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Mord 26. Februar
ОглавлениеAuf einem Hügel östlich der Stadt Bayreuth, im Norden und Osten durch den Flusslauf des Roten Main begrenzt, zieht sich das waldige Gelände der Eremitage dahin.
Es war im Jahr 1616, als der damalige Markgraf Christian von Brandenburg-Bayreuth in den Besitz der ausgedehnten Waldflächen kam und diese als Jagdgebiet nutzte. Unter der Herrschaft seines Urenkels Georg Wilhelm, der bis 1726 das fränkische Fürstentum führte, regte sich dort emsige Bautätigkeit, die von 1715 an über die nächsten Jahrhunderte anhalten sollte. Einer der ersten auf dem Gelände errichteten Bauten war das Alte Schloss, das der Adelsfamilie als Sommersitz diente. 1720 entstand das heutige Monplaisir, einst Wohnhaus des Parkverwalters mit schlossartigem Charakter. Da Georg Wilhelm keinen männlichen Nachfolger zeugte, übernahm Markgraf Georg Friedrich Karl, aus einer Nebenlinie der fränkischen Hohenzollern stammend, ab 1726 die Amtsgeschäfte. Ihm folgte schon 1735 sein Sohn Friedrich, der acht Jahre an der calvinistisch geprägten Universität Genf studiert hatte.
Vier Jahre zuvor war Friedrich über Hof und Leipzig nach Potsdam gereist, wo der preußische König Friedrich Wilhelm I. einen Hochzeitskandidaten für seine älteste Tochter Wilhelmine suchte. Eigentlich sollte sie, nach den Plänen ihrer Mutter, Königin von England werden. Doch es kam anders: Friedrich und Wilhelmine wurden im November 1731 getraut. Ein Jahr darauf schenkte Friedrich seiner Frau Monplaisir und als Wilhelmine 1735 dann ihren 24. Geburtstag feierte, vermachte er ihr die gesamte Eremitage. Bald schon begann Wilhelmine, das Gelände umzugestalten, und schuf jene Parklandschaft von rund 50 Hektar, die heute noch zu den schönsten Sehenswürdigkeiten Bayreuths gehört.
Von 1749 bis 1753 entstand das Neue Schloss, bestehend aus einem Mittelbau, dem sogenannten Sonnentempel, mit vergoldeter Quadriga, die vom fackeltragenden griechischen Gott Apoll als Sinnbild der Sonne gelenkt wird. Links und rechts des kuppelgekrönten Sonnentempels schließen sich zwei halbkreisförmige Arkadengänge an, die Wilhelmine einst als Orangerie dienten. Darunter, durch Treppen abgestuft, liegt das obere Wasserbecken, auch Obere Grotte genannt, das mit mehreren Figurengruppen besetzt ist. Doch das sind längst nicht alle Gebäude und Gartenelemente, die im Laufe der Jahre das abwechslungsreiche Gelände schmückten: Heute stehen da das Ruinentheater und die Kaskade, die sich weg vom Alten Schloss den Hang hinabzieht. Ein alter Turm diente früher als Speicher, um die vielen Wasserspiele in Gang zu setzen. Auf dem Schneckenberg thront der Chinesische Pavillon. Hinzu kommen die Statue des Sokrates wie auch die Untere Grotte und die Drachenhöhle, die Allee nach Monplaisir, der Kanalgarten, eine Reihe von Brunnen und unzählbare versteckte Winkel zum Verweilen und um in der Stille der Natur Kraft zu tanken oder von der Muse geküsst zu werden.
Heutzutage ist die Eremitage für jedermann frei zugänglich. Nicht nur die Einwohner Bayreuths nutzen den herrlichen Park für ausgedehnte Spaziergänge. Viele Reisebusse karren täglich Scharen von Touristen herbei, die sich erst in der weitläufigen Anlage verlieren, um sich dann doch an den markanten Punkten, spätestens aber im Parkrestaurant, wiederzutreffen. Auch Jogger schätzen die gepflegten Wege, die durch den Park führen.
