle Berufssänger wurden, unterstützten die Mutter finanziell. Er hatte das immer als Kritik empfunden.
Ihr liebster Sänger war aber Joseph Schmidt. „Ein Lied geht um die Welt“ sang seine Mutter, wenn sie glücklich war. Nur fühlte sich seine Mutter selten glücklich. Ein Lied geht um die Welt heißt ein deutscher Film aus dem Jahre 1933, hat das Leben des Sängers zum Inhalt. Unmittelbar vor der Bücherverbrennung hatte der Film seine Premiere. Unter den Premieren-Gästen befand sich auch Joseph Goebbels. Er verehrte den Sänger, beabsichtigte ihn zum „Ehrenarier“ zu befördern. Joseph Schmidt floh einen Tag nach der Uraufführung wie der Regisseur Richard Oswald. Seine Mutter wusste auch über Joseph Schmidt Bescheid. Er stammte aus der Bukowina, aus einem Ort, der heute zur Ukraine gehört, damals noch zu Österreich-Ungarn, nach dem ersten Weltkrieg zu Rumänien. Er war von äußerst kleinem Wuchs, mit 154 cm noch kleiner als Napoleon Bonaparte, der es auf 159 cm brachte. Deshalb blieb Joseph Schmidt eine Karriere als Opernsänger verwehrt, er ging auf zahlreiche Tourneen rund um die Welt, sang beim Rundfunk, wurde als Jude 1942 in der Schweiz in ein Internierungslager eingewiesen. Dort starb er an Herzversagen. Auf dem Israelitischen Friedhof in Zürich ist sein Grab.
Eine äußerst enge Beziehung zu Linz hatte Adolf Hitler. Für Hitler war es seine Heimatstadt. Dort war er zur Schule gegangen. Linz sollte nach dem Krieg Hauptstadt des Großdeutschen Reiches werden. Diese Information hatte der alte Mann Artikeln und Büchern entnommen, glaubt er sich zu entsinnen. Hitler plante für Linz einen Theater-Neubau, der bereits vor dem ersten Weltkrieg vorgesehen war, aber nicht verwirklicht werden konnte. Hitler, der eigentlich Künstler werden wollte, hatte dafür in seiner Jugend Zeichnungen geschaffen. Am Ufer der Donau sollte dieser Monumentalbau entstehen. Als Kulisse diente ihm Budapest als Vorbild. Ein deutsches Budapest sollte sein Linz werden. Hitler hielt sich auch während des Krieges mehrere Male in Linz auf. In seinem Führerbunker ließ er sich das Modell mit dem von ihm gewünschten neu errichteten Linz aufstellen, betrachtete es stundenlang, in Gedanken versunken, zeigte es seinen Besuchern. Es gibt nicht wenige Bücher über Hitler. Eines hat sein Freund August Friedrich Kubizek über ihn geschrieben mit dem Titel „Adolf Hitler – mein Jugendfreund“. Der alte Mann hat das Buch nicht gelesen, dafür das von Brigitte Hamann „Hitlers Wien“. Hitler, nur wenige Monate jünger als Kubizek, verband die Liebe zum Theater mit diesem fast Gleichaltrigen, vor allem die Musik von Richard Wagner. Hitler überzeugte Kubizeks Vater, seinen Sohn in Wien am Konservatorium Musik studieren zu lassen. Kubizek arbeitete später als Kapellmeister an verschiedenen Theatern, gratulierte 1933 seinem Freund aus Anlass zu dessen Ernennung zum Reichskanzler, war persönlicher Gast seines Freundes zu den Wagner Festspielen in Bayreuth. Das Buch von Kubizek wird höchst unterschiedlich in der Öffentlichkeit bewertet, auch in Bezug auf die Bedeutung für die historische Forschung. Einige behaupten, dass das, was der Autor über seinen Freund Hitler sagt, alles erlogen sei, andere schätzen Kubizek als glaubwürdigen Zeugen ein und vertreten die Ansicht, das vieles, was Kubizek verkündet, der Wahrheit entspricht. In Zweifel wird die Behauptung Kubizeks gezogen, dass Hitler während ihrer Jahre in Linz und Wien bereits Antisemit war. In Wien hatte Hitler viele jüdische Freunde. Einer von ihnen verkaufte sogar die von ihm angefertigten Bilder. Hitler soll zu diesem Zeitpunkt ein zurückhaltender, scheuer, in sich gekehrter Mensch gewesen sein. Es wird auch die Vermutung geäußert, dass Kubizek, der dem Österreichischen Antisemiten-Bund sich 1908 angeschlossen hatte, später in seinem Buch behauptete, seinen eigenen selbstständigen Eintritt nachträglich auf Hitlers Vermittlung vorgenommen zu haben, um bereits dem jungen Hitler den Anschein zu geben, er wäre schon zu diesem Zeitpunkt Antisemit gewesen. Der alte Mann weiß nur, dass sehr viel über Adolf Hitler geschrieben wurde und noch immer geschrieben wird. Es ist nicht leicht, die Wahrheit von der Lüge zu trennen, zumindest hat es Hitler geschafft, Eingang in die Weltgeschichte zu finden, wenn auch mit äußerst negativen Bewertungen.
