Читать книгу DIE SEELE IM JENSEITS - Whitley Strieber - Страница 13
2 DUNKELHEIT SENKT SICH HERAB
ОглавлениеAls meine brillante, kluge Frau in eine persönliche Ferne blickte, sagte sie leise: »Whitley, es ist Zeit.«
So sehr wollte ich fragen: »Zeit wofür?« Ich wollte, dass sie damit meinte, sie freue sich auf eine weitere Episode unseres gemeinsamen Lebens. Aber das war es nicht, und ich wusste es. Seit der Operation vor zwei Jahren war ihr Tumor nicht gewachsen, aber der nicht entfernte Teil belastete nun die Blutgefäße in ihrem Gehirn. Die Ärzte hatten uns gewarnt, dass die Schlaganfälle, die sie immer wieder erlitt, sich verschlimmern würden.
Vor ein paar Tagen war Annes linke Körperhälfte schwächer geworden. Die Zukunft war düster: weitere Schlaganfälle, an denen sie schließlich sterben würde. Die größte Gefahr sah ich darin, dass sie, bevor das eintrat, ihr Sprechvermögen verlieren und dann gezwungen sein würde, einen langsamen, hilflosen Tod zu sterben, möglicherweise unter Schmerzen leidend, die sie nicht mehr artikulieren konnte.
Unser gemeinsames Leben war ein zarter, komplexer Tanz gegenseitigen Entdeckens und eine Freude gewesen, die ich mir nie hätte erträumen können, bevor ich diesen vielschichtigen und doch aufgeschlossenen, liebevollen Menschen kennenlernte.
Schon viele Male war es mir gelungen, Anne doch noch zum Bleiben zu überreden. Ich hatte sie angefleht, ich hatte alles getan, um ihr trotz des Gehirntumors und der zunehmenden Lähmung ihres Körpers ein reiches Leben zu ermöglichen.
Wir hatten oft über das Lebensende gesprochen. Sie hatte ihre Situation gründlich analysiert und Vorkehrungen getroffen, dass sie in Würde und unter Beachtung aller gesetzlichen Vorschriften dieses Leben verlassen konnte.
Was bedeutete, mich zu verlassen, für den sie mehr als nur die Hälfte seines Lebens war.
Im vorigen Januar hatte sie gesagt, sie hätte gebetet, dass der Schlaganfall, der ihre linke Körperhälfte lähmte, ihr Leben beenden möge. Stattdessen war sie seitdem unfähig, aus dem Sessel aufzustehen, ihren linken Arm zu gebrauchen, zu lesen, selbst das Fernsehen fiel ihr nun schwer. Annes Verstand war so scharf wie eh und je, aber ihre Augen und Ohren hatten zunehmend Mühe, die Welt um sie herum wahrzunehmen. Ihr brillanter Geist war nun gefangen hinter einer Mauer aus stark beeinträchtigten Sinnesleistungen.
Ich las ihr vor, erklärte ihr Dinge, hielt sie auf dem Laufenden über das, was in der Welt geschah. Weil es allein schon enorm anstrengend war, Anne vom Bett in den Sessel zu heben, engagierten wir Helfer, die uns den Alltag erleichterten. Ich sorgte dafür, dass sie weiterhin Dinge erleben konnte, die ihr Freude machten, und sei es etwas so Simples wie der Besuch in einem Eiscafé. Ich tat alles, damit ihr Leben so reich und erfüllt war wie unter diesen Umständen möglich. Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten gingen wir ins Kino und ins Theater, besuchten Restaurants und den wöchentlichen Lesekreis, den wir beide sehr liebten – kurz: Wir machten weiterhin das Beste aus unserem Leben.
Wenn sie etwas nicht verstand, erklärte ich es ihr später, und es gelang uns, diese Gespräche zu einem Vergnügen für uns beide zu machen. Während alledem bewahrte sie sich ihren Enthusiasmus, auch bei Rehabilitation und Physiotherapie. Aber es blieb diese Tumormasse, die eine Besserung von Annes Zustand verhinderte, trotz aller Therapiemaßnahmen. Zwischen Januar und Juli hatte sie drei Therapiesitzungen pro Woche, die nichts bewirkten.
Als ihre Schwäche sich verstärkte, schlug ich vor, im Krankenhaus feststellen zu lassen, ob sie einen weiteren Schlaganfall erlitten hatte. Aber Anne hatte genug von Krankenhäusern.
Sie war so geistreich und wunderbar wie eh und je, voller Freude, Weisheit und Humor. Sie hatte keine Angst. Ganz im Gegenteil war sie ruhig und pragmatisch. An einem Tag Anfang August sagte sie mir, dass sie nun ihren Lebensende-Plan ausführen würde, der darin bestand, nicht mehr zu essen und zu trinken.
Ich hatte so hart dafür gekämpft, dass dieser Augenblick nicht kam. Und doch war ein Teil von mir so erschöpft, dass der Gedanke, nicht länger unter der dunklen Last Annes ständiger Betreuung leben zu müssen, etwas Befreiendes hatte – was meinem Schmerz zusätzlich um Schuldgefühle verstärkte. Ich wollte, dass sie bei mir blieb, wusste aber, dass ich selbst am Ende war. Mein linkes Knie war durch das viele Heben von Annes Körper zerstört. Ich litt unter ständigen Rückenschmerzen. Um überhaupt noch durchzuhalten, verbrachte ich die Nächte damit, meine Glieder mit Eisbeuteln zu kühlen. Ich musste zwei Mal pro Woche zum Chiropraktiker, manchmal öfter. Ich konnte nicht schreiben, weswegen wir uns erneut in einer gefährlichen finanziellen Abwärtsspirale befanden.