Ein junger, groß gewachsener und athletischer Mann, der erst kürzlich vom Niederrhein nach Bayreuth gezogen war und in der Stadt eine noble Dachterrassenwohnung sein Eigen nannte, nutzte das Gelände regelmäßig für seine sportlichen Aktivitäten. Jeden Mittwoch und Freitag kam er hierher, um seine zehn Kilometer abzuspulen – meist erst am Spätnachmittag, wenn der Hauptpulk der Touristen wieder verschwunden war. Auch heute fuhr er an der Königsallee seinen Mercedes die Auffahrt zu den öffentlichen Parkplätzen hinauf. Nur wenige Fahrzeuge leisteten dem 350 SL-Oldtimer in silbergrau-metallic Gesellschaft. Es war kurz vor 17:00 Uhr. In einer Dreiviertelstunde würde, dem Kalender nach, die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden sein. Theoretisch. Heute hatte sie sich eh den ganzen Tag nicht blicken lassen. Das lag an dem atlantischen Tiefausläufer Doris: Dicke, schwere Wolken segelten von einem heftigen, unangenehmen Wind getrieben, von Westen heran, entließen ihr gespeichertes Wasser in einem ständigen, alles durchdringenden Schnürlregen über ganz Oberfranken und setzten ihren Weg in Richtung Osten fort. Ein Scheißwetter. Wer konnte, blieb zuhause. Nicht so der attraktive Hobbysportler vom Niederrhein. Für ihn gab es kein schlechtes Wetter. Man brauchte nur die richtige Kleidung – in seinem Fall eine regelrechte Luxusausstattung: Seine Nike Air Laufschuhe waren hundertprozentig auf seinen Tritt und das Abrollverhalten seiner Füße abgestimmt. Seine orangefarbenen Laufshorts waren wasserabweisend. Unter seiner leichten, selbstverständlich atmungsaktiven Regenjacke trug er ein Vertical Funktionsshirt. Die Regencap lag auf dem Beifahrersitz.
Der Jogger machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Mercedes auf einem der zahlreichen markierten Plätze abzustellen. Er steuerte den Wagen auf kürzestem Weg direkt an eine mit Bäumen und Büschen bewachsene Verkehrsinsel und stellte ihn dort, wo normalerweise die Touristikbusse parkten, auf dem Kopfsteinpflaster ab. Das einzige feste Gebäude schräg gegenüber, das wie ein quadratischer Pavillon aussah und eine Besuchertoilette beherbergte, wirkte trist und grau, doch es erlaubte den unmittelbaren Zugang zum Kanalgarten. Bevor der Mann aus seinem Wagen stieg, schaltete er seinen alten i-Pod ein, wählte „Wiedergabelisten“ und dann „Shuffle“ und ließ das kleine Gerät im Innern seines Regenschutzes verschwinden. Daraufhin stöpselte er die Kopfhörer in seine Ohrmuscheln, bedeckte den Kopf mit seiner Regencap und stieg aus. So ausgestattet machte er sich auf den Weg, den er immer nahm.
Wir ziehen durch die Straßen und die Clubs dieser Stadt. Das ist unsre Nacht, wie für uns beide gemacht, oh oh, oh oh … stöhnte ihm Helene Fischer in die Gehörgänge. Er betrat den Park und hielt sich rechts des ovalen Wasserbeckens. Dann lief er hinüber zum langgestreckten Laubengang. Auf dieser kurzen Strecke ließ er es noch langsam angehen, nutzte sie, um seinen Körper aufzuwärmen, stoppte immer wieder und legte die ein oder andere Stabilisations- und Laufkraftübung ein. Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht … Er wusste, dass Laufen Muskeln, Sehnen und Gelenke herausforderte, den Herzschlag beanspruchte und den Wasserhaushalt des Körpers aus dem Gleichgewicht brachte. Schon vor Jahren hatte er herausgefunden, wie er schonend den Maximalwert seiner Herzfrequenz erreichte.
