Читать книгу Regenbogenflecken - Wiebke Saathoff - Страница 7
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„Uff, Marly, hast du deine Steinesammlung mitgenommen?!“, keuche ich mit einer riesigen Umzugskiste beladen in Richtung Marly.
„Welche Steine?“
„Das war ein Witz. Hast du komplett deinen Humor verloren, als du über diese Türschwelle getreten bist?“
Marly ist mehr auf das Abladen ihres eigenen Kartons konzentriert als auf meine schnippische Bemerkung. „Ach Sasha.“
„Wo willst du das hier denn hin haben?“
Sie setzt die Kiste ab und dreht sich langsam zu mir um. Ihre Haare wippen zur Musik ihrer Bewegung in Zeitlupe mit. „Warte…ah, ich glaube, die kommt in die Küche…ja, da steht auch Küche drauf.“ Sie tippt mit dem Zeigefinger auf die von mir weggewandte Seite des Kartons.
„Okidoki.“
Ich pruste etwas Luft aus meinen Lungen und setze mich wieder in Bewegung. Die Küche ist Treffpunkt sämtlicher Umzugshelfer, Marlys Mutter serviert Fischbrötchen und Kartoffelsalat und lockt mit der Aussicht auf eine wohlverdiente Pause die Meute an.
„Warte Sasha, ich nehm dir das ab.“ Fabian wartet nicht auf meine Antwort und stellt den schweren Karton mit überheblicher Leichtigkeit auf den Küchentresen. Wäre ich nicht so froh darüber, die Last aus meinen Händen zu wissen, würde ich jetzt protestieren.
„Super, das sind ja die Gläser. Ich hab die schon überall gesucht.“ Er hat den Karton aufgerissen und pult das erste Glas aus dem zerknüllten Zeitungspapier.
„Sag ich ja, Steine“, murmle ich und drehe mich um, um Marly mit den weiteren Kisten zur Hilfe zu eilen.
„Sasha warte, willst du auch ein Fischbrötchen?“, ruft mir Marlys Mutter hinterher. „Du brauchst eine Stärkung, ich seh dir das doch an Kind, du bist ja schon ganz rot im Gesicht.“
Die fürsorgliche Art von Marlys Mutter ist manchmal schwer zu ertragen, aber ich merke, dass ich tatsächlich eine kleine Stärkung und etwas Ruhe von Kartons und Kisten vertragen könnte. Ich lasse mich auf dem Barhocker nieder, den Fabian mit einem Grinsen im Gesicht für mich bereitgestellt hat und nehme mir eines der Brötchen.
„Bier oder Wasser zu deinem Fischbrötchen?“
„Bier.“
„Bitte die Dame.“ Fabian stellt eines der neu ausgeräumten Gläser neben das Pils.
„Mm, eine Köstlichkeit!“ Ich ziehe meine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen zusammen. „Und das Fischbrötchen schmeckt erst!“
„Natürlich, wir haben es extra von Marlys liebstem Fischwagen geholt“, erklärt Marlys Mutter nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme.
Ich nehme einen Bissen und drehe mich mitsamt dem beweglichen Barhocker zu Fabian. „Eine schöne Wohnung habt ihr gefunden. So groß. War bestimmt nicht einfach, diese Traumvilla mit Blick auf die Weser zu bekommen. Und zu bezahlen.“
„Mit den richtigen Connections geht alles.“ Fabian steht mir gegenüber, er beugt sich ein wenig runter, ich muss meinen Kopf gewaltig in den Nacken legen, um ihm in die Augen schauen zu können. Seine immense Körpergröße wirkt auf einmal bedrohlich auf mich.
„Was heißt das?“
Fabian zieht die Augen zu kleinen Spalten zusammen, sein Mund formt ein selbstverliebtes Grinsen und man erkennt seine Grübchen, die Marly so liebt. „Das heißt, dass ich genug Einfluss habe, um mir meine Wünsche zu erfüllen.“
„Und natürlich meinem Darling.“ Er richtet sich auf und lächelt die etwas schwitzende Marly an, die im Türrahmen erscheint. „Komm her Süße, wir haben noch Stärkung für dich aufbewahrt.“
Ich frage mich, was ich denn hier mache, wenn die Herrschaften sich doch alles leisten können. Ein Umzugsunternehmen hätte die ganze Arbeit in viel weniger Zeit verrichtet.
„Marly wollte unbedingt den Umzug selber organisieren“, säuselt Fabian, als könnte dieser Wundermann auch noch Gedanken lesen, während Marly in seinen ausgestreckten rechten Arm schlüpft und mit beiden Händen seine Hüfte umklammert. „Mit unseren Freunden diesen wichtigen Schritt in unserem Leben teilen.“ Er lächelt und streicht ihr sanft über ihre Haare. Sie schmiegt sich an ihn wie eine Katze. Ich könnte kotzen.
Und doch grinse ich nur. Und habe zahlreiche Antworten auf den Lippen, denen es schwerfällt, nicht aus mir herauszuplatzen. Marly scheint die Anstrengung in meinem Gesicht wahrzunehmen, stellt sich aufrecht hin und schiebt Fabian ein wenig zur Seite.