Die Wahrheit war, dass ihre Krankheit uns beide vollkommen erschöpft hatte. Ich sah, wie sie mich ansah, während ich sie hochhob, kochte, putzte und so weiter. Trotz unserer Helfer schaffte ich es nicht länger, und das wusste sie.
Da sie nicht mehr reisen konnte, sahen wir unsere Enkelkinder nur noch, wenn sie uns besuchten, was nur selten möglich war. Doch Anne war sicher, dass wir für unsere Enkel wertvoll waren. »Whitley, wir kennen einige der größten Geheimnisse des Lebens. Wir müssen das weitergeben.« Das beschäftigte sie sehr. Sie wusste: Wenn sie wenigstens einen von uns beiden rettete, würden unsere Enkel von unserem Wissen profitieren.
Ich hatte ihr gesagt, dass ich auch nicht weiterleben wollte, wenn sie ging. Ich fürchtete den Tod genauso wenig wie sie.
Sie bestand darauf, dass ich für unsere Kinder hierbleiben und dieses Buch zu Ende schreiben sollte. Schließlich willigte ich ein, und heute weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war. Auf einer tieferen Ebene, jenem Teil des Lebens, den wir nicht sehen, gab sie ihr Leben auf, um ihre Mission in die Tat umzusetzen. Ich bin dankbar und stolz, dass sie es mir anvertraute, den diesseitigen Teil dieser Mission für sie auszuführen. Ich kann nur hoffen, dass meine Bemühungen der an mich gestellten Aufgabe gerecht werden.
An diesem ersten Abend ihres Sterbens saß ich neben ihr, während sie schlief. Doch konnte ich nicht aufhören zu weinen und musste aus dem Zimmer gehen, um sie nicht aufzuwecken. Was sie tat, war das wohl Schwerste, was ein Mensch durchmachen kann. Ich wollte es ihr nicht dadurch noch schwerer machen, dass sie meine Seelenqual miterleben musste.
Ich hoffte, dass sie am nächsten Morgen ihre Meinung ändern würde. Aber als sie aufwachte, war sie noch fester entschlossen. Da brach mir das Herz, und ich konnte nicht anders, als laut zu weinen. Sie strich mir sanft über die Wange und sagte: »Welchen Wert hätte mein Leben gehabt, wenn niemand um mich trauern würde?«
Nun freute ich mich, dass sie meinen Schmerz sah, und die Trauer brach einfach aus mir heraus. Sie wurde um so heftiger, je mehr ich sie zu unterdrücken versuchte. Sie streichelte mit ihrer gesunden Hand meinen Kopf und ließ es einfach geschehen. Sie weinte nicht. Das hätte ich an ihrer Stelle auch nicht getan. Es war eine schwere Entscheidung, bedeutete für sie aber auch Erleichterung.
So, wie sie keine Angst hatte, war sie auch nicht traurig. Stattdessen war der bewussteste Mensch, der mir je begegnet ist, meine geliebte Frau, ganz und gar bereit für den nächsten Schritt.
Den ganzen Morgen unterhielten wir uns leise, nebeneinander in unseren Sesseln sitzend. Die Krankenpflegerinnen kamen und gingen. Wir sprachen mit ihnen nicht über Annes Entscheidung. Stattdessen blickten wir auf unser gemeinsames Leben zurück, das so reich an wundervollen Momenten gewesen war.
Ich erinnerte mich, wie sie in der Lady Chapel der St. Patrick’s Cathedral in New York auf mich zu ging, wunderschön in ihrem blauen Kleid mit den bordeauxroten Rosen an der Taille. Es war nicht gerade eine große Hochzeit. Wir hatten nur zweihundert Dollar. Einige Freunde waren da, eine Kusine mit ihrem Mann, meine Mutter, ein Priester und ein verschlafener Messdiener. Aber es war der wunderbarste Tag unseres Lebens.
Unsere besten Freunde waren aus Washington angereist. Sie konnten sich kein Hotel leisten, also verbrachten wir unsere Hochzeitsnacht in unserer winzigen Wohnung, und sie übernachteten in unserem Wohnzimmer. Es war uns egal. Wir waren so glücklich.
Dann verbrachten wir sieben lange Jahre damit, einen Verlag zu finden und mich als Schriftsteller zu etablieren. Anne wurde meine Muse und Lektorin. Sie ging wieder zur Schule und machte einen Abschluss in Englischer Literatur, um in diesen beiden Aufgaben noch besser zu werden.
Ab und zu kam es vor, dass ich aufgab und meine Schreibmaschine in den Müll warf. Unvermeidlich, wenn ich am nächsten Nachmittag von der Arbeit kam, stand alles wieder an seinem Platz, oft mit Notizen von Anne, in denen sie Vorschläge machte, wie es mit der Geschichte weitergehen könne, an der ich gerade schrieb. Schließlich, nach einem halben Dutzend Romanen und Hunderten von Absagen, kaufte ein Verlag The Wolfen (Wolfsbrut). Sogleich wurde Anne schwanger, und ehe wir uns versahen, hatten wir ein Buch in den Buchläden und ein Baby im Haus. (Dort, wo wir inzwischen wohnten, gab es ein Zimmer mehr.)