Der alte Mann entscheidet sich noch für einen Besuch in das Adalbert-Stifter-Museum, bevor er seine Reise fortsetzt. Das Museum befindet sich im Zentrum, nicht weit von der Donau entfernt. Er ist der einzige Besucher. Vor Jahren hatte er schon einmal dieses Haus besucht. Ungestört kann er sich umsehen, alles in Ruhe betrachten. Nicht weit von Linz entfernt wurde der Schriftsteller, Maler und Pädagoge in Oberplan in Böhmen geboren. Damals gehörte Oberplan, in Südböhmen gelegen, zu Österreich, heute befindet es sich in Tschechien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Tschechoslowakei gegründet. Das Selbstbestimmungsrecht der deutschsprachigen Bevölkerung wurde von den Siegermächten ignoriert und damit auch die Existenz der eigenständigen Provinzen Deutsch-Böhmen und Sudeten-Land. Im Sudeten-Land waren die Deutsch-Böhmen und Deutsch-Mährer zu Hause gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen vertrieben, ihr Vermögen wurde laut der Beneš-Dekrete konfisziert. Auch die Deutschen aus Oberplan mussten ihr Land verlassen, das hatte einen erheblichen Rückgang der Bevölkerung zur Folge. Der alte Mann überlegt, ob er Oberplan einen Besuch abstattet. Das Geburtshaus des Dichters ist heute Museum. Es ist das Haus Motzl am Rand des Ortes Oberplan in Südböhmen, an der Moldau gelegen. Heute heißt der Ort Horni Plana. Die Wissenschaftler nehmen an, dass das Haus schon um 1600 errichtet worden ist. Um 1670 wird ein Matthias Stifter als erster urkundlich belegter Besitzer erwähnt. In diesem Haus wurde 1805 Adalbert Stifter geboren. Diese Landschaft mitten im Böhmerwald ist eine heile Welt mit der Wallfahrtskirche oberhalb des Ortes. Diese Welt der Abgeschiedenheit und Stille findet der Leser als Kulisse in den Büchern des Schriftstellers, der auch Maler und Pädagoge war. Diese Gedenkstätte an Adalbert Stifter ist das Werk von tschechischen Experten. Sie gaben dem Museum den Namen „Adalbert Stifter und seine Heimat“. Wer ist eigentlich Adalbert Stifter? Der alte Mann erinnert sich. Als er Germanistik-Student war, hörte er seinen Namen in Vorlesungen. Sein Name fiel im Zusammenhang mit der Epoche des Biedermeier. Eingeordnet wurde er als österreichischer Schriftsteller. Das erste Mal erwähnte seine Mutter diesen Namen. Wie seine Mutter war er Leser der Stadtbibliothek. Seine Mutter hatte ihm Schriftsteller empfohlen. Wilhelm Raabe, Peter Rosegger, Theodor Storm, Eduard Mörike, Joseph von Eichendorff, Theodor Fontane. Für Stifter waren als Student seine dichterischen Vorbilder Goethe, Herder und Jean Paul. Mit den Frauen hatte Stifter wenig Glück. Entweder verschmähten sie ihn oder ruinierten ihn finanziell wie seine Frau Amalia, die als verschwendungssüchtig beschrieben wird. Stifter selbst empfand seine Ehe mit Amalia als eine glückliche. Sie kümmerte sich um ihn, wenn er krank war, versorgte und pflegte ihn. Über 30 Jahre waren sie verheiratet.