Nun bog er scharf links ab und sprintete in vollem Tempo rund 200 Meter kerzengerade auf den Sonnentempel zu, den die Wassermassen von oben nahezu verschluckten. Die letzten Minuten war der Regen stärker geworden. Er prasselte heftig auf die Bäume und kahlen Hecken der barock angelegten Gartenflächen ein, die wie ein riesiges Labyrinth wirkten. Auf den Wegen bildeten sich die ersten Wasserlachen. Es spritzte nach allen Seiten, wenn der Jogger mit schnellen, kräftigen Schritten in sie hineinstapfte. Er folgte einem schnurgeraden Pfad bis zu seinem Ende, überquerte die geteerte Hauptallee, schlüpfte zwischen Sonnentempel und Orangerie hindurch, vorbei am großen Wasserbecken, und legte noch ein paar Übungen ein. Dann rannte er durch die Allee zum kleinen Schlösschen Monplaisir hinab. Die dicken Stämme der Bäume waren grau und schmucklos, wie überhaupt der gesamte Park zu dieser Jahreszeit. Überall auf dem Gelände waren die witterungsanfälligen Steinstatuen und Skulpturen mit Stahlrahmen überbaut, zwischen denen als Kälteschutz graue Plastikplanen gespannt waren.
Kurz vor Monplaisir grüßte zwischen blattlosen Ästen der Chinesische Pavillon vom Schneckenberg herunter. Der Läufer wählte den Weg nach rechts in Richtung der Unteren Grotte, vorbei am Eremitenhaus, um dann über einen kleinen Anstieg auf das Alte Schloss zuzulaufen. Jetzt war er im Rhythmus, hatte seine Idealgeschwindigkeit gefunden. Vom Alten Schloss kommend, an dem langgezogenen Wirtschaftsgebäude vorbei, in dem die Schlossgaststätte untergebracht war, den alten Wasserturm hinter sich lassend, ging es rechterhand hinein in den Wald und in diversen Links-rechts-links-rechts-Bögen, immer dem Roten Main folgend, schließlich zum Parnass, dem künstlichen Felsen, der nur mit viel Fantasie an seinen Namensvetter, den 2.455 Meter hohen Gebirgsstock in Zentralgriechenland, erinnerte. Ein Symbol des mythischen Bergs des Gottes Apoll, zugleich Heimat der neun Musen, der Göttinnen der Künste. Der Bayreuther Parnass wirkte eher wie ein grauer, von Wind und Wetter zerklüfteter Steintunnel, den man von vier Seiten begehen konnte. Kaum jemand würde sich wundern, wenn hier plötzlich heulend und pfeifend eine alte, überdimensionale Dampflokomotive durchfauchen würde. Durch eine der vier Öffnungen führte ein kurzer Weg hin zum Alten Schloss. Der Jogger erinnerte sich an seinen ersten Besuch der Eremitage im Juli letzten Jahres, als der Park im satten Grün stand und er und Annalena diesen Weg gegangen waren. Die Buchenhecken links und rechts waren über ihren Köpfen zusammengewachsen und hatten angenehmen Schatten gespendet. Nun standen ihre Holzgerippe traurig ineinander verwachsen herum und boten in ihrem Herbstschnitt ein Bild kahler Tristesse. Wenigstens lag von hier aus der Sonnentempel nur noch einen Katzensprung entfernt. Schon etwas schwerer atmend huschte der Jogger erneut an der Orangerie durch, um seine zweite Runde einzuläuten. Dreimal wollte er die Strecke laufen, wie immer. Das war nach seinem Umzug nach Bayreuth schnell zu einem Ritual geworden.
Weine nicht, wenn der Regen fällt. Tam tam, tam tam. Es gibt einen, der zu dir hält. Tam tam, tam tam … Drafi Deutscher besang die Geschichte von Marmor, Stein, Eisen und dem Regen. Wie treffend für diesen trüben Tag. Normalerweise waren um diese Uhrzeit immer noch Leute unterwegs, bei aller Kahlheit hatte der Park schließlich auch im Winter seinen Reiz. Heute war dem Läufer noch keine einzige Menschenseele begegnet. Das heißt, bis auf die kleine Gruppe Raucher vor dem Eingang der Schlossgaststätte, die jetzt vor ihm auftauchte. Frierend drängten sie sich unter einem Sonnenschirm eng aneinander und zogen gierig an ihren Glimmstängeln. Er beachtete sie nicht weiter, konzentrierte sich auf seinen Weg, seine Laufschritte und seine Atmung.
