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Am Sonntag nach dem Besuch auf Mamutlie ritt Simon auf seinem Kabardiner Verdandi südwärts durch die Steppe. Er hatte den Arm um Hannes gelegt, der vor ihm im Sattel sass. Vater und Sohn wurden begleitet von Lewan Gabaschwili, einem Georgier aus dem Dorf, Cornelius Fresendorff und Wassilij. Der Russe sass, seinem Alter zum Trotz, noch immer gut im Sattel. Er hatte darum gebeten, mitkommen zu dürfen. Die Männer hatten ihre Nabadis, Hirtenmäntel, die man beim Schlafen als Decken benutzen konnte, hinter ihren Sätteln aufgeschnallt. Ihr Ziel war Baron von Fenzlaus ehemalige Jagdhütte am Ufer des Pinesauri. Sie würde Gabaschwili als künftige Wohnung dienen. Nachdem durch den Erwerb des Kutzschenbachschen Forsts die Waldungen von Eben-Ezer markant grösser geworden waren, hatte sich Simon entschlossen, dem jungen Mann, der bis dahin in der Zimmerei von Hovhannes Stepanyan gearbeitet hatte, das Amt eines Wald- und Wildhüters anzuvertrauen.

Ab und zu warf Simon einen Blick auf Cornelius. Er hatte nicht vergessen, wie erbärmlich der junge Mann bei seiner Ankunft auf Eben-Ezer auf seinem Maulesel gesessen war. Damals hatte er sich vorgenommen, ihm das Reiten beizubringen. «Hier draussen müsst Ihr mit einem Pferd umgehen können», hatte er ihm erklärt. «Ihr werdet mich von jetzt an einmal in der Woche begleiten, wenn ich bei den Hirten, die mein Vieh hüten, zum Rechten sehe.»

«Ich muss doch Karl und Hannes das Abc beibringen», hatte Cornelius einzuwenden gewagt. Ihm graute davor, mit dem Patron durch die Steppe zu galoppieren.

«Den Unterricht könnt ihr am Mittwochnachmittag nachholen, wenn die Buben freihaben.» Simon war energisch geworden: «Wenn einmal eine Bande von Tataren hinter Euch her ist, werdet Ihr froh sein, reiten zu können. Und wenn wir schon davon sprechen», er hatte den Schulmeister streng angeschaut, «könnt Ihr mit einem Gewehr umgehen?»

«Um Himmels willen!» Der Balte war ehrlich entsetzt gewesen. «Ich habe noch nie eine Flinte in den Händen gehabt. Ich bin ein friedlicher Mensch. Von meinem Vater habe ich gelernt, Wunden zu heilen, nicht welche zuzufügen.»

«Dann ist es höchste Zeit, dass sich das ändert. Ich werde Euch schiessen lehren. Glaubt mir: Früher oder später werdet Ihr es brauchen. Ihr seid nicht mehr in Libau. Dies ist ein wildes Land, und wer sich nicht zu wehren weiss …» Simon hatte den Satz nicht beendet.

Zu seiner Befriedigung sass Fresendorff inzwischen ganz passabel im Sattel. Mit seinen Schiesskünsten war es allerdings nicht weit her. Noch immer erschrak er, wenn er den Abzug betätigte, und verzog regelmässig jeden Schuss.

Es war ein herrlicher Frühsommertag. Das kniehohe Gras, das reif für den ersten Schnitt war, beugte sich unter einer sanften Brise. Simon machte Hannes auf fünf grosse Vögel aufmerksam, die mit weit ausgebreiteten Schwingen scheinbar schwerelos hoch über ihnen am Himmel kreisten. «Das sind Gänsegeier», sagte er. «Du erkennst sie an ihrem hellbraunen Federkleid und den fast schwarzen Schwingen, dem weissen Kopf und dem kurzen Schwanz. Sie wohnen im Gebirge.»

«In den Nassen Bergen?»

Dass sich der Bub noch an den Namen erinnerte!

Am Pfingstsonntag waren die Diepoldswilers mit Alexander von Kutzschenbach auf die Hochebene gestiegen, die zu dessen Besitz gehörte. Es war eine baumlose, mit dichtem Gras bewachsene Steppe. Sophie war von den zahlreichen Blumen, die da oben wuchsen, entzückt gewesen. Sie hatte verschiedene Enziane und Hyazinthen entdeckt, rote, blaue und weisse Bergkornblumen, ferner zahlreiche Arten von Glockenblumen, Rittersporn, Eisenhut und sogar eine ihr unbekannte Orchideenart: ein einzelner, purpurroter Kelch auf einem hohen Stängel.