Der alte Mann lässt sich viel Zeit für die einzelnen Räume. In Stifters Arbeitszimmer betrachtet er ausgiebig die Porträts des Schriftstellers und das von seiner Frau Amalia Mohaupt. Viele Stunden hat er im Museum verbracht, als er sich entschließt zu gehen. Es ist spät. Er will nicht im Museum übernachten. Der alte Mann weiß jetzt, dass Stifter leidenschaftlich gern aß und trank. Sechs reichliche Mahlzeiten nahm er täglich zu sich. Verglichen mit Stifter ist der alte Mann ein schlechter Esser. Ihm war auch nicht bekannt, dass der Dichter seinem Leben selbst eine Ende bereitete. Sein Suizid wurde auf der Todesurkunde nicht vermerkt, da Selbstmörder zu Stifters Zeiten nicht auf dem Friedhof begraben werden durften.
Der alte Mann steht vor dem Wohnhaus von Johannes Kepler. Eine Gedenktafel über der Haustür macht darauf aufmerksam. Rechts neben der Tür befindet sich eine weitere Tafel mit Hinweisen. Das Gebäude wird heute als Bildungshaus genutzt. Die Universität in Linz trägt seinen Namen. An dieser Bildungseinrichtung war Kepler von 1612 bis 1626 als Professor tätig. Das Haus wurde 2008 renoviert. Im ersten Stock erwartet der als „Kepler Salon“ bezeichnete Veranstaltungsraum sein Publikum. Es ist eine Bildungseinrichtung, die dem breiten, aber interessierten Publikum den Zugang zu den unterschiedlichen Wissenschaften ermöglicht.
Kepler musste Linz verlassen, weil er sich als Protestant weigerte, Katholik zu werden. Sein Leben verlief unruhig. Seine Mutter wurde als Hexe diffamiert, gefoltert und eingekerkert. Unter größten Schwierigkeiten gelang es ihm, ihre Freiheit zu erlangen. Mit seinen Kindern aus erster und zweiter Ehe musste er aufgrund seiner Tätigkeit häufig umziehen. Seine erste Frau verstarb in Linz. Sein beruflicher Werdegang führte ihn von Graz in der Steiermark nach Prag. Für Wallenstein war er als astrologischer Berater tätig. Aus dem Raum Stuttgart stammte er, studierte in Tübingen Theologie am Evangelischen Stift, übernahm eine Stelle als Mathematiker an der Evangelischen Stiftsschule in Graz, wurde Kaiserlicher Hofmathematiker in Prag. Immer wieder war er auf der Flucht vor den ständig zunehmenden religiösen und politischen Spannungen, versuchte ihnen auszuweichen. Er akzeptierte eine Position als Mathematiker in Linz, verließ Böhmen. Wieder hatte er Probleme mit den evangelischen und protestantischen Entscheidungsträgern. Er flüchtete nach Ulm. Eine Professur in Rostock konnte er nicht realisieren. Bei einem Aufenthalt in Regensburg starb er mit 58 Jahren.
Der alte Mann setzt seine Reise fort. Obwohl er sich dort oft aufgehalten hat, zieht es ihn immer wieder in sein geliebtes Prag. Er liebt die Stadt an der Moldau, die Altstadt, die Burg und Umgebung. Er wandert durch die Gassen, will mit eigenen Augen sehen, was sich verändert hat.
Zlatá Praha – Goldenes Prag!
Wer hat hier nicht alles gelebt? Namen von Schriftstellern fallen ihm ein: Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Berta von Suttner, Franz Kafka, Max Brod, Egon Erwin Kisch, Jaroslav Hašek …
Unvermittelt fällt ihm der Schwejk-Stoff ein, der zahlreiche Male erfolgreich verfilmt und für das Theater und den Hörfunk bearbeitet wurde. Gleichzeitig entsinnt er sich, dass er irgendwann in seiner Jugend irgendwo gelesen hat, dass der Autor sein Werk „Der brave Soldat Schwejk“ im Selbstverlag herausbrachte, weil kein Verlag sich für das Buch finden ließ. Und heute gehört es zur Weltliteratur. Interessant, wie sich die studierten Literaturwissenschaftler, Verleger, Lektoren irren können. Der Autor selbst ist die reale Personifizierung seiner Kunstfigur und hat ein ähnliches, nicht langweiliges, mit vielen Überraschungen gesegnetes Leben geführt. Im Ersten Weltkrieg diente er in der kaiserlich und königlichen Armee des Vielvölker-Staates Österreich-Ungarn. Er gehörte dem Böhmischen Infanterie-Regiment „Freiherr von Czibulka“ und war an der Ostfront eingesetzt. Ohne Gegenwehr ließ er sich von den Russen überrennen mit dem Ziel, von den Russen gefangen genommen zu werden. Er trat in die tschechische Legion ein, später in die Rote Armee. 1918 wurde er Mitglied der kommunistischen Partei Russlands, übte die Funktion des politischen Kommissars aus. Mit seiner russischen Frau ging er 1920 zurück nach Prag. Zu diesem Zeitpunkt war er noch mit seiner ersten Frau Jarmila formal-juristisch verheiratet. Während des Krieges erkrankte er an Tuberkulose. Wie sein Vater starb er an einer Alkoholvergiftung. 39 Jahre war er jung.