Ein Augenpaar aus der Gruppe der Raucher hatte ihn allerdings sofort erkannt. Es folgte ihm, als er vorbeihastete, um auf Höhe des alten Wasserturms wieder rechts in den Wald abzubiegen. Ein Blick voller Groll – aber noch war Zeit. Zweimal würde der Jogger hier noch vorbeikommen, es gab keinen Grund, jetzt schon zu handeln.
Schritt für Schritt, immer im gleichmäßigen Tempo, wie ein Präzisionsuhrwerk, hatte der Läufer rund eine Stunde später seine zehn Kilometer nahezu geschafft. Er bog gerade wieder in den Kanalgarten ab und weiter in Richtung Parkplatz. Erst 1977 war dieses Stück der Eremitage nach alten Plänen renoviert worden und entsprach nun wieder seinem ursprünglichen Aussehen. Für die aparte Anlage mit ihrem langen, engen Wasserkanal samt drei Bassins, den unzähligen Heckenquartieren und Laubengängen, in denen in der warmen Jahreszeit vor allem Kinder gerne Versteck spielten, hatte der Jogger auf seinen letzten Metern aber kein Auge. Zwischenzeitlich war er, trotz seiner hochprofessionellen Kleidung, ordentlich durchnässt und wollte nichts anderes als schnell nach Hause und ein heißes Bad nehmen.
Als er den Parkplatz erreichte, schüttete es immer noch wie aus Kübeln und eine unangenehme Kälte kroch ihm in die Glieder, während er sich nach der Anstrengung des Laufs abdehnte. Da sah er die Bescherung. Sein Mercedes stand nicht mehr so, wie er ihn verlassen hatte, die Haube war seltsam abgesackt. Im Dunkel der aufkommenden Nacht trat er näher heran, fluchte wie ein Kesselflicker und warf voller Wut seine Regencap auf den nassen Asphalt. Die beiden vorderen Reifen waren platt. Schöne Scheiße. Das konnte nur einer dieser oberfränkischen Vollpfosten gewesen sein, der sich einen Spaß daraus machte, Reifen an ortsfremden Autos zu zerstechen. Ein unbekanntes Kfz-Kennzeichen konnte bei diesen Typen schon Grund genug sein.
Was für eine Woche! Dieser Tage war schon alles zusammengekommen: Los ging es, als er am Mittwoch sein Handy verlegte. Er wusste bis heute nicht, wo es abgeblieben war. Gott sei Dank hatte er eine Sicherungskopie all seiner Kontakte auf dem Computer gespeichert. Ohne Handy – das ging gar nicht, also besorgte er sich am nächsten Tag gleich ein neues Modell, übergangsweise mit Prepaid-Karte; für seine Herzallerliebste wollte er erreichbar sein, die war am Mittwochmorgen zu einer Tagung ihrer grünen Partei nach Hof abgereist. Hätte er sich auch sparen können, seit ihrem Aufbruch hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet. Sehr ungewöhnlich für sie. Noch schlimmer: Seine Anrufe hatte sie weggedrückt, seine SMS unbeantwortet gelassen. Lag’s an der neuen, unbekannten Nummer? Er machte sich Sorgen. Sie schwebten doch beide noch auf Wolke Sieben. Oder etwa nicht mehr? War irgendetwas passiert, von dem er keine Ahnung hatte? Morgen erst würde sie zurückkommen. Wenn er sich nicht ablenkte, machte ihn die Situation halb wahnsinnig.
Und dann dieser triste Tag heute; am Vormittag hatte er seine Zugehfrau gefeuert. Die meinte offenbar, dass sie sich alles erlauben konnte. Nicht nur, dass sie immer unzuverlässiger geworden war, auch Diebstahl stand zuletzt auf ihrem Programm. Klar lag eine gehörige Mitschuld bei ihm selbst. Man ließ eben Geld nicht offen in Schubladen herumliegen. Gelegenheit macht Diebe. Trotzdem, da waren einige Fünfziger verschwunden, das konnte er nicht mehr durchgehen lassen.