So vieles änderte sich. Das alles war zugleich schwierig und machte großen Spaß. Und uns beide gegenseitig zu entdecken, war ebenfalls eine große Freude.
Hinter Anne lag eine schwierige Kindheit. Sie durfte nie den Mund aufmachen und musste viel erdulden. Ihre Meinung zählte nicht und ihre Gefühle wurden missachtet.
Jetzt, in der Beziehung zu mir, fragte sie sich, ob sich das geändert hatte. Ich liebte sie, das wusste sie, aber konnte ich sie so ertragen, wie sie wirklich war?
Also versuchte sie – wohl eher unbewusst –, das auszutesten.
Während unserer ersten gemeinsamen Monate, merkte ich ihr an, dass sie ihre Wut unterdrückte. Ich gab ihr nicht oft Anlass, wütend zu werden, aber unsere Beziehung war neu, und unvermeidlich kam es zu Spannungen. Doch wenn sie spürbar wütend oder enttäuscht war, verbarg sie das unter einem Lächeln.
Wenn ich das sah, sagte ich: »Habe ich dich wütend gemacht?« Das verneinte sie dann, worauf ich lachte und sie die Lippen anspannte.
Schließlich geschah das, was ich instinktiv gehofft hatte: Ihr ganzer unterdrückter Ärger kochte über und ergoss sich über mich. Das passierte, als ich davon sprach, wieder nach London zu ziehen, wo ich in dem Jahr, bevor wir uns trafen, gelebt hatte.
Sie stieß wütend hervor: »Dann geh doch! Verlass mich! Verschwinde aus meinem Leben!« Sie brach in Tränen aus, und ich auch. Aber damit war es noch nicht vorbei. Ihre Wut hatte sich Bahn gebrochen, und ihr Blick war voller Angst. Sie schimpfte weiter, verlor völlig die Kontrolle und fürchtete gleichzeitig, dass sie mich damit vertrieb.
Anne hatte nie gelernt, dass sie ein Recht auf ihre eigenen Gefühle hatte, auf ihre Wut und ihr Glücklichsein, auf Liebe und alles, was in ihr vorging.
Sie schrie, ich solle auf der Stelle verschwinden, sie könne meinen Anblick nicht mehr ertragen. Da ich selbst aus einer Familie komme, in der nur selten jemand die Stimme erhob, erschrak ich furchtbar. Aber ich sah auch, dass Anne für lange Zeit von ihrer Umgebung unterdrückt und an den Rand geschoben worden war.
Ich beschloss, dass sie nie wieder die Erfahrung machen sollte, ihre Gefühle unterdrücken zu müssen. Nie wieder. Sie hatte jetzt einen Mann, und diesem Mann war sie unendlich kostbar, und ihre Wut war wichtig für ihn – und sie hatte das Recht, ihr Ausdruck zu verleihen, und das Recht, dass ihre Bedürfnisse verstanden und respektiert wurden. Früher, in ihrer Kindheit, hatte man ihr das Gefühl gegeben, unerwünscht und unwichtig zu sein. Das war vorbei. Für mich war Anne wichtig.
Ich sagte ihr, dass sie einen Platz in meinem Herzen hatte, dass ich mir auch einen Platz in ihrem Herzen wünschte und dass ich sie brauchte und nicht ohne sie leben konnte.
Sie schaute mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. Ich sagte: »Vergib mir, Honey, ich war unsensibel. Wenn überhaupt, dann will ich nur mit dir zusammen nach London gehen.« Dann nahm ich sie in meine Arme. Von da an öffnete sie mir die Tür zu ihrem Innenleben viel weiter, und unsere Liebe wuchs und gedieh.
Als sie erkannt hatte, dass Temperamentausbrüche mich nicht vertrieben, explodierte sie ziemlich oft. Ich glaube, in meinem Beisein holte sie sämtliche Wutausbrüche nach, die sie in der Zeit, bevor wir uns trafen, hatte unterdrücken müssen. Einmal wurde sie so laut, dass unsere Nachbarn die Polizei riefen. Anne versteckte sich, und ich musste sechs Polizisten überzeugen, dass mit ihr alles in Ordnung war, obwohl sie sich nicht blicken ließ.
Die Kämpfe endeten stets damit, dass wir einander in die Arme fielen und dann unser gemeinsames Leben einfach fortsetzten. Und allmählich lernte sie, bereits etwas zu sagen, wenn eine Verärgerung noch klein war, statt zu warten, bis sie sich zu großem Zorn aufgestaut hatte. Sie wurde gut in dem, was man heute Wut-Management nennt. In unserer Beziehung entwickelte sich ein stiller gegenseitiger Respekt, und wir lernten, uns aneinander zu erfreuen. Die vielen Feuerwerke wichen einer liebevollen Akzeptanz, durch die unsere Beziehung noch tiefer wurde. Wir wussten es damals noch nicht, aber unsere Seelen hatten sich verbunden. Die innere Hochzeit hatte stattgefunden – in der esoterischen Praxis der Alchemie wird sie »chymische Hochzeit« genannt. Von nun an lebten und entwickelten wir uns vereint. Wir waren wahrhaft verheiratet.
Es gab sehr viel Schönheit in unserer Beziehung, viel Freude und auch viel Humor. Wir verbrachten einen großen Teil unseres letzten gemeinsamen Tages in dieser Welt damit, dass wir über die Dinge lachten, die uns in der Vergangenheit schon amüsiert hatten, ich unter Tränen und sie mit einem tiefen und aufrichtigen Vergnügen.