In Prag war auch Franz Werfel zu Hause. Bei ihm finden sich folgende Angaben in Bezug auf Geburtsdatum und Geburtsort. Er wurde am 10. September 1890 in Prag im Königreich Böhmen in Österreich-Ungarn geboren. Er ist ein österreichischer Schriftsteller jüdischdeutsch-böhmischer Herkunft. Er gehörte dem lyrischen Expressionismus an. Der alte Mann kennt von ihm nur den Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Als Jugendlicher war er begeistert von diesem Roman. Noch immer ist das Thema aktuell. Erdogan bestritt und bestreitet noch immer den Krieg mit den Armeniern und dessen Folgen. Für Erdogan existiert dieser Krieg nicht. Auf dem Schiller-Platz in Wien gibt es seit dem Jahre 2000 ein armenisches Werfel-Denkmal. In einen Granit-Pfeiler sind die Worte verewigt „In Dankbarkeit und Hochachtung. Das armenische Volk.“ Die armenische Staatsbürgerschaft wurde ihm 2006 verliehen – eine späte Auszeichnung. Werfel war mit Alma Margaretha Maria Schindler verheiratet. In den Augen des alten Mannes sammelte Alma in ihrer sozialen Funktion als Ehepartnerin Persönlichkeiten der Kunst-, Musik-, Literaturszene wie andere Briefmarken. Sie war mit dem Komponisten Gustav Mahler, mit dem Architekten Walter Gropius und mit dem Schriftsteller Franz Werfel verheiratet. Sie war die Geliebte des Malers Oskar Kokoschka und vieler anderer prominenter Persönlichkeiten. Sie verwandelte ihr Haus in einen Salon für Künstler, unabhängig davon, ob in Wien, Los Angeles oder New York. Sie selbst trat kaum als Künstlerin in Erscheinung. Bücher wurden über sie geschrieben. Werfel führte eine glückliche Ehe mit ihr, zumindest sagte er das immer wieder.
Der alte Mann schlendert durch die Altstadt. Überall begegnet er der Geschichte dieser einzigartig schönen Stadt. Vor einer Buchhandlung bleibt er stehen, wirft einen Blick auf die Bücher, die geschmackvoll ausgelegt, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch Bücher von ihm liegen aus, in tschechisch und deutsch. Gedichte sind es. Eigentlich heißt Rainer Maria Rilke René Karl Wilhelm Josef Maria Rilke. 1875 wurde er in Prag geboren, deshalb ist er von Geburt ein Österreicher wie alle, die vor Ende des Ersten Weltkrieges in der Donau-Monarchie zur Welt kamen. Vor allem sein umfangreicher Briefwechsel ist für die Literaturwissenschaft eine Pfund-Grube. Das Verhältnis zwischen Mutter und ihrem einzigen Sohn war problematisch. Sie sah in ihm das Bild ihrer geliebten Tochter, die älter als der kommende Dichter, frühzeitig verstorben war. Ihr Sohn sollte ihre Tochter ersetzen, ihre Rolle einnehmen. Sie kleidete ihn als Mädchen. Lange Haare und schöne Kleider sollten den mädchenhaften Zustand noch unterstreichen. Sie gab ihm den Namen René für der Wiedergeborene im Französischen.