Der Zoff mit Manfred hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Wegen einer Lappalie! Schuld war nur seine Ex, das stand außer Frage. Von Neid zerfressen, voller Vorwürfe und eine Meisterin im Stiften von Zwietracht.
Dass gestern Abend auch noch dieses Sexmonster Aischa Bint Malika Al-Bagdadi vor seiner Haustür stand, Sturm klingelte und Einlass verlangte, versuchte er immer noch zu verdrängen. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. Als ob er wegen diesem kleinen Wertpapiergeschäft nach ihrer Pfeife tanzen würde, lächerlich. Und gefährlich für seine aktuelle Beziehung. Da zeigte sich einmal wieder: Geschäft und Privates gehört sauber getrennt!
Das hatte er sich auch gedacht, als am Dienstag die seltsame SMS eingetrudelt war – unbekannte Nummer, unterzeichnet mit „Bill“. Der einzige Bill, den er kannte, hatte gerade die deutsche Steuerfahndung an der Backe, atmete vermutlich sogar schon gesiebte Luft und saß in U-Haft. Der SMS konnte man nicht trauen. Eventuell ein plumper Trick der Steuerfahnder, auf diese Leimrute würde er sicherlich nicht kriechen. Er hatte einfach nicht geantwortet.
Momentan schien wirklich alles aus dem Ruder zu laufen. Und nun die platten Reifen mitten im Scheißregen.
Mit der Lampe seines neuen Handys beleuchtete er die beiden Vorderreifen notdürftig. Eindeutig zerstochen. Damit kam er hier nicht weg. Er sah sich um. Der Parkplatz war fast vollkommen leer. Nur ein japanisches SUV-Modell stand, einsam geparkt, rund fünf Meter hinter seinem Mercedes. Vom Fahrer des Wagens war weit und breit nichts zu sehen.
Resigniert nahm der Hobbysportler vom Niederrhein sein Mobiltelefon zur Hand, drückte auf „Kontakte“ und scrollte durch die neu abgespeicherten Nummern. Dann wählte er, nachdem er die Kopfhörer aus seinen Gehörgängen genommen hatte, die 22333.
„Taxi Union Bayreuth“, meldete sich eine weibliche Stimme.
„Bitte schicken Sie einen Wagen zum öffentlichen Parkplatz an der Eremitage. Königsallee. Der Fahrer soll dorthin kommen, wo normalerweise die Reisebusse parken.“
„Gerne“, hörte er die angenehm weiche Stimme der Frau, „kann aber rund sieben bis zehn Minuten dauern. Unsere Fahrzeuge sind momentan alle mit Kunden im Einsatz. Der Dauerregen …“, versuchte sie sich zu entschuldigen. Dann war sie weg.
„Schöne Scheiße!“ Er stöpselte seine Kopfhörer wieder ein und wandte sich dem Kofferraum seines Wagens zu. Völlig durchnässt würde er sich nicht in seinen Mercedes setzen. Er hatte schließlich vorgesorgt, im Laderaum lagen ein frisches Shirt und eine warme Jacke, einen Schirm hatte er sowieso immer dabei. Ob er lieber unter dem Vordach des Pavillons warten sollte? Oder doch beim Wagen? Am Ende übersah ihn der Taxifahrer noch und fuhr unverrichteter Dinge wieder davon. Das hätte ihm gerade noch gefehlt.
My makeup is dry and it clags on my chin. I’m drowning my sorrows in whisky and gin … fetzten die Kinks an die Trommelfelle des Joggers, der sich tief in den Kofferraum beugte, um nach seinem Knirps zu suchen. Der Parkplatz lag nun in fast vollkommener Dunkelheit. Die wenigen Laternen, die hier standen, hatten mit ihrem diffusen Licht kaum eine Chance gegen den dicht fallenden Regen.
Dass sich hinter dem japanischen SUV eine geduckte Gestalt aus dem Schatten des Fahrzeugs löste und auf leisen Sohlen näherte, bekam er nicht mit. Dave Davis, der Leadgitarrist der englischen Musikgruppe, schmetterte ungebrochen die Rockballade vom sterbenden Clown. Als der Stahl der Klinge zwischen seine Rippen fuhr, war es bereits zu spät. Dem ersten Stich folgte schnell ein zweiter, der sein Herz traf.
