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ОглавлениеAm 4. Juni 1881, dem Tag vor Pfingsten, brachen die Diepoldswilers schon früh in ihrer leichten, mit einem Halbverdeck versehenen Kutsche auf. Simon, der das Gefährt selbst lenkte, hatte vier kräftige Pferde vorgespannt, denn Mamutlie lag auf fünfzehnhundert Meter über dem Meer. Sie fuhren Richtung Süden. Kühe, die zum Melkplatz getrieben wurden, kreuzten ihren Weg. Hirten auf ihren ungesattelten Pferden grüssten, wenn sie den Patron und seine Familie sahen. An den Hängen der Hügel linker Hand der Strasse weideten Schafe. Sie passierten Kiriani und Kamarlo, zwei kleine Siedlungen mitten in der Einsamkeit des weiten Graslands. Im fahlen Morgenlicht verlor sich die Steppe nach Westen im Ungefähren. Die um diese Jahreszeit noch schneebedeckten Kämme des Dschawachetischen Gebirges blieben unter einer Wolkendecke verborgen.
Sophie sass im Fond des Wagens. Der fünfjährige Jakob, dessen Kopf in ihrem Schoss ruhte, war eingeschlafen. Ihr gegenüber las Karl ein Buch. Seit er das Alphabet begriffen hatte, versuchte er alles Schriftliche, das ihm in die Hände geriet, zu entziffern. Er war ein feinfühliges Kind. Am vergangenen Christfest, das man im Herrenhaus gemeinsam mit dem Gesinde zu feiern pflegte, hatte Karl die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorlesen dürfen. Anschliessend stellte er sich vor Wassilij, der still in einer Ecke sass, und rezitierte auswendig auf Russisch Wort für Wort die Überlieferung vom Engel, der den Hirten auf dem Feld erschienen war, so wie es in der orthodoxen Bibel aufgeschrieben war. Der alte Mann hatte ihn ungläubig angestarrt. Als der Bub fertig war, verliess Wassilij den Raum und kehrte kurz darauf zurück. Er drückte Karl ein Heiligenbildchen mit der Muttergottes von Kasan und ihrem Kind in die Hand. Dann umarmte er den Jungen und küsste ihn auf beide Wangen. Als der Russe in seiner Jugend an die Armee verkauft worden war, hatte er von seiner Liebsten zum Abschied einen Bogen mit einhundert Bildchen der Gottesmutter geschenkt bekommen. Vor jeder Schlacht und jedem Gefecht hatte er eines davon gegessen. Er war überzeugt, nur deshalb von Hieb und Stich, von Kugel und Schrapnell verschont geblieben zu sein. Er hatte auch Sophies Mutter, Thilde Schüpbach, als sie drei Tage lang in Wehen lag, das Konterfei der Jungfrau in den Mund gesteckt. Als Schluckzettel. Er war sich sicher, dass Sophie nur ihretwegen gesund auf die Welt gekommen war. Thilde allerdings, die an der Geburt gestorben war, hatte die Muttergottes nicht geschützt.
Hannes sass neben seinem Vater auf dem Kutschbock. Wenn Cornelius Fresendorff auf Sophies Frage antwortete, er sei ein braves Kerlchen, dann wusste sie, dass ihr Zweiter, was dessen schulische Leistungen betraf, nicht danach strebte, mit seinem älteren Bruder Schritt zu halten oder ihn gar zu übertreffen. Seine Interessen waren anderer Art. Er trieb sich in jeder freien Minute in den Ställen und in der Käserei herum. Er vergass die Zeit, wenn er an der Koppel stand und den weidenden Kabardinern zuschaute. Hannes war dabei, wenn man den Stier zur Kuh führte, und sah gespannt zu, wie sie neun Monate darauf kalbte. Er begriff, dass manche Kälblein schon früh geschlachtet werden mussten, da man das Lab aus ihren Mägen für die Herstellung von Käse brauchte. Es machte ihm nichts aus, wenn der Vater die jungen Tiere mit einem raschen Schnitt durch die Kehle tötete, er hielt sogar das grosse Becken unter die klaffende Wunde, um das Blut aufzufangen, aus dem Mayranoush Würste machte.
Hannes war Simons Lieblingssohn. Manchmal setzte er ihn vor sich aufs Pferd und ritt mit ihm hinaus in die Steppe. «Du bist mein kleiner Stier», sagte er, wenn er den kräftigen, kompakten Körper des Knaben spürte. Mein kleiner Stier: So hatte ihn vor Jahren sein eigener Vater genannt. Manchmal zerzauste er dem Jungen mit verschämter Zärtlichkeit das Blondhaar.
Kurz hinter Dmanissi versperrten vier berittene Tataren der Kutsche den Weg. Jeder von ihnen trug eine mehr oder weniger zerschlissene Tscherkesska und auf dem Kopf eine riesige, kegelförmige Papacha aus Lammfell. Sie waren mit einer Berdanka, einem veralteten russischen Armeegewehr, ausgerüstet, das über ihre Rücken hing, sowie einem Patronengurt, den sie schräg über Schulter und Brust trugen. Ausserdem besass jeder der Männer einen Kindschal, einen etwa fünfzig Zentimeter langen Dolch, der als Stich- und Schlagwaffe verwendet werden konnte.