Dem alten Mann ist klar, dass eine solche Erziehung und Behandlung nicht förderlich für den Jungen war, der offensichtlich sehr sensibel und feinfühlig war, sich von anderen Jungen charakterlich unterschied. Seine Mutter, Tochter einer begüterten Prager Fabrikantenfamilie, war ein anspruchsvolles, sorgenfreies Leben gewohnt, das sie nicht in der Ehe mit Rilkes Vater fand, der nach einer missglückten Karriere beim Militär als Bahnbeamter sein Auskommen suchte. Sein Einkommen wird nicht so gewesen sein, dass es den Vorstellungen der Mutter gerecht wurde und ihrem gesellschaftlichen Stand auch nur annähernd gemäß war. Da die Hoffnungen auf ein ihrer Herkunft entsprechendes Leben sich nicht erfüllte, ließ sie sich 1884 scheiden, da war ihr gemeinsamer Sohn gerade einmal neun Jahre alt. Der verträumte und begabte Junge, der Verse schrieb und schön zeichnen konnte, wurde auf eine Militär-Realschule in St. Pölten geschickt, um sich dort auf eine Offizierslaufbahn vorzubereiten. Der militärische Drill versetzten den Jungen in einen traumatisierten Gesundheitszustand und fügten seiner zarten Psyche emotionale Verletzungen bei, die ihn seelisch und körperlich schwächten, zu Krankheiten führten. Nach sechs Jahren durfte er seine militärische Ausbildung beenden. Er durfte seine Ausbildung an der Handelsakademie in Linz fortsetzen, die er wegen einer nicht standesgemäßen Liebesbeziehung zu einem älteren Kindermädchen nicht freiwillig beenden musste. Eine sozial abgesicherte Laufbahn beim Militär oder in der Wirtschaft war nunmehr für ihn verschlossen. Er kehrte nach Prag zurück, durfte sich bei Privatlehrern auf das Abitur vorbereiten, bestand es und nahm ein Studium der Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie an der Karls Universität auf, das er später an der Ludwig-Maximilians-Universität München fortsetzte. Wieder verliebte sich Rilke in eine ältere, diesmal verheiratete Frau, die viel in der Welt herumgekommen war. Es ist die Intellektuelle und Schriftstellerin Lou Andreas Salomé.
Der alte Mann setzt sich auf eine Bank, denkt nach. Den Namen dieser Frau hat er im Zusammenhang mit berühmten Intellektuellen häufig gehört. Wer ist diese Frau? Er muss sich konzentrieren. Ihre Biografie ist ihm nicht unbekannt. Er muss nur ordnen, was zu was gehört. In St. Petersburg wurde sie geboren. Wann? Er überlegt. 15 Jahre älter als Rilke war sie. Dann muss es 1861 etwa gewesen sein. Sie entstammt einer deutsch-russischen Familie, in der Deutsch, Russisch und Französisch gesprochen wurde. Ihr Vater war ein Nachkomme südfranzösischer Hugenotten, war aber in Russland aufgewachsen, hatte mit großem Erfolg eine militärische Laufbahn eingeschlagen, gehörte dem Generalstab an, war vom Zaren geadelt worden. Louise von Salomé war eine äußerst gebildete und vielseitig interessierte Frau, die im Kontakt mit vielen interessanten Persönlichkeiten der unterschiedlichsten Disziplinen auf künstlerischen und wissenschaftlichen Gebieten stand. Ihr Verhältnis zu den Männern war höchst widersprüchlich. Sie vermied sexuelle Beziehungen, zumindest gegenüber den vielen intensiv gepflegten, auf geistig hohem Niveau stehenden Männer-Bekanntschaften, lehnte zahlreiche Heiratsanträge ab, wahrte stets ihre totale Unabhängigkeit als Frau. Rilke gehörte zu ihrem engsten Freundeskreis wie Paul Ree und Friedrich Nietzsche, wie Otto Brahm, Richard Dehmel, Knut Hamsun, Gerhart Hauptmann, Erich Mühsam, August Strindberg, Henrik Ibsen und Frank Wedekind. Sie analysierte die Werke der Schriftsteller, Dichter, eigentlich aller Künstler unter dem Aspekt der Psychologie. Sie befasste sich intensiv mit der Position der Frau in der Ehe, deren Rechte und Pflichten, die diese Rolle mit sich brachte. Sie stellte die Frage: Wie muss eine Ehe beschaffen sein, um auch der Selbstverwirklichung, besonders der Frauen, Raum zu lassen? Anna Freud, die Tochter von Sigmund Freud, sagte, als das Buch von Lou Andreas-Salomé über Nietzsche erschien, dass sie die Psychoanalyse vorweggenommen habe. Die leidenschaftliche Liebe und Zuneigung hielt zumindest für Rilke ein Leben lang an. Von Anfang an las er ihre seine Gedichte vor, änderte seinen Namen René in Rainer um, weil dieser Name in ihren Ohren männlicher klang, sie war für ihn Mutter und Geliebte zugleich. Ihr zu Liebe erlernte er die russische Sprache, bereiste mit ihr Russland. Er verlor die Kontrolle oft über sich, sie hatte ihre Emotionen immer fest im Griff, war offensichtlich ein ausgeprägter Verstandesmensch. Rilke glaubte, ohne sie nicht leben zu können, sie aber wusste genau, ohne Rilke verliefe ihr Leben in den von ihr vorgegebenen Bahnen. 1937 äußert Sigmund Freud in seinem Nachruf auf diese äußerst kluge Frau, die eine weitgereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Dichterin, Essayistin und Psychoanalytikerin war, dass sie dem großen, im Leben ziemlich hilflosen Dichter Rainer Maria Rilke zugleich Muse und sorgsame Mutter gewesen war.