„Ein Lob auf unsere vielen Umzugshelfer. Dank euch ist das große Haus in Null-Komma-Nichts mit all den wichtigen und unwichtigen Dingen in den schweren Kartons bestückt worden. Und wir können unseren neuen Lebensabschnitt mit euch feiern, ein gemeinsames Zuhause. Mir war es unheimlich wichtig, euch dabei zu haben. Ich schlage vor, wir vertagen das Ausräumen auf einen anderen Tag und feiern jetzt erstmal ordentlich. Auf euch, unsere Freunde!“ Sie hebt ihr Glas und blickt in die Runde. Als ihre Augen auf ihrer Mutter verweilen, fügt sie hastig hinzu: „Und meine liebe Mutter!“
Alle lächeln sie an. Marly hat mit ihrer charmanten Art ihr ganzes Publikum verzaubert. Wir heben in Gleichklang unsere Gläser und prosten dem perfektesten Paar aller Zeiten zu.
„Der Kühlschrank ist voll. Champagner, Cuba, Jägermeister oder das kühle Pils. Was ihr wollt! Bedient euch!“, ruft Fabian und öffnet mit einem überschwänglichen Griff den prall gefüllten Kühlschrank. Na immerhin, denke ich. Dann kann ich mir diese tolle Umzugsparty wenigstens ein bisschen schön saufen. Und das mit Champagner, das kommt auch nicht alle Tage vor.
„Komm ich zeig dir das Haus“, grinst Marly mich an. Ich bin vom Pils zum Champagner umgeschwenkt und so stehen wir beide mit unseren Champagnergläsern in der großzügigen Küche. Wir sind wie eine kleine Insel unter all den hippen und erfolgreichen Freunden von Fabian.
„Gerne“, sage ich und bin froh, nicht weiter Smalltalk führen zu müssen.
„Die untere Ebene hast du ja schon gesehen, lass uns mal nach oben gehen.“
Ich folge ihr wie ein treudoofer Hund. Das obere Stockwerk ist durch eine großzügige Treppe mit dem unteren verbunden.
„Oh, die ist aber steil“, keuche ich nach ein paar Stufen.
„Man gewöhnt sich daran“, lächelt Marly. „Du bist nur nicht im Training!“
„Da magst du ausnahmsweise Recht haben.“
„Ey, ich habe fast immer Recht!“
Das finde ich zwar nicht, aber ich halte meinen Mund. Wie so oft in letzter Zeit, wenn es um Marly geht.
„Wir haben eine tolle Idee, damit diese lange Treppe nicht so einsam wirkt.“ Marly bleibt auf der Hälfte der Treppe stehen und ich bin froh über die Verschnaufpause.
„Oh ja, ein wenig Leben könnte diese Mördertreppe schon vertragen“, witzle ich.
Marly ignoriert meine flapsige Bemerkung und sprudelt weiter. „Und zwar, bald ist ja Weihnachten, und da dachten wir uns, wir machen jedes Jahr zu Weihnachten ein Foto von uns. So richtig professionell. So können wir jedes Jahr sehen, wie wir uns entwickelt haben. Wir haben eine Momentaufnahme von genau dem exakten Tag, immer ein Jahr später. Wenn wir alt und grau sind, lachen wir darüber, wie wir vor 30 Jahren ausgesehen haben!“ Sie lacht auch jetzt.
„Oh ha, 30 Fotos, das wird schon ein wenig eng.“ Ich finde die Idee merkwürdig. Wieso sucht man sich gerade Weihnachten als regelmäßigen Fototermin aus? Weihnachten ist so ein nichtssagendes Fest, wenn man nicht gläubig ist. Und das bin ich nicht. Und Marly auch nicht.
„Ach, die Treppe ist ja lang und die Wand hat eine große Fläche.“ Sie zieht ihre rechte Oberlippe zu einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zusammen. „Weißt du, Fabians Eltern haben auch so eine Galerie, und als wir im letzten Jahr dort waren, kamen wir auf das Foto mit drauf. Es war schon echt interessant, wie sie aussahen, als sie noch jung waren. Seine Mutter war so hübsch. Sie ist es immer noch. Und ich bin froh, jetzt auch ein Teil dieser Galerie zu sein.“
Ich erinnere mich an letztes Jahr. Marly hatte mit Fabian seine Eltern in München besucht, und war begeistert über den Familienzusammenhalt.
„Na dann ist es ja so eine Art Familientradition“, murmle ich. „Ich glaube, ich würde einen anderen Tag für solche Fotos nehmen. Einen zufälligen Tag. Einfach irgendeinen, das verwirrt alle Leute und man hat seinen Spaß in die verdutzten Gesichter zu gucken“.
„Typisch Sasha. Hauptsache nicht so wie alle.“
Soll das jetzt ein Kompliment oder Kritik sein? Ich entscheide mich für Ersteres.
