Читать книгу Fühl´ Dich umarmt! - Werner Tiki Küstenmacher - Страница 9
Оглавление5 | DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil wir wieder Amseln singen hören |
Ja, Quarantäne, das kennt er. Es ist nur ein paar Jahre her, erzählte mir ein junger Mann, da musste er wegen einer unbekannten ansteckenden Krankheit mehrere Wochen lang in einem Klinikzimmer verbringen, streng abgeschlossen von allen. Untersucht und betreut wurde er von vollständig vermummtem Personal. Nicht einmal das Fenster durfte er öffnen. Aber er konnte durch die Filtermatten der Lüftungsschlitze eine Amsel vor seinem Fenster singen hören. Dieser Gesang, sagte er, war seine Rettung. Der war für ihn wie ein Strohhalm, an dem sich seine Seele festhalten konnte. Dass die Amsel einfach so unbeschwert ihre herrlichen Melodien sang, war für ihn eine Botschaft: Das Leben ist stärker als jede Bedrohung.
Was er damals nicht wusste: Amseln sind geradezu ein Symbol für die Auferstehung. 2010 starben bei uns in der Region sehr viele durch das Usutu-Virus. Danach erholten sich die Bestände langsam, aber 2019 schlug das Virus erneut zu. Doch inzwischen sind wieder überall Amseln zu hören.
Amseln singen reine Melodien. Instrumentals sozusagen, ohne Text. Gäbe es eine Software, die ihre Töne in unsere Sprache übersetzt – ich könnte mir gut vorstellen, dass ein Jesuszitat dabei herauskäme: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“
Die Amsel wird in der Literatur und in der Musikwissenschaft hoch geschätzt. Im Unterschied zu den meisten heimischen Vögeln haben Amseln ein umfangreiches Repertoire mit über 30 Melodien. Sie übernehmen Tonfolgen von anderen Amseln, aber auch von anderer Musik, die sie zu hören bekommen. Als 2007 bei einer Kunstaktion viele Bonner Beethovens „Ode an die Freude“ als Klingelton in ihr Handy luden, integrierten einige Amseln Passagen aus „Freude, schöner Götterfunke“ in ihren Gesang.
Die kleinen Arien der Amseln bestehen aus eigenwilligen atonalen Passagen, die menschlichem Musikgeschmack fremd vorkommen. Aber sie enthalten auch kunstvolle Melodien, die in unserem Notensystem aufgeschrieben werden können. Sie können eine faszinierende Wirkung entfalten, so wie sie den jungen Mann in der Einsamkeit seiner Quarantäne getröstet haben.
Wenn Sie gerade keine Amsel vor dem Fenster haben: Suchen Sie auf YouTube nach Paul McCartneys wundervoller Ballade „Blackbird“, aufgenommen 1968. Die Amsel steht dort stellvertretend für eine afroamerikanische Frau in den damaligen Unruhen der Bürgerrechtsbewegung.
WTK