Dem alten Mann schmerzen die Füße. Er sollte in ein Restaurant gehen, einen starken Kaffee trinken, vielleicht ein Stück Kuchen verzehren. Er wählt den Altstädter Ring, wählt ein Café, von dem er den Platz mit Jan Hus überschauen kann. Die Sonne meint es gut mit ihm, verwöhnt ihn mit wohltuender Wärme. Ihm gehen die vielen Persönlichkeiten durch den Kopf, die hier gelebt und gewirkt haben. Er überlegt, ob er am Abend ins Theater gehen soll. Wie früher! Er wird den Besuch des Theaters davon abhängig machen, wie er sich am Abend fühlt. Ein Prager, dem er auf der Grundschule begegnet ist, heißt Egon Erwin Kisch. Er gehörte zu den Auserwählten, die im Lesebuch der Grundschule mit einer Geschichte geschmacksbildend und unterhaltend auf die Kinder einwirken sollten. Zu Hause wurde Egon Erwin Kisch nicht erwähnt. Er wurde offensichtlich von Mutter nicht für würdig befunden, in der Stadtbibliothek ausgeliehen zu werden, wahrscheinlich kannte sie ihn auch nicht, vielleicht hatte ihn ihr niemand empfohlen, sonst hätte sie ihn sicher gelesen.
Der alte Mann lernte ihn als erster in der Familie kennen, den rasenden Reporter. Das wird der Grund gewesen sein, dass Mutter ihn nicht kannte, weil er ein rasender Reporter war. Und in den Augen der Mutter war ein Reporter kein Dichter, auch kein Schriftsteller. Er war ein Berichterstatter, er berichtete, schrieb nicht wie ein Dichter oder Schriftsteller in formvollendeter Sprache. Der alte Mann weiß genau, dass der Lehrer sagte, dass Egon Erwin Kisch ein tschechoslowakischer Schriftsteller sei, der in Prag geboren worden war. Mit keiner Silbe wurde erwähnt, dass er Jude war. Dem ersten Juden, mit dem er es in der Schule zu tun hatte, war eine Jüdin. Sie hieß Anne Frank. Im Wohnviertel hieß es, dass dort eine jüdische Familie wohnte. Das waren ganz normale Leute. Sie fielen überhaupt nicht auf. Die Frau arbeitete bei der Straßenbahn und er bei der Deutschen Reichsbahn. Im Westen hieß sie Bundesbahn, im Osten Deutsche Reichsbahn. Das Der oder Die ein Jude oder eine Jüdin war, wurde im Osten nicht hervorgehoben; sie alle waren Bürger der Deutschen Demokratischen Republik.