Man befinde sich auf rund tausendsiebenhundert Meter über dem Meer und auf dem Breitengrad von Nizza, hatte ihr Herr von Kutzschenbach erklärt. Sowohl für Menschen und Tiere als auch für die Vegetation sei das Klima ausserordentlich günstig. Er habe hier oben eine Käserei, denn er nutze das Plateau als Sömmerung für sein Vieh.

Man picknickte am Ufer eines Stausees, den man als Reservoir für die Bewässerung des Talkessels von Mamutlie angelegt hatte. Fern im Norden schienen die mit Schnee und Eis bedeckten Gipfel des Grossen Kaukasus bis in den Himmel zu ragen. Im Süden schimmerte bläulich die Kette der Nassen Berge, die von den Einheimischen Kriego genannt wurden. Sie waren bis zu dreitausend Meter hoch und trennten Georgien von Armenien.

«Ja, vielleicht nisten die Geier in den Nassen Bergen», bestätigte Simon. «Vielleicht auch im Dschawachetischen Gebirge, wer weiss das schon.»

Hannes schwieg. Man war nun bereits seit zwei Stunden unterwegs. Er lehnte den Kopf gegen die Brust seines Vaters, der ihn an sich zog. Nach einer Weile schlief er ein.

Cornelius Fresendorff, der sich bisher mit Gabaschwili unterhalten hatte, lenkte sein Pferd neben jenes von Simon. «Lewan erzählt mir, Mamutlie sei ein kleines Fürstentum. Die Tataren würden Herrn von Kutzschenbach Boeg-Aga nennen – grosser Herr.»

Simon lachte. «Jedenfalls herrscht er über viele Leute: deutsche Handwerker und Schweizer Käser, deren Kinder in der Kirche, die unter der Woche als Schulhaus dient, unterrichtet werden. Die Hofknechte sind fast durchweg Ungläubige. Ihre Frauen werden als Melkerinnen beschäftigt. Zu Mamutlie gehören ausserdem noch fünf weitere Güter. Bogas-Kessan bewirtschaftet von Kutzschenbach selbst, die andern vier hat er an Einheimische verpachtet.»

«Und weshalb macht er das?»

«Wahrscheinlich findet er, es sei klüger, von den Tataren Pachtzins zu bekommen, als sie sein Vieh stehlen zu lassen.»

«Also ist er das – ein Boeg-Aga?»

Simon zuckte mit den Schultern. Genau darüber hatten er und Sophie auf der Rückreise nach Eben-Ezer eine Auseinandersetzung gehabt.

Als sie am Pfingstmontag, erneut begleitet von vier Leibwächtern, in ihrer Kutsche heimwärts gefahren waren, hatte Sophie aus dem Fond des Gefährts spöttisch bemerkt: «Eine Oase deutschen Schaffensgeists.»

«Wie bitte?» Simon, der die Zügel in den Händen hielt, hatte den Kopf halb nach hinten gedreht.

«Mamutlie sei eine Oase deutschen Schaffensgeists, hat er am Samstag gesagt, und gestern, als wir mit den Kutzschenbachs in die Kirche gingen, nannte er sein Gut ‹ein deutsches Dorf nach deutscher Art und in deutschem Geist›. Hast du das nicht gehört?»

«Ist es denn nicht so?», hatte sich Simon gewundert.

«Nun, mir will scheinen, beim Aufbau der Siedlung hätten auch Schweizer geholfen, Grusinier, Armenier, Griechen, Perser und Tataren. Ich weiss das von seiner Frau. Auch Barbara hat ihren Beitrag geleistet: Sie kümmert sich nicht nur um die Hauswirtschaft, sondern auch um die Herrschaften aus Tiflis, Leute von der Regierung mit ihren Frauen, die nach Mamutlie kommen, um zu sehen, wie man sich dort inmitten von Räuberdörfern eingerichtet hat. Die arme Frau!» Sophie seufzte.

«Weshalb soll sie eine arme Frau sein?»

«Ist dir an ihren Kindern nichts aufgefallen?»

«Es sind ganz normale gesunde Buben und Mädchen.»

«Karl, der älteste, ist sechzehn», begann Sophie aufzuzählen. «Margarethe fünfzehn, Alex zwölf, Kurt zehn.» Sie machte eine Pause. «Elisabeth ist drei, und Marie kam letztes Jahr auf die Welt.» Sophie schaute ihren Mann bedeutungsvoll an.

