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Es geht los Abend des 27. Juli
ОглавлениеAnnalena und Heiko hatten kaum miteinander gesprochen, als sie sich für „Rheingold“ ankleideten. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Rund 16 Stunden würden sie in den nächsten Tagen nebeneinander auf den harten Stühlen ohne Polster kleben. War es das wert? Ihr Verhältnis hatte sich deutlich abgekühlt. Annalena dachte an Manfred, Heiko an Laila. Füreinander hatten sie gerade wenig übrig.
Sie sollten sich gegenseitig besser nichts vormachen oder gar versuchen, ihre Beziehung zu kitten, fand Heiko. Annalena hatte ihm nichts von ihrem ausgedehnten Kaffeeplausch mit Manfred erzählt. Das brauchte sie auch nicht. Er hatte genug gesehen, um zu wissen, was Sache war. Und er kannte sie. Seine Antennen hatten sofort registriert, dass Annalena diesen Manfred nicht nur aus Rache so nah an sich heranließ. Heiko war sich sicher, dass der Geschäftsführer des Hotels bei ihr mehr als nur einen Stein im Brett hatte. Vielleicht gut so. Das verschaffte ihm selbst mehr Freiheit in seinen Bemühungen um Laila.
Dennoch würde die Konversation mit Annalena in den nächsten Tagen nicht einfacher werden. Heiko grauste vor den langen Pausen während der großen Opern. Jeweils zwei Unterbrechungen gab es bei der „Walküre“, bei „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ – und jede dauerte eine Stunde. Gott sei es gepriesen und gepfiffen, dass „Rheingold“ in einem Aufwasch in knapp zweieinhalb Stunden durchgespielt wurde. Was sollte er nur mit seiner Noch-Freundin bereden? Anschweigen war auch keine Option. Eigentlich.
Wortlos brachen sie auf und stiegen den kurzen Weg zum Grünen Hügel hinauf. Sie in ihrem langen schwarzen Kleid von Karl Lagerfeld mit dem mächtigen Ausschnitt, der kaum von einer leichten weißen Stola verdeckt wurde. Auch Heiko hatte sich edel gekleidet. Zu seinem zweireihigen Anzug – Slim Fit, hellgrau – trug er ein taubenblaues Hemd mit weißem Kragen und eine dunkelblaue Seidenkrawatte. Was ihr äußeres Erscheinungsbild anging waren beide erzkonservativ. Niemals würden sie eine festliche Veranstaltung in Jeans besuchen. Das gehörte sich einfach nicht.
Noch immer schweigend betraten sie den Vorplatz zum Festspielhaus. Es war schon mächtig was los auf dem Platz. Festlich gekleidete Paare lustwandelten zwischen den historischen Lampen und den Baumbepflanzungen auf der Ost- und Westseite des Baus. Sehen und gesehen werden. Das gehörte auch hier zum Spiel.
Mit ihren hochhackigen Pumps hatte Annalena Probleme, sich auf dem Granitpflaster zu bewegen. „Ich muss zur Toilette“, knurrte sie.
„Na, dann“, meinte Heiko und führte sie durch den Balkonsaal auf der Südseite in die Wandelhalle im Großen Haus. „Gleich rechts“, versuchte er hilfreich zu sein, „ich warte hier auf dich.“
An den langgezogenen Besuchergarderoben hielten sich nur wenige Gäste auf. Die meisten hatten keine Kleidung abzugeben, draußen war es sommerlich warm. Die Sonne flutete von außen durch die hohen Sprossenfenster und tauchte das Foyer und seine Besucher in ein zartes Lichtspiel – die Wandmalereien im neopompejanischen Stil leuchteten. Heiko sah sich um und nutzte die Zeit des Wartens, um sich zu orientieren. Parkett rechts, 3. Reihe, Sitze 14 und 15. „Ziemlich mittig“, erinnerte er sich. Den Sitzplan hatte er aber im Hotel gelassen.
Da kam Annalena wieder. Die bewundernden Blicke einiger umherstehender Herren begleiteten sie. Damen begutachteten sie weniger wohlwollend.
„Wir müssen zu Tür 1“, warf Heiko ihr mit zwanghaftem Lächeln entgegen. „Noch 15 Minuten. Lass uns schon reingehen.“
Sie folgte ihm wortlos auf dem Fuß.
