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Seit einem Jahr gab es auf Eben-Ezer einen neuen Bewohner: Cornelius Fresendorff, den Hauslehrer von Karl und Hannes, die inzwischen acht-, respektive siebenjährig waren. Er wolle nicht, dass seine Buben bei den Schwaben in Katharinenfeld zur Schule gehen, hatte Simon erklärt. Dort würden sie zusammen mit fünf Dutzend anderen Kindern unterrichtet und lernten wenig bis nichts. Er wusste, wovon er sprach. Er selbst war in seiner Kindheit im Emmental während sechs Jahren im Winterhalbjahr mit fünfundsiebzig Leidensgenossen in einer engen Stube eingepfercht gewesen, wo ein überforderter Schulmeister mit zweifelhaftem Erfolg der ungebärdigen Schar die Grundlagen des Schreibens und Rechnens eingeprügelt hatte. Tatsache war, dass Simon noch heute keinen fehlerfreien Brief zustande brachte. Dass er fähig war, die Bücher eines Gutsbetriebes zu führen, verdankte er den Brüdern Hieronymus und Benedict Lüthi, bei denen er das Käserhandwerk erlernt hatte.

«Ich will, dass wir für Karl und Hannes einen Hauslehrer anstellen», hatte Simon gesagt. «Am besten einen aus dem Baltikum.» Dort spreche man Deutsch und Russisch, und richtig Russisch sprechen und schreiben müssten die Buben lernen, wenn sie es in Grusinien zu etwas bringen wollten. Er hatte einem Agenten in Tiflis den Auftrag gegeben, in Riga in der Zeitung für Stadt und Land ein entsprechendes Inserat aufzugeben.

Immer wenn sie an Cornelius Fresendorffs Ankunft auf Eben-Ezer dachte, musste Sophie lächeln. Sie und Simon hatten am Teich im Blumengarten miteinander geplaudert, als ein Fremder durch die Birnbaumallee aufs Herrenhaus zuritt. Sie sahen ihm belustigt entgegen. Der Mann fühlte sich sichtlich unwohl auf seinem Maulesel. Ein zweites Tier, das sein Gepäck trug, führte er am Halfter neben sich her. Er war kleingewachsen und etwas rundlich. Seinem noch unfertigen, bartlosen Gesicht konnte man entnehmen, dass er nur wenig über zwanzig war. Er trug einen schwarzen Anzug, ausserdem einen breitkrempigen Hut. Durch die runden Gläser seiner Brille musterte er das Ehepaar und fragte, ob dies hier das Gut der Diepoldswilers sei.

Sophie wurde warm ums Herz. Er sprach das Deutsch der Balten, dasselbe, das ihr Vater gesprochen hatte. «Ihr seid gewiss unser neuer Hauslehrer. Herzlich willkommen auf Eben-Ezer!», begrüsste sie ihn.

Er stieg umständlich von seinem Tier und zog den Hut, unter dem ein schwarzer Haarschopf zum Vorschein kam. Er deutete eine Verbeugung an und schlug die Hacken zusammen. «Gestatten», sagte er, «Cornelius Fresendorff.» Die lange Fahrt mit der Eisenbahn und in Postkutschen habe ihm die Seele aus dem Leib geschüttelt, klagte er. Dass er am Schluss in Katharinenfeld noch zwei Maulesel habe mieten müssen, ausgerechnet er, der weiss Gott kein Reitersmann sei, habe seiner Reise nach Grusinien die Krone aufgesetzt.

«Ihr seid also aus den Ostseeprovinzen», eröffnete Simon beim Nachtessen, das man wie üblich gemeinsam mit dem Gesinde einnahm, das Gespräch. Er bemühte sich, jenes Hochdeutsch zu sprechen, das er aus den Büchern Gotthelfs kannte. Üblicherweise blieb er beim Berndeutschen. Mit den Dienstboten und den Leuten aus dem Dorf redete er ein fehlerhaftes Russisch, das er sich im Laufe der Jahre mühsam angelernt hatte.

«Aus Kurland», beantwortete Fresendorff Simons Frage, «um genau zu sein, aus Libau, wo mein Herr Vater als Arzt praktiziert.»

«Und studiert habt Ihr in Sankt Petersburg?»

«Ja. Mein Vater, dem ich in meiner Jugend oft assistiert habe, hätte es zwar lieber gesehen, wenn ich nach Dorpat gegangen und Medikus geworden wäre, wie er. Aber ich habe mir in den Kopf gesetzt, klassische Philologie und Geschichte zu studieren.»

