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Springer und Sturm Vorletzte Juliwoche
ОглавлениеDas Paar stammte aus der Gegend vom Niederrhein, er aus Xanten, sie aus Wesel. Es war das erste Mal, dass sie nach Franken reisten, der Bayreuther Festspiele wegen. Sie wussten, dass es so manchen Promi in der letzten Juliwoche auf den „Grünen Hügel“ trieb, so auch dieses Jahr wieder. Kanzlerin Angela Merkel hatte sich genauso angesagt wie die Showgröße Thomas Gottschalk und Fürstin Gloria von Thurn und Taxis. Knapp 75.000 Einwohner zählte die Stadt, sagte ihnen das Internet. Wie es mit den Hotelkapazitäten stand, wussten sie nicht genau, also hatten sie bereits im Januar im Hotel „Richard Wagner“ gebucht, die Siegfried-Suite sollte es sein. Die Homepage hatte einen guten Eindruck gemacht und beide waren einen gehobenen Hotelstandard gewohnt. Geld spielte keine besonders große Rolle, sie mussten nicht auf den letzten Pfennig achten.
Die Festspiele würden am 25. Juli mit „Tristan und Isolde“ beginnen. Das Stück war nichts für Heiko Springer und seine Begleiterin. Nicht, dass das Liebesdrama um den Königssohn und seine große Liebe Isolde ihn und Annalena Sturm nicht interessiert hätte, aber sie hatten sich dieses erste Mal in Bayreuth Größeres vorgenommen: die komplette vierteilige Inszenierung des „Ring des Nibelungen“.
Vor allem Heiko liebte das mittelalterliche Heldenepos, das Wagner als Vorlage für seinen Opernzyklus gedient hatte. Auf dem Schwarzmarkt hatte er Unsummen für die Eintrittskarten ausgegeben. Sie freuten sich.
Am Montag, den 27. Juli sollte der Vierteiler mit „Rheingold“ starten. Zwei Tage zuvor kamen Heiko und Annalena in Bayreuth an. Sie wollten die Gelegenheit nicht versäumen, sich neben dem Festspielhaus auch die anderen Sehenswürdigkeiten der oberfränkischen Metropole anzusehen. Ganz oben auf ihrer Liste stand die Parkanlage der Bayreuther Eremitage mit ihren vielen Wasserspielen, der schwungvollen Orangerie und dem Sonnentempel, auf dessen Kuppel Apoll, Gott des Lichts und der Musik, seine Rösser zum schnellen Lauf anspornte. Leider war das Markgräfliche Opernhaus – weitaus älter als das Festspielhaus und 2012 als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnet – nicht zugänglich, die Renovierungsarbeiten sollten sich noch über die nächsten drei Jahre hinziehen, hieß es. Wie die Eremitage war der barocke Bau ein Vermächtnis der Markgräfin Wilhelmine, Gattin des einstigen Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth und Lieblingsschwester von Friedrich dem Großen; jene Frau, die so viel für die Stadt getan hatte. Das Neue Schloss im Stadtzentrum mit dem Hofgarten wollten Heiko und Annalena sich aber auf jeden Fall ansehen. Das hatten sie sich fest vorgenommen.
Die beiden 30-Jährigen waren auf den ersten Blick ein etwas seltsames, auf jeden Fall aber auffallendes Paar. Er schlank und einen Meter 89 groß, mit breiten Schultern, muskulösen Armen und schmalen Hüften, einem kantigen Gesicht und blonden Locken, die ihm bis in den Nacken fielen. Seinen aufmerksamen himmelblauen Augen entging nichts und die dunklen, langgebogenen Brauen gaben seinen Zügen eine gewisse Eleganz.
Nicht so seine Begleiterin. Sah man sie durch die Straßen Bayreuths flanieren, kam einem nicht unbedingt das Wort „Eleganz“ in den Sinn. Nicht, dass sie grobschlächtig oder gar korpulent gewesen wäre, auch sie hatte kein Gramm Fett zu viel am Körper. Dennoch stolperte so manch männlicher Blick über ihre breiten Schultern und die stahlharten Muskeln ihrer Oberarme und Waden, die ihr Sommerkleid frei ließ. Annalena war durchtrainiert. Kein Wunder, sie hatte sich seit frühen Teenagertagen der Leichtathletik verschrieben. Diskuswerferin. Beinahe hätte ihr Talent für die Aufnahme in den Kader des Nationalteams ausgereicht, doch mittlerweile war sie froh, einem Beruf mit gesichertem Verdienst nachzugehen und dem Sport nur in der Freizeit treu geblieben zu sein. Trotzdem fehlte ihrem Äußeren einfach die weibliche Leichtigkeit. Dazu kam ihr Blick: selten heiter, meistens hart und unnahbar, ein bisschen streng, man könnte auch sagen misstrauisch. Überhaupt wirkten ihre Gesichtszüge eher männlich. Annalenas herausragendstes weibliches Merkmal war ohne Frage ihr Busen. Sie trug ihn mit Stolz. Als Sportlerin war eine aufrechte Körperhaltung für sie selbstverständlich, sie lief fast schon mit einem Hohlkreuz herum und reckte ihre beiden Attribute unübersehbar von sich. Zu allem Überfluss trug sie meistens auch noch einen Push-up-BH, der ihre einzigen Rundungen aus jedem noch so züchtigen Ausschnitt quellen ließ.
Wie Heiko und Annalena genau zueinander standen, wussten nicht einmal ihre wenigen gemeinsamen Freunde und Bekannten. Waren die zwei ein festes Liebespaar oder schliefen sie nur miteinander, wenn es ihnen gerade gut in den Terminplan passte? Eine Art Zweckgemeinschaft, in der sich beide nicht unsympathisch fanden und sowohl Nähe als auch Flexibilität genossen? Niemand wurde aus ihnen so richtig schlau. Sei’s drum, es war ihr Leben. Solange sie miteinander auskamen und es ihnen gefiel … zumindest waren beide begeisterte Sportler und glühende Opernfans.
*
Als sich Heiko bei ihrer Ankunft in Bayreuth in das Anmeldeformular des Hotels „Richard Wagner“ eintrug, zögerte er für einen kurzen Moment.
Das Formular fragte ihn nach seiner Berufsbezeichnung … hmm, Börsenhändler, Finanzberater, Investor? Wenn sich seine steile Karriere weiter so hervorragend entwickelte, vielleicht bald schon Privatier?
„Ist doch egal, was ich reinschreibe“, sagte er sich und kritzelte schnell den „Finanzberater“ ins entsprechende Kästchen.
Da sollte er sich gewaltig täuschen. Die drei Kolb-Brüder interessierte es außerordentlich, wie ein Investor, Börsenhändler und Finanzberater sein Einkommen bestritt, und vor allem, wie er das seiner Kunden vermehrte.