Nachdem sie sich den ganzen Tag geweigert hatte zu essen und zu trinken, wusste ich, dass sie nun hungrig und durstig war. Ich fragte: »Möchtest du zu Abend essen?«
Sie lächelte sanft. »Nein, Baby«, sagte sie und fügte hinzu: »Whitley, es ist Zeit für die Hospizversorgung. Ich möchte, dass sie morgen zu mir kommen.«
Okay, das war es also. Sie war fest entschlossen, jedenfalls im Moment. Ich hatte gehofft, dass sie hungrig werden würde und durstig. Aber sie war nicht bereit, ihr Fasten zu brechen. Stattdessen sah sie tapfer einer Nacht voller quälendem Hunger und Durst ins Auge.
Das wollte ich ihr ersparen. Wir hatten uns bereits für ein Hospizteam entschieden. Dort kannte man ihre Situation und ihren Plan. Ein Anruf genügte, dann würden sie kommen.
Es war das schwerste Telefonat meines Lebens. Ich fürchtete mich seit Monaten davor. Ich konnte kaum sprechen. Aber ich schaffte dann doch, ihnen zu sagen, dass es so weit war und Anne begonnen hatte zu fasten.
Sie kamen gegen 21 Uhr und leisteten ihr die gesetzlich erlaubte Hilfestellung, die im Wesentlichen in einer milden Dosis Morphium und einer Befeuchtung des Mundes bestand.
Als am nächsten Morgen die Krankenschwester kam, musste ich das Haus verlassen, damit sie Anne ohne meine Anwesenheit fragen konnte, ob sie weiterleben wollte oder nicht und ob ihr klar bewusst war, dass die Beendigung von Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ihren Tod bedeuten würde. Bislang hatte sie nur eine leichte Dosis Morphium erhalten. Ich hatte dafür Sorge getragen, dass sie auf jeden Fall bei klarem Bewusstsein war. Damit sie sich wohlfühlte, war ich die ganze Nacht bei ihr geblieben, hatte ihren Mund befeuchtet und ihre Lippen mit einem Pflegestift eingefettet, sobald sie das wünschte.
Ich fuhr ziellos herum und sah durch meine Tränen kaum die Straßen.
Als ich zurückkehrte, erkannte ich am ernsten Gesicht der Schwester, was Anne geantwortet hatte.
Dennoch fragte ich sie, bevor sie das Bewusstsein verlor, alle zwei Stunden, ob sie ihre Meinung geändert hatte. Ich wollte sie so sehr anflehen, zwang mich aber, es nicht zu tun. Sie sah meine Tränen und meine große Qual. Ich konnte den Schmerz nicht unterdrücken, und das war Flehen genug.
An dem Freitag, bevor sie starb, gab es einen Hoffnungsschimmer. Sie sagte, dass sie ins Kino gehen wollte. Dass sie Popcorn und Cola wollte. Mein Herz machte einen Sprung, und ich sagte: »Klar doch, lass uns das tun.« Aber dann musste ich hinzufügen: »Du fastest schon zu lange, um es einfach unterbrechen zu können. Wir brauchen ein paar Tage, bis du wieder stark genug bist.« Ich hatte mich gründlich über den ganzen Vorgang informiert. Ich wusste genau, was in jeder Phase zu tun war, um sie zurückzuholen, und wann das nicht mehr möglich sein würde.
Sie lächelte sanft und sagte: »Nein, dann müsste ich das alles noch einmal tun.«
Trotzdem beschäftigt mich manchmal immer noch der Gedanke, dass sie vielleicht das Fasten beendet hätte, wenn ich etwas überzeugender, hoffnungsvoller geklungen hätte.
Aber sie hatte recht. Wenn sie das Fasten abbrach, hätte sie vor der Entscheidung gestanden, es wieder zu beginnen. Ich hatte nicht das Recht, sie dazu zu drängen, und heute bin ich froh, dass sie bei ihrer Entscheidung blieb.
Es bestand keine Aussicht auf eine Besserung ihres Zustandes, und es konnte ein Punkt kommen, wo sie selbst nicht mehr in der Lage war, Entscheidungen zu treffen. Dann wäre die rechtliche Situation wesentlich komplizierter geworden.
Es gibt eine Entscheidung des Supreme Court, des Obersten Gerichtshofes, wonach eine Person, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist, das Recht hat, Nahrung und Flüssigkeit zu verweigern, dass aber kein Familienmitglied diese Entscheidung für einen Angehörigen treffen darf, der selbst seinen Willen nicht mehr äußern kann.
Auf diese Weise bewahrte sie ihre Würde und ging mit vollem Bewusstsein in den Tod.
Wir hatten die Morphium-Dosierung gründlich mit unserem Arzt besprochen. Anne wollte den Sterbeprozess bewusst erleben. Ich wollte, dass sie möglichst lange wach genug blieb, um sich doch noch anders entscheiden zu können.
Ich weiß, dass sie die richtige Entscheidung traf und dass es richtig war, diese nicht mehr zu ändern. Das heißt aber nicht, dass ich keine Seelenqualen durchlitt. Dieser Schmerz ist heute noch da und wird mich immer begleiten, und so muss es auch sein. Sie bedeutete mir mehr als ich mir selbst, und daher wird der Schmerz über ihren Verlust ein Teil von mir bleiben. Ich erinnere mich, wie ich zum letzten Mal zu ihr sagte: »Anne, wenn du Nahrung und Wasser verweigerst, wirst du sterben. Willst du deine Meinung nicht ändern?«
Es kam keine Antwort. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war in den tiefen, letzten Schlaf hinübergeglitten, der schon bald zu einem tödlichen Koma werden würde.