Simon zuckte mit den Schultern. «Ja und?» Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte.

«Zwischen Kurt und Elisabeth ist eine Lücke von sieben Jahren! Barbara hat in dieser Zeit vier weitere Kinder geboren. Drei von ihnen wurden innerhalb einer Woche von der Bräune dahingerafft. Sie waren damals zwischen zwei und vier Jahre alt. Das vierte Kind, ein sechsjähriges Mädchen, ging ein Jahr darauf elend an der Brechruhr zugrunde. Sie alle liegen auf dem Friedhof von Mamutlie. Kannst du dir vorstellen, was es heisst, vier Kinder zu verlieren?»

Simon, der auf dem Kutschbock sass, wandte ihr den Rücken zu, so dass sie nicht sehen konnte, wie sich sein Gesicht verfinsterte. Der Tod hatte ihn während seiner ganzen Kindheit und Jugend begleitet. Als er neun Jahre alt war, stand er am Sarg seiner Mutter, die zusammen mit dem Brüderlein begraben wurde, das sie tot zur Welt gebracht hatte. Zwei Jahre später schleiften zwei durchgebrannte Pferde seinen Vater zu Tode. Er war dreizehn gewesen, als seine Schwester Esther, die von ihrem Vetter vergewaltigt worden war, ihre Leibesfrucht von einer Kurpfuscherin abtreiben liess und den Eingriff nicht überlebte. Fünf Jahre darauf krepierte sein Bruder Jakob nach langem Leiden an der Schwindsucht. Sophie brauchte ihn nicht zu fragen, ob er sich vorstellen konnte, wie Barbara von Kutzschenbach gelitten haben musste. Wahrscheinlich hatte sie, so wie er, den Schmerz in sich hineingefressen.

Karl, der dem Gespräch gefolgt war, enthob Simon einer Antwort, die wohl schroff ausgefallen wäre. «Was ist die Bräune?», fragte er.

Sophie erstarrte. Die Halsenge, wie die Bräune auch genannt wurde, war der Schrecken aller Mütter. Die Schwaben in Katharinenfeld bezeichneten die Krankheit als den Würgeengel der Kinder. Sie forderte auf der ganzen Welt Jahr für Jahr Zehntausende von Opfern. «Das ist eine furchtbare Krankheit. Die Ärzte nennen sie Diphterie», erklärte sie. «Im Rachen entwickelt sich ein schlecht riechender, weissgelblicher Belag, man hat starke Schmerzen im Hals, man hat Fieber, man hustet, und das Atmen fällt einem immer schwerer. Mayranoushs kleiner Sohn, mein Milchbruder Hovan, ist daran gestorben – und eben, drei Kinder von Frau Kutzschenbach.»

«Und die Brechruhr?» Karl wollte immer alles ganz genau wissen.

«Das kann ich dir sagen.» Simon drehte den Kopf zum Jungen, der schräg hinter ihm sass. «Sie brach auf dem Schiff aus, mit dem wir mit der Auswandererharmonie der Kinder Gottes von Schwaikheim, einer Gruppe von Frömmlern», er lachte trocken, «die Donau hinuntergefahren sind. Mich hat es auch erwischt. Man kann seinen Stuhl nicht zurückhalten, und man kotzt sich die Seele aus dem Leib. Es ist, als müsse man auslaufen. Ausserdem sinkt die Körpertemperatur, man friert ständig und phantasiert wirres Zeug. Vierzehn von uns sind gestorben. Wir haben sie auf einer Donauinsel bestatten müssen. Ich habe nur überlebt, weil mein Bruder mich gepflegt hat.» Er verstummte und liess seine Schultern fallen.

Sophie legte Karl die Hand auf den Arm und bedeutete ihm, keine weiteren Fragen mehr zu stellen.

Gestern nach dem Gottesdienst in der Kirche von Mamutlie hatten sie und Barbara die vier Kindergräber besucht. Die Mutter war mit gefalteten Händen und unbewegtem Gesicht dagestanden. Betete sie? Aus ihrem hochgesteckten Haar hatte sich eine Strähne gelöst und war ihr ins Gesicht gefallen. Sie schien es nicht zu bemerken. Als Sophie sie nach einer Weile fragte, wie sie diesen vierfachen Schicksalsschlag überlebt habe, zitierte Barbara aus dem Buch Hiob: «Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?» Wie fast alle Kolonistenfrauen war sie bibelfest. Sie lese, gestand sie, jeden Tag ein Kapitel aus der Heiligen Schrift und schöpfe daraus Kraft.