«Philosophie, meint Ihr wohl?», fragte Simon.

«Nein, Philologie – Sprachwissenschaften.» Der junge Mann säbelte ein grosses Stück vom Schmorbraten ab, den Sophie nach einem Rezept ihrer Grossmutter zubereitet hatte. Er balancierte es auf seinen Teller, zerkleinerte es, spiesste ein Stück ums andere mit seiner Gabel auf und spülte alles mit einem tüchtigen Schluck Wein hinunter. Klassische Philologie, dozierte er, beschäftige sich mit altgriechischen und lateinischen Texten, mit Dramen, Epen und Lyrik, aber auch mit historiographischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Zeugnissen der alten Römer und Griechen.

«Aha», sagte Simon und machte ein ratloses Gesicht. Ihm wurde bewusst, dass er einen seltsamen Vogel auf den Hof geholt hatte.

Sophie wirkte eher besorgt. «Und das alles müssen meine Buben jetzt bei Euch lernen?»

«Gott bewahre!» Fresendorff hielt Wassilij, dem alten Diener des Barons, der den Mundschenk machte, das leere Weinglas hin. «Ich bringe ihnen zuerst einmal Lesen und Schreiben bei, auf Deutsch und Russisch, dann Rechnen, später Geschichte, Naturkunde und Geografie. Wenn es Euch recht ist, beginne ich mit dem Unterricht gleich morgen: vier Stunden am Vormittag, zwei am Nachmittag. Am Mittwoch- und am Samstagnachmittag sollen sie frei haben.»

Sophie sah ihren Mann fragend an. Der zuckte mit den Schultern. «Das ist in Ordnung», meinte sie. «Ich habe im Anbau ein Schulzimmer eingerichtet: ein Pult und eine Wandtafel für Euch, zwei kleine Tische und Schiefertafeln samt Griffel für Karl und Hannes. Wenn Ihr mehr braucht, so sagt es mir.»

Cornelius Fresendorff lebte sich auf Eben-Ezer ein. Sobald sie die Schulstube betraten, war ihr Lehrer für Karl und Hannes die höchste Autorität. Sie fügten sich willig seinen Anweisungen, bemühten sich, seinen Anforderungen gerecht zu werden, und gierten nach seinem Lob. Mayranoush schloss den jungen Mann, der ihr, so gelehrt er auch sein mochte, etwas weltfremd erschien, in ihr Herz. Sie half ihm, seine beiden Kammern unter dem Dach einzurichten: einen Schlafraum und eine Stube mit einem Kanonenofen, der im Winter für behagliche Wärme sorgte. In dieser kleinen Wohnung hatte Simon vor seiner Heirat gelebt. Die Armenierin bat Hovhannes Stepanyan, den Zimmermann, für den neuen Lehrer ein Regal anzufertigen, in das er seine vielen Bücher einordnen konnte. Sie selbst nähte ihm Kleider, die hier draussen in der Steppe praktischer waren als sein schwarzer Anzug.

Wenn die Buben im Bett waren, trafen sich die Diepoldswilers mit Mayranoush und Cornelius im Salon. Wie schon zu Zeiten des Barons wurde für die Männer Cognac serviert, während die Frauen aus winzigen Tassen stark gesüssten türkischen Kaffee tranken. Man plauderte, erzählte sich Geschichten und Fresendorff las aus Büchern vor, welche die anderen nicht kannten. Ab und zu sang Sophie Lieder aus Des Knaben Wunderhorn und begleitete sich dazu auf dem Klavier.

Eines Abends brachte der Balte eine Klarinette mit. Er habe in Sankt Petersburg in einem Orchester mitgespielt, sagte er, und wenn sie nichts dagegen habe, so könne man gemeinsam musizieren.

«Was möchtet Ihr denn spielen?», fragte Sophie.

Ob sie den Walzer aus der Schönen Helena von Jacques Offenbach kenne?