Anne war gegangen – mehr oder weniger.
Schon wenige Stunden später begann sie, telepathisch zu kommunizieren – und wenn Sie zu denen gehören, die über solche Dinge verächtlich spotten, bitte ich Sie, eine offene Geisteshaltung einzunehmen oder, wenn Sie sich dagegen sperren, nicht weiterzulesen. Dann ist unsere Geschichte nicht für sie gedacht. Jene aber, die zumindest bereit sind, in Betracht zu ziehen, dass solche Dinge möglich sind, erwartet eine eindrucksvolle Geschichte über eine Liebe, die den Tod überlebt hat, und eine Ehe, die weiterhin blüht und gedeiht, obwohl einer der beiden Partner nicht mehr körperlich in der Welt präsent ist. Es ist zugleich eine Geschichte von universaler Gültigkeit, die sich in vielen Leben anspielt, über die aber zumeist nur privat im kleinen Kreis gesprochen wird oder die die Menschen allein der Stille ihres Herzens anvertrauen. Hier dagegen entfaltet sie sich, in aller Öffentlichkeit, auf den Seiten eines Buches …
Meine Trauer gilt dem Verlust von Annes Körper, nicht der Abwesenheit ihres Seins. Tatsächlich ist Anne, wie Sie im weiteren Verlauf unseres Berichtes sehen werden, zu einer Präsenz geworden, die sich durch hohe Intelligenz, Mitgefühl und, vor allem, Einsicht auszeichnet.
Bis Montagmorgen verstummte sie völlig. Ich befand mich in einem so machtvollen emotionalen Zustand, wie ich es nie zuvor erlebt und auch nie für möglich gehalten hätte. Es war mehr als Seelenqual. Es war Qual gemischt mit etwas, das an Ehrfurcht grenzte.
Ich war mir bewusst, dass ich Zeuge des Sterbens einer großen Seele wurde.
Annes Leben hatte in sehr bescheidenen Verhältnissen begonnen. Ich hatte einige ihrer Schulkameradinnen kontaktiert, und sie schrieben mir, sie sei ein stilles, unscheinbares Mädchen gewesen. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, Anne zu fördern und geistig zu inspirieren. Bevor wir uns trafen, hatte niemand ihren Scharfsinn bemerkt. Bisher hatte er sich in Annes Leben nur dadurch geäußert, dass sie ständig Menschen verärgerte, weil sie ihnen sagte, was sie falsch machten. Weil sie die geborene Lehrerin war, konnte sie es einfach nicht lassen, den Leuten zu erklären, wie sie bestimmte Dinge besser machen konnten. Damit machte sie sich oft unbeliebt und wurde an jedem neuen Arbeitsplatz meist nach ein paar Monaten gefeuert.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie bemerkenswert sie war. Gleich bei unserem ersten Treffen sprudelten die brillanten Gedanken nur so aus ihr hervor und ihr scharfer Verstand funkelte. Schon nach zehn Minuten hatte ich erkannt, was für eine glückliche Begegnung das war.
Ich hatte mir immer eine kluge Frau gewünscht. Sehr klug. So klug wie möglich. Als wir uns eine Woche kannten, wusste ich, dass mir noch nie ein so hellwacher, geistreicher Mensch begegnet war. Ich war fest entschlossen, wenn unsere Beziehung funktionierte, mich zuallererst darum zu kümmern, dass sie die Ausbildung erhielt, die sie verdiente.
Als ich in ihre leuchtenden braunen Augen schaute, sah ich nicht nur eine zweiundzwanzigjährige junge Frau. Ich sah ein Wesen von großer geistiger Tiefe, das sich hinter einem unschuldigen Funkeln verbarg. Ich wollte dieses Mädchen in meinem Leben, aber ich wollte auch diese andere Person, dieses Genie, das in ihr steckte und mich unbehaglich anschaute, fürchtend, dass sie mich abschrecken und vertreiben könnte.
Seit diesem Tag lebe ich im Schatten einer verborgenen Meisterin, deren Weisheit und Kraft die meine weit überragt. Ich liebe bis heute jede Minute, in der ich dieses großartige Privileg genießen kann.
Ich vermisste ihre süße Gegenwart und ihren enormen Geist so sehr, dass es kaum zu ertragen war, aber ich wusste auch, dass sie im Triumph auf die andere Seite gehen würde, denn sie hatte in dieser Welt Großartiges geleistet, war aber dabei sanft und bescheiden geblieben. Sie wusste, wie außergewöhnlich ihre Erkenntnisse und Einsichten bezüglich der Kontakte mit den »Besuchern« gewesen waren, aber sie hatte sich darauf und auf ihre anderen Leistungen nichts eingebildet, und sie hegte keinen Groll, weil so viele Menschen auf diese Einsichten mit offener Ablehnung oder Desinteresse reagierten. Natürlich gefiel ihr nicht, wie man uns behandelte, aber statt sich darüber zu ärgern oder verbittert zu werden, machte sie einfach mit ihrer Arbeit weiter.
Nach ihren anfänglichen Problemen mit dem Wut-Management in unserer Beziehung hatte Anne die Fähigkeit entwickelt, Ungerechtigkeit und Enttäuschungen gelassen zu akzeptieren.