«Die arme Frau», wiederholte Sophie. «Zehn Mal war sie bisher schwanger. Neben der Erziehung der Kinder muss sie für die ganze Familie kochen und plätten. Zusammen mit ihrer hochbetagten Mutter flickt und näht sie bis tief in die Nacht hinein. Es hat Jahre gedauert, bis sie eine tüchtige Hausangestellte aus der Schweiz bekam, Käthi Bieri, die jetzt mit Gottlieb Graf verheiratet ist. Stell dir vor: Barbara war noch nie in Tiflis, obwohl ihr Mann häufig dort ist und sich von den Einheimischen als Boeg-Aga ansprechen lässt – hoher Herr, als sei er ein englischer Sahib in Indien.»

«Was stört dich daran?»

«Wie nennen dich unsere Leute auf Eben-Ezer?»

«Simon, sagen sie zu mir, und manchmal Patron.»

«Eben. Und weshalb beschäftigst du auf unserem Hof keine Schweizer und Deutschen?»

«Die Grusinier und Armenier, die bei uns leben, sind tüchtige Leute, die ihr Handwerk verstehen. Und was das Käsen betrifft, so haben Dawit Achwlediani und seine Söhne rasch begriffen, wie man Emmentaler produziert. Was soll ich also Schweizer anstellen, die erst noch eine höhere Entlöhnung erwarten?»

«Die Schweizer von Herrn von Kutzschenbach haben sich, nachdem sie genügend Geld erspart hatten, selbstständig gemacht, so wie unser Nachbar, Gottlieb Graf», sagte Sophie. «Sie haben von adeligen Grossgrundbesitzern Land gekauft, auf dem seit Generationen Einheimische als Pächter und Kleinbauern lebten. Den armen Leuten blieb nichts anderes übrig, als sich den neuen Herren als Hirten und als Melkerinnen anzudienen.»

«Worauf willst du hinaus?»

«Kurz vor seinem Tod hat mein Vater in sein Lebensbuch geschrieben: Wir Siedler sind nur zu Gast in diesem Land, und es wird sich eines Tages rächen, dass wir uns aufführen, als gehöre es uns. Der Boeg-Aga auf seiner ‹Oase deutschen Schaffensgeists› täte gut daran, sich diesen Satz hinter die Ohren zu schreiben, statt immer mehr Fremde anzustellen, die den Einheimischen ihr Land wegnehmen.»

«Lewan hat mir von Räuberbanden erzählt, welche die Gegend um Mamutlie unsicher machen», unterbrach Cornelius Simons Gedankengänge. «Wie setzt sich Herr von Kutzschenbach gegen sie zur Wehr?»

«Er hat eine bewaffnete Leibwache, zehn berittene Tataren.» Ihm scheine, hatte Simon vor einer Woche zum Deutschen gesagt, seine Garde unterscheide sich nicht gross von den tatarischen Viehdieben, mit denen er sich auf Eben-Ezer herumschlage. Von Kutzschenbach hatte gelacht. «Die meisten von ihnen waren wohl selbst Räuber, bis sie in meine Dienste traten. Wie heisst es so schön? Der Armenier treibt Handel, der Georgier feiert, der Russe trinkt Wodka, und der Tatar stiehlt.» Tatsächlich kenne kaum ein Asiate die deutschen Begriffe Zuverlässigkeit, Pflichttreue und Pünktlichkeit, fuhr er fort. Man müsse sie behandeln wie Kinder: streng, aber gerecht. Nur durch ein gutes Beispiel und Erziehung gelinge es, aus einem Tataren einen brauchbaren Menschen zu machen.

Kurz vor der Abreise hatte Alexander von Kutzschenbach Simon noch eine Warnung mit auf den Weg gegeben: «Mein Haupttschapar Allachwer wird euch mit drei seiner Leute bis Kariani begleiten und dort Zviad Ratischwili einen Brief übergeben, in dem ich ihm mitteile, dass ich mich entschieden habe, meinen Wald bei Dmanissi Ihnen und nicht ihm zu verkaufen. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht. Er ist ein cholerischer Mensch und wird meinen Entschluss nicht einfach akzeptieren. Wenn ich Ihnen raten darf: Seien Sie auf der Hut vor ihm. Die Ratischwilis sind eine gewalttätige Brut. Sie sind es schon immer gewesen.»

Er sei nie unbewaffnet unterwegs, hatte Simon erwidert, und er wisse sich zu wehren.

Kaukasische Sinfonie

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