Читать книгу Regenbogenflecken - Wiebke Saathoff - Страница 5
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Heute 1
Der Summer öffnet nach dem ersten Klingeln. Keine Nachfrage, wer um Einlass bittet, kein Zögern. Als hätte man mich erwartet.
Ich drücke die Tür auf und schiebe mein linkes Bein in den Spalt. So verharre ich in einer Art Schockstarre. Ich bin noch nicht bereit einzutreten. Mein Puls klopft spürbar an meine Schädelwand, ich nehme das wellenartige Pochen des Blutes wahr. Mir ist schwindelig und übel. Wie immer, wenn mein Körper sich sträubt und ich mich im Fluchtmodus befinde.
Gleich falle ich in Ohnmacht, denke ich, hier in diesem Türspalt, in dem Zwischenraum der Entscheidung, zwischen Fliehen und Angriff. Ich bin diesen Augenblick so oft durchgegangen. Immer und immer wieder, bis mein Gehirn rotiert hat. Und ich habe mich entschieden. Ich werde nicht fliehen. Für den Seelenfrieden. Kneife ich, lassen mich die tanzenden Geister der Vergangenheit niemals in Ruhe. Das weiß ich.
Ich stoße die Eingangstür ruckartig nach innen und stolpere in den Flur. Meine Füße poltern auf dem Marmorboden. Ich komme mir völlig deplatziert vor. Der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Das hier ist kein Teil meiner Welt. Das hier ist nicht aus unserer Welt. Marly lebt nicht in diesen Wänden. Das habe ich ihr schon damals gesagt, aber sie wollte ja nicht zuhören.
Die Treppe ist steil und lang. Hier ist es geschehen. Genau hier. Die Bilder füllen meinen Kopf und ich möchte schreien, wegrennen. Auf keinen Fall diese Treppe hochlaufen. Aber ich habe keine andere Wahl. Nur so lassen sich die Bilder besiegen.
Mein Atem wird schwerer, mit jedem Schritt und jeder weiteren Anstrengung. Ich überlege, ob ich rufe: „Ich bin’s! Hört mich jemand?“, aber ich habe keine Stimme, und außerdem sind wir hier nicht in einem billigen Horrorfilm. Ich gehe stetig Stufe für Stufe hinauf. Bis ich beim ersten Bild angekommen bin. Es reißt mich plötzlich aus meiner Monotonie. Es erschreckt mich. Dort lachen sie mir entgegen, Marly und Fabian, rausgeputzt und strahlend, sie wirken eher wie eine Werbeanzeige, nicht wie Menschen. Und das war es, ihr Leben, denke ich, eine einzig große Werbekampagne.
Marly trägt ein rotes Kleid, ihre Haare umrahmen ihr makelloses Gesicht, sie steht aufrecht und hat ihren Kopf leicht nach rechts gedreht, als wolle sie mit dem Fotografen flirten. Fabian umschlingt ihre Taille, sein Körper ist ihr zugewandt, aber seine Augen folgen der Linse des Fotoapparates. Neben ihm steht ein perfekt geformter Weihnachtsbaum, nicht zu kitschig geschmückt. Die Kerzen sind das einzig Echte an diesem Bild, denke ich, und zwinge mich weiterzugehen.
Zwei Stufen. Dort hängt das nächste Porträt. Ihr zweites gemeinsames Weihnachtsfest. Unverkennbar dieselbe Umgebung. Marly ist in einem sanften Grün gekleidet, mit einer riesengroßen Schleife über ihrem Bauchansatz, das größte Geschenk der Welt, das hat sie immer gesagt, für sie und für Fabian. Fabian hat eine Hand zärtlich auf ihren Bauch gelegt, wie in dem ersten Foto starren sie beide in die Kamera.
Ich wende mich ab und gehe weiter. Wieder stoppe ich. Auf dem dritten Foto sind sie nicht mehr zu zweit. Marly hat Carlotta auf dem Arm, sie küsst ihren kahlen Kopf. Carlotta macht ein miesepetriges Gesicht, als wenn sie jeden Augenblick anfangen könnte zu schreien. Carlotta und Marly sind ganz in Weiß gekleidet, unschuldig, so zart und zerbrechlich. Fabian wirkt neben den beiden wie ein Eindringling. Er schaut wieder mit einem gewitzten Lächeln in die Kamera. Marly hingegen ist dieses Mal nicht auf die Linse fokussiert, ihre gesamte Aufmerksamkeit gilt Carlotta. Es hat sich etwas verändert. Marly und Fabian scheinen nicht mehr im Gleichklang zu sein. Das haucht dem Bild Leben ein. Ich schaudere bei dem Gedanken. Das Bild wurde an jenem Tag aufgenommen, an dem ich Marly das letzte Mal sah. An diesem tragischen Weihnachtstag, bevor ich hereinplatzte und alles zerstörte. An jenem Tag wurde kein Leben eingehaucht, sondern eines genommen. Und es ist meine Schuld.
Mein Blick fällt auf eine weitere, für mich ungewohnte Abbildung. Langsam und mit einer gewissen Ehrfurcht nähere ich mich dieser. Ich spüre wieder mein Blut in den Adern pochen, doch scheue ich mich nicht, sehr nah heranzutreten. Ich möchte jedes Detail wahrnehmen.
Wieder ist ein Weihnachtsbaum zu sehen, er ist etwas wirr geschmückt, kein Hochglanzweihnachtsbaum wie zuvor. Die zwei Personen auf dem Bild geben sich keine Mühe, den angestrengten Erwartungen einer Familienidylle zu genügen. Es herrscht Chaos und Unordnung. Der Glanz vergangener Tage scheint vorüber.
Ein sanftes Rascheln am Treppenabsatz reißt mich aus den Gedanken und ich wende meinen Blick auf die Veranda. Erschrocken wie ein Reh im Scheinwerferlicht stehe ich da und versuche den Kloß im Hals zu verscheuchen.
„Hallo“, stammle ich zittrig hervor.