Ich erinnere mich daran, wie wir uns die erste Folge der Serie South Park anschauten, diese Folge, in der sie sich über mich lustig machten. Anne nahm meine Hand und sagte: »Das sind leere Menschen, und sie wissen das, und du bist nicht leer, und auch das wissen sie, und deshalb greifen sie zu diesen Gemeinheiten.«
Sie besaß große Menschenkenntnis, und sie kannte mich besser als ich mich selbst.
In unserer letzten gemeinsamen Nacht schliefen wir, wie in allen unseren Nächten davor, Seite an Seite und Hand in Hand. Als ich in der Nacht ihre Hand drückte, kam es mir so vor, als hätte sie den Druck erwidert. Also verbrachte ich den Tag damit, ihr Gedichte vorzulesen, die wir beide liebten: Whitmans »Da war ein Kind hervorgekommen«, Wordsworths »Innewerden der Unsterblichkeit aus Erinnerungen an die frühe Kindheit«, Elliots »Das wüste Land«, Lowells »Stunde des Stinktiers«. Ich las ihr das Buch Kohelet vor, den Monolog der Molly Bloom aus Ulysses und viele Zeilen aus Joe Brainards Ich erinnere mich. Und natürlich, für uns von ganz besonderer Bedeutung, das »Lied des wandernden Aengus«.
Annes erster telepathischer Moment kam, als sie endgültig ins Koma gefallen war. Sie war seit vier Stunden bewusstlos, als eine ihrer Pflegerinnen plötzlich sagte: »Sie hat mir gerade mitgeteilt, dass sie in einem roten Pyjama sterben möchte!« Die Frau war sich so sicher, dass diese Bitte tatsächlich von Anne gekommen war, dass sie sofort aufsprang, in den Supermarkt eilte und einen roten Pyjama kaufte. Wir zogen ihn meiner Frau über ihren dünnen, dahingeschwundenen Körper.
Beachten Sie, wie sicher sich die Pflegerin war und wie stark sie das motivierte. Es war für sie, als hätte ein lebender Mensch etwas zu ihr gesagt, und doch handelte es sich nicht um eine Stimme, die physisch hörbar gewesen wäre wie zum Beispiel die Stimmen im Radio. Es war das, was ich mittlerweile eine »stille Stimme« nenne, ein inneres Wissen, was ausgesprochen wird, ohne dass die Ohren etwas wahrnehmen. Mit anderen Worten, es war keine akustische Halluzination. Stattdessen ist es ein spontanes inneres Sprechen, dem man deutlich anmerkt, dass es sich nicht um eigene Gedanken handelt, sondern von einer anderen Person kommt.
Es war kein Zufall, dass Anne die Farbe Rot wählte. Sie lebte nun bereits zum Teil in der Welt der Toten und hatte Zugang zu dem Wissen, das dort existiert.
Inzwischen hat sie mir erklärt, wie Farben unterschiedliche Lichtschwingungen und Seinsebenen widerspiegeln. Sie hat mir gezeigt, welche Farben mit dem Körper und der Seele assoziiert sind und in welcher Beziehung diese Farben zueinander stehen. Sie sagt: »Anstriche verblassen, aber Farbe ist unsterblich.« Der Körper stirbt, doch die Seele bleibt bestehen.
Um die Bedeutung von Farben und viele andere Botschaften aus der nicht-physischen Realität verstehen zu können, ist es wichtig, das Prinzip der Triade zu kennen. Eine Triade hat drei Seiten: aktiv, passiv und harmonisierend.
Weil der Körper die aktive Seite der Triade des Seins ist, wird ihm die Farbe Rot zugeordnet. Dass Rot für Dringlichkeit und aktives Handeln steht, ist leicht nachzuempfinden, so wie Grün auf Passivität und Frieden hindeutet. Anne wollte beim Verlassen dieser Welt in der Farbe des Blutes und des Lebens gekleidet sein.
Am Abend des 11. August 2015, einem Dienstag, erreichte Annes Koma seine letzte Phase. Sie lag in unserem Bett, an der Stelle, wo ich nun jede Nacht schlafe und hoffe, dort eines Tages ebenfalls dieses Leben zu verlassen.
Mein Sohn und meine Schwiegertochter waren am Vormittag eingetroffen. Es war klar, dass das Ende bevorstand. Wir drei saßen am Esstisch im Wohnzimmer, als ich Anne in meinem Bewusstsein sagen hörte: »Whitty, ich sterbe jetzt.« Ich sprang auf, eilte ins Schlafzimmer und legte mich neben sie. Ich legte meine Hand auf ihre Brust und fühlte ihren Herzschlag. Ich sagte: »Goodbye, Goodbye, Goodbye.«
Während ich sprach, blieb Annes Herz stehen.
Das Zentrum meines Lebens hatte seinen Körper – und mich – hinter sich gelassen.
Trotz allem, was ich inzwischen über das Jenseits wusste und was wir beide über das nicht-physische Bewusstsein gelernt hatten, hatte ich in diesem Moment das Gefühl, ich hätte Anne für immer verloren.
Doch da sie noch nie Zeit vergeudet hatte, ließ sie mich sofort wissen, dass sie weiter existierte. Das war kein flüchtiges Erlebnis, sondern entwickelte sich von dem kleinen Anfang an diesem ersten Abend zu einer sich stetig weiterentwickelnden Beziehung, die sogar noch reicher und komplexer ist als zu der Zeit, als wir beide physisch existierten. Natürlich fehlt mir die Lieblichkeit ihres Fleisches, doch an deren Stelle trat eine Vermischung unserer beiden Existenzen zu einer so intensiven Partnerschaft, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können.