Feuer – er spürte die schweren Verletzungen als heiße Schmerzwellen. Der Schirm entglitt seinen Fingern und er hielt sich krampfhaft am Wagenrahmen fest. Mit letzter Kraft wandte er den Kopf nach hinten. Eine Hand, ein blutiges Messer darin.
„Du?“, kam es ihm flüsternd über die Lippen, dann verloren seine Hände den Halt.
Sein Oberkörper fiel in den geöffneten Kofferraum hinein, seine Beine knickten ein, hingen nur noch schlaff zu Boden. So let’s all drink to the death of a clown. Won’t someone help me to break up this crown? Let’s all drink to the death of a clown … sang Dave Davies weiter.
Der Jogger hörte die Botschaft der Kinks nicht mehr. Er war tot. Blut quoll aus seinem Rücken und wurde sofort vom Regen weggespült. Die größere Menge des roten Lebenssafts sammelte sich im Innern seines Körpers.
Kurz sah die Gestalt mit der Klinge in der Hand auf ihr Opfer herab. Dann zog sie die Kapuze ihrer schwarzen, wasserdichten Hardshell-Jacke zurecht, umrundete den Mercedes, öffnete die Beifahrertür und wandte sich dem Handschuhfach zu. Schnell schien sie fündig geworden zu sein. Hastige Schritte führten sie zurück zum Kofferraum, wo sie dem Ermordeten auch noch sein Mobiltelefon abnahm und in dieselbe Tasche steckte, wo bereits Wohnungsschlüssel, Personalausweis und Führerschein des Opfers untergebracht waren. Der Geldbeutel des Getöteten interessierte die Gestalt nicht.
Eine halbe Minute später sprang der Motor des Japaners an. Im Wagen wurde der Rückwärtsgang eingelegt, er stieß zurück. Dann schlich sich der SUV im zweiten Gang und mit ausgeblendeten Scheinwerfern davon.
Lange hatte der prasselnde Regen die Szene für sich allein. Dann löste sich eine schmale, bis auf die Haut durchnässte Figur aus dem Schutz des quadratischen Pavillons. Sie sah sich gehetzt um, als sie aus dem Schatten des Gebäudes trat. Schnell lief sie zum offenstehenden Kofferraum des Mercedes. Sekunden später umrundete sie den Wagen, wie es der Mörder vorher getan hatte, und widmete sich ebenfalls dem Handschuhfach. Im Portemonnaie des Ermordeten steckten einige Geldscheine. Schnell nahm sie alles an sich und legte den Geldbeutel in das Handschuhfach zurück. Angespannt strich sie sich mit den Fingern durch das patschnasse Haar. Dass sich dabei eine schwarze Haarspange löste und herabfiel, bemerkte die Gestalt nicht. Sie schmiss den Wagenschlag der Beifahrertür zu und machte sich davon.
Kaum war sie verschwunden, fuhr das vom Mordopfer bestellte Taxi auf den Parkplatz. Die Lichtkegel der Scheinwerfer fielen auf den einsamen Wagen, der mit offenem Kofferraumdeckel unweit des Parkzugangs stand. Erst als er näher heranfuhr, erkannte der Taxler auch den menschlichen Körper, der leblos halb im Kofferraum lag, halb daraus herabhing. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein Gehirn begriff, was ihm seine Augen verrieten. Dann stieg er aus, stülpte sich provisorisch seine Jacke zum Schutz gegen den Regen über den Kopf und rannte die wenigen Meter zu dem Mercedes hin.
Der Mann im Kofferraum reagierte nicht, auch nicht auf ein heftiges Schütteln. Als der Taxifahrer seine Hand vom Rücken des Manns nahm und im Schein einer Laterne das Blut daran sah, fackelte er nicht lange, rannte zu seinem Wagen zurück und wählte fluchend die 110. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Seine Kollegen und Kolleginnen verdienten sich bei dem Scheißwetter eine goldene Nase, aber er musste hier auf einen Toten stoßen und nun auch noch auf die Ankunft der Kripo warten. Verdammte Kacke!