Der alte Mann steht vor dem Geburtshaus von Egon Erwin Kisch, freut sich über die Gedenktafel, die dort angebracht ist. In diesem Renaissance-Haus „Zu den zwei goldenen Bären“ wohnte und arbeitete der Tuchhändler Hermann Kisch gemeinsam mit seiner Familie. Hier in Prag besuchte der spätere rasende Reporter verschiedene Schulen und Universitäten der Stadt. Der alte Mann erinnert sich, dass in dem Lesebuch von damals Geschichten enthalten waren, die mit der Kindheit und Jugend des kleinen Egon und des jugendlichen Egon zu tun hatten und lustig waren. Schon als Jugendlicher reist Egon viel, schreibt Reportagen über die Orte, die er in Österreich und Bayern aufsuchte. Er ist Student für ein Semester an der Technischen Hochschule in Prag, wechselt an die deutschsprachige Karl-Ferdinands-Universität. Nach dem Studium ist er vielseitig tätig als Reporter, Redakteur, Journalist, schreibt für die deutschsprachige Zeitung „Prager Tagblatt“. Unter dem Titel Prager Streifzüge hat er eine ständige Rubrik, berichtet über die Prager Halb- und Unterwelt, zu der er enge Kontakte hält, viele Erfahrungen sammelt, die er später in seinen Reportage-Bänden „Aus Prager Gassen und Nächten“ verwendet. Im Auftrage der „Bohemia“ fährt er ins Ausland, lernt Neapel, Konstantinopel, Piräus kennen, reist nach London und Antwerpen. 1913 verlegt er seinen Wohnort nach Berlin, schreibt für die Zeitung „Berliner Tageblatt“, wirkt als Dramaturg am Berliner Deutschen Künstler-Theater, dient 1914 seit Beginn des Ersten Weltkrieges beim Infanterieregiment 11 in Südböhmen. Während des Ersten Weltkriegs lernt er viele Anarchisten, Pazifisten und Demokraten kennen, seine kritische Haltung zu sozialen und politischen Fragen und Problemen nimmt zu. Die österreichische-ungarische Monarchie verliert ihre Existenz. 1919 wird Kisch Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs. In der Zeit der Weimarer Republik entwickelt er sich zum rasenden Reporter. Quer durch Europa, quer durch die Welt reist er, schreibt darüber Reportagen, Bücher. Über die Sowjetunion berichtet er, der Titel ist „Asien gründlich verändert“. Er informiert seine Leser über die Sowjetrepubliken in Zentralasien. Voller Begeisterung berichtet er über die politischen und sozialen Veränderungen im ersten kommunistischen Staat der Welt, verschweigt aber die Hungersnöte, die Lager für Zwangsarbeiter, die Verfolgung der Kirche, die Verbote für die Ausübung jeder Religion. Für den alten Mann ist das eine Strategie und Taktik, die immer wieder genutzt wird, um das Staatssystem, für das sich der betreffende Chronist begeistert, im positiven Licht erscheinen zu lassen. Indem er die negativen Ereignisse ausblendet, ist er nicht mehr der objektive Berichterstatter, er ist subjektiv, ergreift Partei. Und das sollte ein Journalist nicht sein. Von ihm wird Objektivität gefordert, nur halten sich die allerwenigsten Journalisten an diese Maxime. Der alte Mann misstraut allem und jedem, auch jedem Bericht, ist überzeugt, diese Berichte spiegeln den parteilichen Standpunkt der Schreiber wider, die von ihrer Zeitung bezahlt werden. Und diese Zeitungen repräsentieren immer Parteien. Von seiner Position als Kommunist äußert er sich über Amerika, über die Vereinigten Staaten. Unter dem Titel „Paradies Amerika“ billigt er den Vereinigten Staaten deren technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt zu, bringt aber gleichzeitig in seiner Funktion als Kommunist seine Kritik an. Er wendet sich historischen Reportagen zu, vor allem unter historischem Aspekt. Geschichten werden erzählt, die ihm in Prager Kneipen übermittelt worden sind, besinnt sich auf seine Wurzeln, verfasst die Sammlung „Geschichten aus sieben Ghettos“, veröffentlicht Kriminalgeschichten aus seinem Prag. Als Dramatiker ist er tätig. Das Schauspiel „Die Hetzjagd“ hat in Form der Tragik-Komödie die Geschichte des Oberst Redl zum Inhalt, der als Spion enttarnt wurde, Selbstmord beging, homosexuell und an Syphilis erkrankt war, die so weit fortgeschritten war, dass er hätte bald sterben müssen. Die Nationalsozialisten weisen Egon Erwin Kisch 1933 aus Deutschland aus nach Verbüßung einer Haftstrafe. Gleich zu Beginn ihrer Herrschaft ist er ihr Gegner, beteiligt sich am Widerstand. Nur unterwegs ist er zwischen 1933 bis 1946 in Amsterdam, Paris, Madrid, Australien, Mexiko, die Vereinigten Staaten. Während der Nazi-Diktatur sollte er aus dem Gedächtnis der Leser gelöscht werden. Seine Bücher wurden verbrannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er nach Europa zurück, nimmt am politischen Leben in der Tschechoslowakei teil. 1948 stirbt er, liegt begraben auf dem Friedhof Vinohrady in Prag.