Anne und ich leben hier und jetzt, verbunden durch die Brücke der Liebe. Manchmal gehe ich hinüber auf ihre Seite, aber die Lebenden können sich nicht zu weit von ihrem Körper entfernen. Öfter geschieht es, dass sie mich besucht.
In diesem Leben war Anne klug. Jetzt ist sie das noch viel mehr. Sie war intelligent. Jetzt strahlt ihr Geist vor Brillanz.
Als sie gestorben war, lag ich neben ihr, meine Hand noch auf ihrer Brust. Ich konnte mich nicht rühren. Ich rang nach Luft. Dann hörte ich sie sagen: »Steh auf. Mach weiter.«
Ich konnte förmlich spüren, dass sie mir körperlich einen Stoß versetzte. Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr nah war. Schließlich stand ich vom Bett auf und setzte mich neben sie. Wir riefen die Krankenschwester, die nach etwa einer halben Stunde kam und Annes Tod feststellte.
Da lag sie, eine Ruine. Mein Gott. Sie hatte dieser Welt so viel Wert beigemessen und war doch selbst während ihres Lebens so sehr ignoriert worden. So, wie ich gleich bei unserer ersten Begegnung erkannt hatte, was in ihr steckte, sah ich, welchen Beitrag sie für die Welt geleistet hatte. Sie hatte etwas fundamental Neues über die Natur der Menschheit und unseren Platz im Universum herausgefunden. Wie wir noch sehen werden, vermittelt das, was sie lernte und lehrte – und auch weiterhin lehrt – uns nicht nur, was unser Platz in der Welt ist, sondern verrät uns auch, warum diese sonderbare Erfahrung, die wir Leben nennen, geschieht.
Kurz nachdem Annes Tod offiziell bestätigt war, kamen zwei Angestellte der medizinischen Fakultät und holten ihren Körper ab. Sie hatte ihn den Medizinstudenten vermacht, sodass er auch noch nach ihrem Tod der Erweiterung des Wissens dienen würde, ganz entsprechend ihrer Bestimmung als Lehrerin.
Das war sehr schwer für mich und meinen Sohn. Der Gedanke, dass sie obduziert werden würde, statt beerdigt oder im Beisein ihrer Angehörigen eingeäschert zu werden, war sehr, sehr schwer zu ertragen. Aber sie hatte es sich gewünscht, und wie fast alles, was unsere sanfte Lehrerin tat, war es auf vielen verschiedenen Ebenen eine Lektion, die nicht zuletzt darin bestand, dass wir nicht an ihrer physischen Gestalt festhalten sollten.
Wie in vielen spirituellen Disziplinen gibt es im Werk Gurdjieffs, dessen Schule wir uns 1970 anschlossen und dessen Lehre bis heute eine wichtige Rolle in meinem Leben spielt, den Begriff der »Identifikation«. Wir identifizieren uns mit dem, was wir lieben, und kommen dabei vom Weg unseres eigenes wahren Selbst ab.
Anne war eine Expertin für Identifikation. Sie sprach nie offen darüber, aber wenn ihr eine Identifikation auffiel, ging sie sofort dagegen an. Daher war mir klar, dass ihre Entscheidung, ihren Körper nach dem Tod der Medizin zur Verfügung zu stellen, nicht nur zum Wohl der Medizinstudenten geschah, sondern auch meinem Sohn und mir Gelegenheit geben sollte, unsere Identifikation mit Annes physischer Gestalt zu erkennen und uns davon zu befreien.
Auf das Fleisch kommt es nicht an, und Anne hatte ihren Körper aufgebraucht. Er war für sie nicht mehr von Nutzen, und daher war es das Beste, ihn nun als Lernobjekt für andere zu verwenden. Und das geschah dann auch, genau wie sie es wünschte.
Ich hatte allen, die uns in den letzten Tagen beigestanden hatten, versprochen, sie zu informieren, wenn Anne gestorben war. Um 19:45 Uhr schickte ich ihnen die Textnachricht. Einer von ihnen, Leigh McCloskey, schlug daraufhin Rainer Maria Rilkes Letters on Life auf, und sein Blick fiel auf folgende Textstelle:
»Der Tod gehört zum Leben und es wundert mich, dass man so tut, als wüsste man es nicht: Der Tod, dessen erbarmungsloses Sein wir bei jedem Wandel verspüren, den wir überleben, weil man lernen muss, langsam zu sterben. Man muss lernen, zu sterben: Darin besteht das ganze Leben. Von ferne das Meisterwerk eines stolzen höchsten Todes vorzubereiten, bei dem der Zufall nichts ist, eines gut gelungenen Todes, selig, begeistert, wie ihn die Heiligen zustande brachten; eines lange gereiften Todes, der seinen verhassten Namen selbst auslöscht und nichts als eine Geste ist, die dem namenlosen All die erkannten und erretteten Gesetze eines wahrhaft vollendeten Lebens zurückgibt.«1
Vielleicht war es Zufall, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht schlug Anne diese Seite für ihn auf, machte ihm diesen Text zugänglich. Das sage ich nicht ohne Grund, denn nur Augenblicke später, etwa zehn Minuten nach ihrem Tod, fand ich in unserem Arbeitszimmer ein Buch, das auf den Boden gefallen war. Dieses Buch, Roy Friedens Physics from Fisher Information, lag so, dass eine Seite aufgeschlagen war, auf der Anne vor Jahren folgenden Satz markiert hatte:
»Am Beginn des Universums trat eine einzelne Beobachtung der Metrik auf. Diese erzeugte die Wheeler-DeWitt-Gleichung für das reine Strahlungsuniversum, das damals existierte. Mit anderen Worten, die Gravitationsstruktur des Universums wurde aus einer einzigen, ursprünglichen Suche nach Wissen erzeugt.«2
Ich fragte die im Haus Anwesenden, ob sie das Buch in den vergangenen Minuten aus dem Regal genommen hatten, denn es war von Anne und mir schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden.