Drinnen empfingen sie gleichmäßig ansteigende Sitzreihen. Etwa die Hälfte der Plätze waren bereits besetzt. Ein Raunen gedämpft quasselnder Menschen wälzte sich durch den Opernsaal. Diverse Instrumente meldeten sich aus dem rund 140 Quadratmeter großen abgedeckten Orchestergraben. Schwer hingen die roten Vorhänge vor der Bühne. Nirgends Plüsch und nur verhaltener Prunk mit wenigen Säulen und einer dezent geschmückten Decke. Zweckmäßigkeit herrschte vor. Die halbrunden Stuhlreihen füllten sich allmählich weiter.
„Entschuldigung!“ Heiko und Annalena zwangen bereits sitzende Besucher, sich von ihren Plätzen zu erheben, um sie passieren zu lassen.
Heiko ließ sich elegant auf seinen Sitz Nr. 15 gleiten und kam sich vor, als befände er sich in einem antiken Amphitheater. Annalena starrte regungslos auf die geschlossenen Vorhänge.
Nach schier quälend langen Minuten war es so weit: Der Saal hatte sich bis auf den letzten Platz gefüllt. Ausverkauft.
Im Orchestergraben stand Kirill Petrenko, der designierte Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Ihm wurde die diesjährige Ehre der musikalischen Inszenierung des „Rings“ zuteil. Alle Orchestermitglieder sahen konzentriert auf ihn und seinen graziös erhobenen Taktstock. Dann gab er das Zeichen zum Einsatz.
Präzise und temperamentvoll starteten die Musiker in ihre erste Szene. Plastische Energie belebte die Aufschwünge. Während Petrenko im Lauf des vierminütigen Vorspiels das Rauschen des Rheins intonierte, hielten sich auf der Bühne die drei Rheintöchter Woglinde, Floßhilde und Wellgunde für ihren Einsatz bereit. Sie bewachten den sagenhaften Goldschatz ihres Vaters im Rhein, der seinem Besitzer zu endloser Macht verhelfen sollte. Schon starteten sie ihre Gesänge mit leichtem Sopran. Klangreich und in der Höhe angespannt sprudelten ihre Stimmen in die Ohren des gespannten Publikums.
Der Zwerg Alberich vom Volk der Nibelungen erschien. Mit rauer, schallkräftiger Stimme erkämpfte er sich die Anerkennung des Auditoriums und entsagte der Liebe, nachdem er bei den Rheintöchtern rüde abgeblitzt war. Mit List und Heimtücke bemächtigte er sich des Schatzes.
Unterdessen hatten die Riesen Fasolt und Fafner die Götterburg Walhall fertiggestellt und warteten auf ihre Entlohnung. Wotan hatte ihnen die Göttin Freia, die das Geheimnis der ewigen Jugend hütete, zur Ehe versprochen. In empathischen Betonungen versuchte Wotan, die beiden Riesen davon zu überzeugen, dass es besser wäre, den Schatz im Rhein als Gegenleistung zu akzeptieren als auf Freia zu bestehen. Denn ohne Freia würden die Götter altern. Das durfte nicht geschehen. Zudem hatte auch Wotan ein Auge auf den Schatz geworfen und auf sein Herzstück, den Ring, der seinem Träger zur maßlosen Macht über die Welt verhilft.
Mit einer List wurde Alberich der Schatz entrissen und – zu Wotans Gram inklusive Ring – den beiden Riesen übergeben: Gierig erschlug Fafner seinen Bruder Fasolt und brachte den Ring an sich. Endlich konnten die Götter in Walhall einziehen. Drunten im Rhein beklagten die Rheintöchter immer noch den Verlust des gestohlenen Schatzes.
Heiko und Annalena waren regelrecht berauscht. Minutenlang spendeten sie dem Orchester und den Darstellern begeisterten Beifall.
Morgen würden sie wieder hier sitzen. Dann stand „Die Walküre“ auf dem Programm – wie „Rheingold“ auch in einer modernen Inszenierung von Frank Castorf. Ob der Stoff wieder mehr oder weniger elegant mit übertriebenen Bezügen zur heutigen Zeit und Gesellschaft aufbereitet werden würde? Wich der Regisseur da nicht zu sehr vom eigentlichen Gehalt des Werkes ab?
Nicht alle Besucher hatten sich mit dem modernen Kram anfreunden können. Es gab auch Buh-Rufe aus dem Publikum. Doch die vom Bühnenbild und -geschehen Enttäuschten konnten sich trösten: Zumindest die musikalische Leitung würde morgen wieder in den fähigen Händen von Kirill Petrenko liegen, den sie immer noch frenetisch beklatschten.