Читать книгу Von den Meyerschen in die große, weite Welt ... - Werner Hetzschold - Страница 7
RÜCKBLICK
ОглавлениеDer alte Mann steht auf dem Holzturm, der seine Existenz der Initiative der Ornithologen zu verdanken hat. Es ist zu einem Ritual geworden, dass er stets mit dem gleichen, starken Interesse die großformatigen Bilder der heimischen Vogelwelt betrachtet, die an der Innenwand angebracht sind. Nun schweift sein Blick hinüber zur nahen Fraueninsel, wandert zur Krautinsel, um schließlich auf der Herreninsel zu verweilen. Benutzt er das auf dem Turm installierte Fernrohr, erkennt er deutlich die Gesichtszüge der Menschen, die die Einheimischen als Touristen Willkommen heißen. Es ist sehr früh am Tag. Die Sonne taucht die Oberfläche des Sees in ein gleißendes Licht, verspricht Wärme.
Seine Augen tasten das nahe Ufer ab, durchstreifen das Schilf. Seine Ohren vernehmen die Rufe der Wasservögel, die sich dort verbergen. Grenzenlos erscheint ihm der See, aus dem in der Ferne sich die Umrisse der mächtigen Bergmassive abzeichnen. Jeder einzelne Berg ist ihm vertraut.
„Da sind sie!“, ruft er begeistert aus.
Am Himmel erspäht er zwei große, weiße Vögel. Für ihn sind die Silberreiher Repräsentanten der Fauna des Mittelmeerraumes, die seit einigen Jahren am See ein neues Zuhause gefunden haben, ihre Nachkommen aufziehen. Der alte Mann verfolgt sie mit den Augen. Lautlos gleiten diese eleganten Vögel in großer Höhe dahin, entschweben langsam, lösen sich in der Ferne auf, sind verschwunden. Er setzt sich auf die Bank, die mit der Innenwand verbunden ist, beginnt zu träumen, während seine Augen das Panorama genießen, eine scheinbar heile Welt, die er schon verloren glaubte.
Seine Erinnerungen kreisen um die Vergangenheit. Der alte Mann verwandelt sich in einen jungen Mann, der voller Tatendrang ist. Vor sich sieht er das Gehöft, in dem er seine Kindheit, seine Jugend verbrachte. Auch dieses Bild spiegelt eine heile Welt wider. Lang waren die Sommer und heiß. Das Dorf, in dem er aufwuchs, war umgeben von Blumen übersäten Wiesen und von Feldern, die in gelben Farbtönen leuchteten, die eingerahmt wurden vom dunklen Grün der dichten Kiefernwälder, in die sich als helle Farbtupfer Birken hineingeschmuggelt hatten. Pilze gab es in Hülle und Fülle. Und dann verschwand diese Idylle, fast über Nacht.
Unter den Wäldern, Wiesen und Feldern, unter dem Dorf unmittelbar unter der Erdoberfläche schlummerten gewaltige Vorkommen an Braunkohle. Die Wälder mussten weichen, die Felder, die Wiesen. Die Erde wurde aufgerissen. Wie eine vergessene Insel ragte das Dorf empor inmitten des weitflächigen Tagebaues. Der Gesang der Vögel war verstummt. Dafür waren weithin die Abraum-Förderbrücken, die Kohlebagger, die Abraumbagger zu hören, die das Erdreich umpflügten wie ein Monster-Maulwurf. Nur eine Verbindung zur Außenwelt gab es: die Betonstraße.