Alle verneinten.
Ich musste daran denken, dass ein berühmter Chirurg mir einmal erzählt hatte, wie ihm alle Details einer wichtigen Operationsmethode offenbart worden waren, die er entwickelt hatte. (Diese Geschichte findet sich nicht in seiner Biografie, und deshalb erwähne ich seinen Namen nicht. In dieser merkwürdigen Welt, in der wir leben, könnte sonst der Ruf eines großartigen Mannes beschädigt werden, der jede Ehrung, die ihm zuteil wurde, voll und ganz verdient.) Er war mit einer Herzbeutelentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er hatte starke Beschwerden und rief nach den Krankenschwestern, aber niemand kam. Doch plötzlich glitt eine Frau in einem langen weißen Gewand in sein Zimmer. Sie griff mit ihren Händen in seine Brust hinein. Dann glitt sie wieder davon. In diesem Moment sah er die Operationsmethode, deren Pionier er werden würde, in allen Einzelheiten vor seinem inneren Auge. Augenblicke später eilten die Krankenschwestern in sein Zimmer. Sie erklärten ihm, dass sie im Nebenzimmer beschäftigt waren, wo gerade eine alte Frau gestorben sei. Er sagte mir, er sei überzeugt, dass die Seele dieser gestorbenen Frau ihm die Informationen überbracht habe, bevor sie auf die andere Seite ging.
Anne liebte diese Geschichte, und wir sprachen oft darüber. Daher war es nur logisch, mir eine bedeutungsvolle Information zu hinterlassen, wenn sie ging. Sie wusste, dass ich den Fingerzeig verstehen würde.
Später an diesem Abend, um 21:20 Uhr, war sie gerade abgeholt worden. Nach all diesen Jahren war sie fort, und ich fühlte zum ersten Mal, welche Leere sie in meinem Leben hinterließ. Allein saß ich da, sinnentleert, und ich fragte sie, ob sie noch existierte, und wenn ja, ob sie mich kontaktieren könne. Ich fragte das mit der größtmöglichen Intensität meiner inneren Stimme. Einen Moment später klingelte das Telefon. Belle Fuller, eine gute Freundin, war am Apparat und sagte, sie hätte gerade innerlich eine Botschaft von Anne empfangen, dass sie mich anrufen solle. Ich war so dankbar und überrascht, dass ich kaum sprechen konnte. Belle wusste noch gar nicht, dass Anne gerade gestorben war.
Als ich den Leichenwagen, in dem Annes geliebter Körper lag, davonfahren sah, tauchte ein sonderbarer Nebelschleier auf. Ich machte ein Foto des Wagens, als er an der Straßeneinmündung anhielt. Seine Bremslichter glühten inmitten anderer Farben in dem seltsamen, zarten Dunst.
Auf dem im Dunklen aufgenommenen Foto sind diese mit bloßem Auge sichtbaren Farben nicht zu erkennen, aber man sieht den Nebelschleier klar und deutlich.
Wie sich herausstellte, war der Nebelschleier die erste Manifestation von Phänomenen, die auftreten, wenn bestimmte Seelen dieses Leben verlassen. Die Tibeter nennen solche Seelen »Regenbogenkörper«. Oft tauchen in diesem Zusammenhang auch Regenbögen auf, und als ich ein paar Tage später zu Annes Trauerfeier fuhr, erschien ein Regenbogen nach dem anderen. Auch sie fotografierte ich, während ich mit meinem Sohn im Auto saß.
Anne hätte gelacht, wenn jemand sie als eine große Seele bezeichnet hätte, aber genau das ist sie, und nicht nur das: Sie ist noch immer sehr dieser Welt zugewandt – und zwar, da bin ich mir sicher, wegen der Mission, die ihr so wichtig ist.
Jenseits unserer gegenwärtigen Realität gibt es eine Neue Menschheit. Wir sind die eine Hälfte dieser Menschheit, immer noch von dunklen Ängsten geplagt und verwirrt. Wir leben auf der, wie Anne es nennt, »Ebene der Gewalt«. Die andere Hälfte erwartet uns mit offenen Armen, um uns zu der Vereinigung willkommen zu heißen, die unsere Bestimmung ist.
1Auf Deutsch enthalten in Rainer Maria Rilkes Briefe an eine venezianische Freundin. Briefe aus den Jahren 1907-1913, aus dem Französischen übersetzt von Margret Millischer. Leipziger Literaturverlag, 2011, Seite 21.
2Wie Bohms »Pilotwellen« ist die Wheeler-DeWitt-Gleichung ein Versuch, die Einsteinsche Relativität mit der Quanten-Unbestimmtheit zu versöhnen. – Anmerkung der Autoren