*
Als Hauptkommissar Benno Behringer vom Bayreuther Kriminalkommissariat K1 mit dem Team der Spurensicherung eintraf, waren seit der Notfallmeldung knapp 20 Minuten vergangen. Behringer fluchte, als er aus dem Einsatzfahrzeug stieg und die Kapuze seines Anoraks über seinen mächtigen Schädel stülpte. In der Rechten hielt er eine kräftige Stablampe und richtete sie auf das Taxi, das mit eingeschalteten Scheinwerfern hinter dem Mercedes mit dem vermutlichen Mordopfer stand. Scheißwetter. Er hatte sich im Büro gerade auf den Weg nach Hause machen wollen, als ihn die Meldung erreichte. Wieder mal kurz vor Feierabend, ausgerechnet an einem Freitag und dann auch noch bei diesem Dauerregen. Was sollte die SpuSi da noch finden?
Der Taxifahrer hatte die Ankunft der Polizei bemerkt. Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus. Schimpfend spannte er einen Stockschirm auf und zog den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Anschlag nach oben.
„Sie haben ihn gefunden?“, rief ihm der kleine Dicke im Daunen-Anorak entgegen, der mit trippelnden Schritten schnell näherkam und dessen Gesicht ihn aus einer Kapuze heraus neugierig fixierte. Seine Äuglein – auffällig klein, wie bei einer Feldmaus – musterten den Taxler neugierig. Ihr Braun verschmolz mit der Nacht. „Hauptkommissar Benno Behringer von der Kripo Bayreuth“, stellte er sich vor.
„Leider!“, bemerkte der Taxifahrer. „Der scheint komplett hinüber zu sein“, klärte er dann den Polizeibeamten auf und deutete auf den leblosen Körper des Joggers.
„Haben Sie ihn berührt?“, wollte der Dicke von ihm wissen, als er vor ihm zu stehen kam.
„Nur kurz geschüttelt, als er auf meine Ansprache nicht reagiert hat. Wann kann ich mich hier vom Acker machen? Sie sind ja jetzt da. Die Zeit läuft und: Time is money. Der Regen … wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Wir müssen noch Ihre Personalien aufnehmen, dann können Sie meinetwegen verschwinden“, erhielt er zur Antwort. „Haben Sie irgendetwas beobachtet?“
„Nicht die Bohne. Als ich hier ankam, war der ganze Parkplatz leer – bis auf den Mercedes. Keine Menschenseele zu sehen, nicht mal ein einsamer Köter.“
„KKL!“, schrie Behringer über seine Schulter hinweg. „Kommen Sie mal und kümmern Sie sich um den Herrn hier. Personalien und das Übliche, dann kann er gehen.“
„Kommen Sie bitte mit mir zum Wagen?“, forderte Kommissar Klaus-Karl Lang, Behringers rechte Hand und sein designierter Nachfolger, den Taxler auf. „Das können wir auch im Trockenen erledigen.“
Das Team der SpuSi schleppte die Einzelteile eines Zelts herbei und begann mit dem Aufbau rund um das Heck des Mercedes. Andere platzierten starke Scheinwerfer um den mutmaßlichen Tatort herum. Benno Behringer nutzte die Gelegenheit, beugte sich in den offenstehenden Kofferraum und leuchtete dem leblosen Mann darin ins Gesicht.
Er erkannte ihn auf Anhieb.
27. Juli des letzten Jahres im Bayreuther Festspielhaus: Das war der „Popelschnalzer“. Außerdem hatte er ihn ein zweites Mal an der Behringersmühle in der Fränkischen Schweiz gesehen. Leider hatte der Kommissar keinen Namen zu dem ihm bekannten Gesicht – aber einen interessanten Fakt: Nahe der Mühle war der Mann in einem Zweierkanu auf der Wiesent unterwegs gewesen. In dem Boot hatte auch eine junge, äußerst attraktive blonde Frau gesessen. Nicht diese Kräftige, besser gesagt Stattliche, die ihn im Festspielhaus begleitet hatte.
„Wenn ihr mit eurer Arbeit fertig seid“, wandte sich Behringer an das Team der SpuSi, „dann lasst den Leichnam in die Rechtsmedizin nach Erlangen bringen.“