Der junge Mann verblieb nicht länger im Dorf. Er wurde Schauspieler. Nur in großen Abständen führte ihn sein Weg zurück ins Dorf. Und dieser Weg fiel ihm immer schwerer. Die Eltern, die Großeltern, auch die Geschwister bis auf seinen jüngeren Bruder wollten bleiben und ausharren. Sie waren davon überzeugt, dass irgendwann einmal die Wälder, die Felder und die Wiesen mit den vielen bunten Blumen zurückkehren würden. Sie waren davon überzeugt, dass irgendwann einmal der Braunkohlenvorrat erschöpft sein müsste; dann würde die Heide zurückfinden. Nach jedem Besuch war er froh, wenn er das Dorf auf der Lebensader Betonstraße in Richtung Kreisstadt verlassen konnte. Auf dem Bahnhof wartete der Personenzug, der ihn zurückführte in die große, weite Welt.
Leidenschaftlich liebte er seinen Beruf. Er fühlte sich berufen, Schauspieler zu sein. Und eines Tages wurde das Ensemble zu einem Gastspiel nach Frankfurt eingeladen. Und er gehörte zu den Ensemblemitgliedern, die für würdig befunden worden waren reisen zu dürfen. Als Kultur-Botschafter sollten sie auftreten. Gegeben wurde das Stück „Nachtasyl“. Viel Beifall erhielten sie nach der Vorstellung. Am Morgen darauf traten sie die Rückreise an. Auf dem Hotelvorplatz warteten sie auf ihren Bus. Neben sich Koffer und Taschen.
Auf einmal schrie es aus ihm heraus: „Wolfgang, ich habe meine exquisiten Sportschuhe auf dem Zimmer vergessen! Ich muss sie holen! Pass bitte auf mein Gepäck auf!“. Während die letzten Worte aus ihm herausströmten, eilte er der Hoteleingangstür entgegen, die sich von selbst vor ihm öffnete. Eilig durchquerte er die Empfangshalle, verschwand in dem Gang, von dem er wusste, dass an dessen Ende eine Tür ins Freie führte, riss sie auf und stand auf der Straße, die sich auf der Rückseite des Hotelgebäudes befand. Ohne Zeit zu verlieren, bog er auf der gegenüber liegenden Seite in eine Nebenstraße ein und lief und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, um so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und seine Verfolger zu bringen. Ihm war klar, seine Flucht musste bemerkt worden sein. Viel Ärger erwartete die Ensembleleitung. Doch jetzt musste er erst einmal an sich selbst denken.
Wieder bedrängen ihn die Erinnerungen. Je älter er wird desto öfters denkt er über die Vergangenheit nach. Seine Großeltern, seine Eltern hat er nie wieder gesehen. Zu den Geschwistern hat er kaum Kontakt. Alle sind unterschiedliche Wege gegangen, geprägt durch Lebenserfahrung und Ideologien. Das Elternhaus, das Dorf hat er nie wieder gesehen, nur auf Fotos, die ihm die Schwester einst schickte. Jetzt könnte er dorthin reisen, aber er will nicht. Er will die Vergangenheit nicht aufwärmen, zurückholen. „Es war einmal …“ und so soll es bleiben. Die Heide hat sich ihren Lebensraum zurückgeholt, schrieb die Schwester. Vom Tagebau seien nur die Seen übrig geblieben, die die Landschaft beleben und attraktiver erscheinen lassen. Die Tiere sind zurückgekehrt, vor allem Vögel. Viele von ihnen habe es in der Vergangenheit in der Heide nicht gegeben wie Enten, Gänse, Reiher, Kraniche …
Als Schauspieler ist er viel in der Welt herumgekommen, ist vielen interessanten Menschen begegnet. Und jetzt als alter Mann hat er hier ein neues Zuhause gefunden. Er liebt diese Landschaft, hat das Gefühl, schon immer hier gelebt zu haben. In seinen Träumen taucht manchmal das Dorf seiner Kindheit auf wie eine einsame, trostlose Insel inmitten einer toten Mondlandschaft. Nichts verbindet ihn mehr mit der Vergangenheit. Er lebt jetzt hier nicht weit entfernt von dem großen See mit der gewaltigen Bergwand als Kulisse im Hintergrund. Und hinter ihr beginnt der Süden. Er hat sein Paradies gefunden.