Simon brachte das Gefährt zum Stehen und tastete nach seinem Repetiergewehr, das unter dem Kutschbock lag. Sophie, die an den Überfall dachte, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen war, konnte einen leisen Schreckensruf nicht unterdrücken. Karl und Hannes starrten die wilden Gesellen aus weit aufgerissenen Augen an. Nur Jakob schlief weiter.
Der Anführer der Männer, ein Alter mit einem langen, weissen Bart, hob beide Hände mit der Innenfläche nach aussen, zum Zeichen, dass er keinerlei feindliche Absicht hege. Er stieg vom Pferd, deutete auf seine Brust und sagte «Allachwer». Das war offenbar sein Name. Dann reichte er Simon ein zusammengefaltetes Blatt. Gleichzeitig deutete er auf ein Messingschild an seinem Patronengurt. Tschapar des Herrn von Kutzschenbach stand da in perforierter Schrift. Simon überflog das Papier. «Ihr braucht keine Angst zu haben», sagte er zu Sophie und den Buben. «Die Männer gehören zu Kutzschenbachs Leibwache und sollen uns sicher bis nach Mamutlie begleiten.»
Allachwer, ob er nun verstanden hatte, was der Gast seines Herrn sagte oder nicht, nickte eifrig und zeigte Richtung Süden. Von zwei bewaffneten Tataren vor und zwei hinter der Kutsche eskortiert, fuhren sie auf der Landstrasse weiter. Sie passierten nacheinander vier Siedlungen mit einem halben Dutzend erbärmlicher Erdhütten, dazwischen ab und zu ein elendes Holzhaus. Halbwilde Hunde balgten sich mit Scharen von Krähenvögeln um Abfälle. Männer in zerlumpten Kleidern starrten den Reisenden misstrauisch nach. Manchmal fuhren sie an einer verschleierten, von schmutzigen Kindern begleiteten Frau vorbei, die auf dem Kopf einen Wasserkrug oder ein Bündel Holz trug.
Am späteren Nachmittag öffnete sich vor ihnen ein breiter, nach Südwesten sanft ansteigender Talkessel. Er war im Osten von Hügeln begrenzt, an deren Hängen von Bäumen und Sträuchern bewachsene Felsen standen. Im Süden und Westen schloss eine lange, steil abfallende Wand aus Lavagestein, über die ein tosender Wasserfall stürzte, den Talboden ab. Die grünen Wiesen, auf denen Obstgärten angelegt waren, standen in einem seltsamen Gegensatz zu den verwahrlosten Äckerchen und Weiden der Tatarensiedlungen, die sie hinter sich gelassen hatten.
Mamutlie war ein Dorf, wie man es auch in Deutschland hätte finden können: eine kleine Kirche mit Glockenturm, um die sich fünf Dutzend schmucke, mit roten Ziegeldächern bedeckte Häuser scharten, davor Gemüsegärten. Hier lebten offenbar die Angestellten des Gutsbesitzers und ihre Familien. An einem Gebäude hing eine Tafel: Ambulanz und Apotheke. Am Rand der Siedlung standen Ställe, eine grosse Sennerei samt Käsekeller, eine Mühle, eine Stellmacherei, eine Backstube, ein Badehaus und eine Schmiede. Und mittendrin, eingerahmt von Bäumen und Ziersträuchern, eine Parkanlage: kurz getrimmter englischer Rasen und ein Teich, aus dem die Fontäne eines Springbrunnens in die Höhe schoss. Am Ufer des Wassers lag das Herrenhaus, auf dessen Freitreppe Alexander von Kutzschenbach, seine Frau und ihre Kinder standen, um die Gäste zu empfangen – ein Fürst, der sich mit seiner Familie präsentiert.
Wie schon in Tiflis küsste der Deutsche Sophies Hand, und wie damals spielte ein Lächeln um ihre Lippen, das sich vertiefte, als die älteste Tochter des Gastgebers mit spitzen Fingern ihren Rock leicht anhob und knickste. Die drei Söhne, von denen der älteste bald mannbar sein würde, während es sich bei den beiden anderen um Halbwüchsige handelte, führten einen tadellosen Diener vor. Die Diepoldswilerbuben, die diese Art von Begrüssung einschüchterte, schauten fragend zu ihrem Vater, dessen strenger Blick ihnen jede Reaktion verwies. Die Atmosphäre entspannte sich erst, als Barbara von Kutzschenbach, die einen Säugling auf dem Arm trug und ein etwa Dreijähriges an der Hand hielt, die Gäste in breitem Berndeutsch willkommen hiess. Ein stattliches Weibervolk mit kräftigen Armen und breitem Becken, wie eine Emmentaler Bäuerin, dachte Simon.
«Du kannst jetzt das Nachtessen vorbereiten», wies Herr von Kutzschenbach seine Frau an. «Und ihr kümmert euch um die drei Jungen», befahl er seinen Kindern. «Ich zeige Herrn und Frau Diepoldswiler unterdessen Mamutlie. Nach der Mahlzeit können wir», er wandte sich an Simon, «das Geschäftliche erledigen. Morgen nach dem Gottesdienst werden wir einen Ausflug zum Steppensee und zur Almkäserei machen. Ich hoffe, Sie und Ihre Familie geniessen den Aufenthalt bei uns.»