Sophie erstarrte. Im Sommer vor neun Jahren hatte eine Kosakeneinheit, die zur russisch-osmanischen Grenze unterwegs war, auf dem Gutshof drei Tage gerastet. Baron von Fenzlau hatte den Offizieren in seinem Haus Gastrecht gewährt. Auf seinen Wunsch hatte Sophie, damals ein siebzehnjähriges, törichtes Ding, zur Unterhaltung der Gäste Leutnant Schota Awalischwili, der seine Violine mit sich führte, auf dem Piano zu Offenbachs Walzer begleitet. Sie hatte sich in den gut aussehenden jungen Mann verguckt. Am nächsten Tag war sie auf dem Hügel bei der alten Kapelle, dort, wo jetzt das Grab ihres Vaters war, von ihm verführt worden. Hätte Simon sie nicht geheiratet und ihren Erstgeborenen, Karl, als eigenen Sohn anerkannt, würde sie heute ein vaterloses, unter liederlichen Verhältnissen gezeugtes Kind aufziehen müssen. Ihr Mann wusste nichts Genaues von den Umständen, die zu ihrer Schwangerschaft geführt hatten. Er wollte es auch gar nicht wissen, denn das gehörte zu den Dingen, über die man auf Eben-Ezer nicht sprach.

Und jetzt kam dieser Mensch aus Kurland und wollte mit ihr den Walzer spielen, der sie, nachdem der Leutnant weitergeritten war, über Wochen als Ohrwurm gequält hatte. «Nein!», sagte sie schroff. «Ich kenne das Stück nicht und will es auch nicht kennenlernen.»

Fresendorff schaute sie verwundert an und spielte dann die ersten Takte von Ännchen von Tharau. «Aber das habt Ihr gewiss schon gehört?»

Sophie nickte. Sie kannte das populäre Liebeslied.

Von diesem Abend an spielten die beiden regelmässig deutsche und russische Volkslieder – er mit seiner Klarinette die Grundmelodie, sie die Begleitung. Wenn Sophie sang, dann intonierte der Hauslehrer, zum Vergnügen von Simon und Mayranoush, die zweite Stimme. Karl, Hannes und der fünfjährige Jakob stiegen aus den Betten und schlichen sich in ihren Hemden vor die Tür des Salons, um zuzuhören. Und selbst der alte Wassilij, zu dessen Pflichten es gehörte, die sechs Ulmer Doggen aus ihrem Zwinger zu befreien, damit sie nachts das Anwesen schützten, blieb draussen auf dem Platz vor dem Haus unter dem offenen Fenster stehen und lauschte.

Cornelius Fresendorff war ein musikalischer Mensch, dem Jakobs Talent nicht verborgen blieb. Er war der Meinung, das Kind sei alt genug, die Grundzüge der Musiktheorie kennenzulernen. «Wenn mich nicht alles täuscht, verfügt Euer Jüngster über eine ausserordentliche Begabung, die unterstützt werden muss», sagte er zu Sophie. Er würde sich freuen, Jakob einmal in der Woche unterrichten zu dürfen. Zögernd stimmte sie zu, und so lehrte Fresendorff Jakob seit einem halben Jahr die Notenschrift, sprach mit ihm über Taktarten und Rhythmen, über Tonhöhen, Intervalle und Akkorde, und selbst die systematische Anordnung aller zwölf Dur- und Molltonarten im Quintenzirkel erläuterte er ihm.

Bereits nach kurzer Zeit war Jakob in der Lage, einfache Lieder ab Blatt zu spielen. Sobald er die Melodien im Kopf hatte, begann er sie zu variieren. Tatsächlich schien ihm das Improvisieren und das Erfinden neuer Melodien mehr Freude zu machen als das strenge Spiel nach Vorgabe.

«Du musst zuerst die Grundlagen beherrschen, bevor du zu komponieren beginnst», versuchte Cornelius Fresendorff ihn zu bremsen.

«Aber die Melodien sind hier drin!» Der Bub schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Sie wollen hinaus. Ich muss sie spielen.»

Kurz vor Weihnachten gab der Balte Jakob den Klavierauszug des ersten Satzes der Berchtoldsgaden-Musik. «Versuch das einmal!», forderte er ihn auf. «Es stammt von Leopold Mozart, dem Vater des grossen Wolfgang Amadeus, der bereits als Sechsjähriger in Konzertsälen aufgetreten ist.»

Jakob setzte an, spielte die ersten Takte, zögerte, spielte weiter. Manchmal unterliefen ihm Fehler. Sein Lehrer stand daneben, schweigend. Sophie verkrampfte die Hände. «Das ging schon ganz ordentlich», meinte Fresendorff, als der Junge schliesslich aufblickte. «Das werden wir jetzt üben, bis es sitzt, und so werden wir es in Zukunft mit allem halten, was ich dir gebe.»

Kaukasische Sinfonie

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