Der alte Mann setzt sich auf eine Bank an der Moldau. Er hat das Bedürfnis allein zu sein, von niemandem gestört zu werden. Seinen Gedanken, seinen Träumen will er sich überlassen, will einfach abschalten, nur geht das nicht. Bei künstlicher Intelligenz mag das möglich sein, so per Knopfdruck. Als Jugendlicher hat er immer Egon Erwin Kisch beneidet, weil er durch die ganze Welt reisen, sich alles ansehen konnte. Für ihn existierten keine Grenzen und wenn, dann überwand er sie. Schon als junger Mann fühlte sich der alte Mann als Kosmopolit, bekannte sich dazu, auch wenn es nicht vorteilhaft war, eine solche politische Ansicht zu vertreten. Auch heute ist er noch immer Kosmopolit, ist glücklich darüber, dass er sich auf dem Globus frei bewegen kann. Damals als junger Mann konnte er nicht dorthin gehen, wonach ihm gerade war. Das Ländle war eingezäunt. Nur Privilegierte konnten fahren, wohin sie das Verlangen hatten, auch in die nicht-sozialistischen Länder. Der alte Mann lächelt. Er wurde in Deutschland geboren. Das Territorium, auf dem seine Eltern während des Krieges eine Bleibe gefunden hatten, verwandelte sich später in eine Region, in der die Administration der Deutschen Demokratischen Republik das Sagen hatte. Er wurde zu einem gelernten, wohl ausgebildeten DDR-Bürger, durchlief die Bildungseinrichtungen dieses Ersten Deutschen Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden, wusste genau, wo und wann er etwas wie zu sagen hatte. Es gab zwei Meinungen, eine offizielle und eine persönliche, eine individuelle. Der alte Mann muss schmunzeln, als er feststellt, dass es inzwischen wieder so in Deutschland ist. Keiner sagt, was er wirklich denkt, aus Angst, er wird missverstanden und in die rechte Ecke gestellt. Niemand wünscht sich, aufgrund seiner Ansicht als Klassenfeind, das war früher in der DDR das passende Wort, jetzt muss es heißen, als rechtsradikal, als ausländerfeindlich, als fremdenfeindlich bezeichnet zu werden. Erschreckend gleichen sich die Bilder. Was er als menschenverachtend in der DDR als junger Mann zurückließ, findet er heute wieder in der Bundesrepublik Deutschland: Misstrauen, Angst, Stigmatisierung, Menschenverachtung. In der DDR hieß es, von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. Schon lange ist dieser Slogan nicht mehr aktuell, weil diejenigen, die ihn damals propagiert haben, ihn nicht mehr zeitgemäß finden. Nichts ist so beständig wie die Änderung. Immer wieder bestätigt sich diese Feststellung. Der alte Mann kehrt zu seinem Egon Erwin Kisch zurück. Er wusste zu leben. Als Sterbender wurde er gepflegt von seiner Frau und seiner Freundin. Zwei Frauen kümmerten sich um Egon. Wer kümmert sich um ihn, wenn er stirbt? Wer wird sich an ihn noch erinnern? Er weiß nicht, welchen Status der Egon nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, westlich des Eisernen Vorhanges in der Bundesrepublik Deutschland hatte, er weiß nur, dass er in der Deutschen Demokratischen Republik zu den führenden sozialistischen Autoren gehörte, Jahrzehnte lang fortwährend neu publiziert wurde. Er hat immer Kisch beneidet, weil er so ein aufregendes, abenteuerliches Leben als Kosmopolit führen konnte. Ihm war so ein Leben nicht vergönnt, auch nicht den Brüdern von Egon Erwin Kisch, deren Existenz als Juden im Konzentrationslager endete. Zu einem Freund soll einmal der Kosmopolit Egon Erwin Kisch gesagt haben: „Weißt du, mir kann eigentlich nichts passieren. Ich bin ein Deutscher. Ich bin ein Tscheche. Ich bin ein Jud. Ich bin aus gutem Hause. Ich bin Corpsbursch. Etwas davon hilft mir immer.“
In Gedanken verloren sitzt der alte Mann noch immer auf seiner Bank, wendet seine Aufmerksamkeit der Moldau zu, spricht mit ihr: „Ich werde Abschied nehmen müssen von Prag. Ich werde weiter ziehen. Wer weiß, wohin mich noch die Füße tragen. Ich habe noch so viel vor. Als nächstes Reiseziel avisiere ich Brünn. Sie ist die kleine Schwester Prags.“