„So komm, auf geht’s in unser Schlafzimmer!“
„Oh, so eine Einladung bekomme ich nicht alle Tage!“
Marly öffnet die erste Tür nach der langen Treppe mit einem zufriedenen Grinsen und einer ausladenden Geste. Ich bin beeindruckt. Das Schlafzimmer ist riesig.
„Nebenan ist das Badezimmer.“ Das zweite Badezimmer, selbstverständlich. Damit man sich nicht die langen Treppen herunterbequemen muss, sollte man einmal nachts auf Klo müssen. Auch das Badezimmer ist riesig und modern ausgestattet, in unauffälligen Grau- und Blautönen.
„Das gefällt mir“, sage ich. Ich bin neidisch. So viel Luxus übersteigt mein Budget um einiges.
„Und hier oben gibt es noch ein Wohnzimmer, ein Zimmer für mich und eins für Fabian. Und natürlich den großzügigen Balkon.“
„Was wollt ihr denn mit so vielen Zimmern? Und wer macht das alles sauber?“ Manchmal bin ich doch sehr pragmatisch orientiert.
„Na, wir planen ja nicht, auf Ewigkeit alleine zu bleiben. Und Fabians Putzfrau soll natürlich mit dem Umzug nicht arbeitslos werden!“ Sie strahlt wie eine Atombombe. Ich denke an das Video zu Black Hole Sun.
„Ach, wie praktisch!“ Ich muss zugeben, es scheint perfekt. Auf einmal hat Marly alles. Einen Mann, den sie liebt, auch wenn ich denke, dass er ein Arschloch ist, eine große Wohnung, Luxus, keine Geldsorgen mehr und eine neue Familie. Ist das der Neid, der aus all meinen sarkastischen Bemerkungen herausblitzt? Oder ist diese Skepsis wirklich begründet? Werde ich meine Freundin verlieren, jetzt wo unsere Leben so verschiedene Verläufe annehmen? Oder bietet diese Veränderung eine Chance, meinen Horizont zu erweitern?
Wer weiß, vielleicht werden mir noch die Augen geöffnet, was seine charmanten Seiten angeht. Und Fabian und ich werden beste Freunde.
„Darling, bist du da oben? Deine Mutter will sich verabschieden!“ Fabian steht am Treppenabsatz und reißt mich aus meinen so wohlwollenden Gedanken. Schlechtes Timing.
„Ja, wir kommen.“
Ich stapfe Marly hinterher, zurück in die Küche. Marlys Mutter steht schon fertig gekleidet im Flur. Marly und ihre Mutter umarmen sich, Marly bedankt sich tausendfach und ich überlege, ob ich die Gelegenheit nutze, um mich ebenfalls zu verabschieden.
„So, jetzt gehen wir noch in die Stadt!“ Fabian klatscht in die Hände und erntet reihenweise Zustimmung von seiner Zuhörerschaft.
„Ihr seid alle eingeladen auf ein paar Kaltgetränke!“, strahlt Marly.
Toll, Zeitpunkt verpasst. Ich ärgere mich etwas, doch dann kommt mir mein eben gefasster Entschluss in den Sinn, das traute Paar näher kennenzulernen und vielleicht meine Meinung über ihre Beziehung zu revidieren.
„Bin dabei!“
„Super, Sasha. Wo wollen wir denn hin?“
„Ich schlage mal vor, wir feiern im Soho-Club. Da haben wir einen super Ausblick über die Stadt. Und vielleicht treffen wir auch den ein oder anderen Fußballer.“ Fabian zwinkert mir zu. Als wäre ein Verkupplungsversuch seinerseits mein sehnlichster Wunsch. Wirklich begeistert bin ich allerdings von seinem Vorschlag nicht. Mir wäre ein einfaches Bierchen im Viertel lieber. Die Überseestadt ist nicht mein Revier. Zu viele arrogante Snobs.
„Cool“, höre ich mich sagen. Na toll, super gemacht Sasha.
„Ich freu mich. Dann machen wir uns kurz fertig, und dann geht es los. Kannst du das Taxi für 9 Uhr bestellen, Fabi?“
„Wie, wir brauchen doch keine halbe Stunde, um uns die Haare zu kämmen“, protestiere ich.
„Wir müssen noch ein wenig was an unseren Outfits verändern, so lassen die uns da nicht rein.“
„Wieso, was stimmt denn nicht mit uns?“ Ich gucke an mir runter. Klar, das sind jetzt nicht meine besten Klamotten, aber ganz so schmuddelig sehe ich nicht aus. Pullover, Jeans, Turnschuhe. Ganz normales Outfit.
„Komm, Sasha, wir durchwühlen mal meine Klamotten, du müsstest in meine Kleider passen. Du hast Schuhgröße 39 oder?“
„Ja, immer noch.“
„Wir finden schon was Feines.“ Marly nimmt mich an die Hand und zieht mich in Richtung Treppe. Nicht schon wieder diese ewig endlosen Stufen! Hätten die sich nicht auch noch einen Aufzug einbauen lassen können?
„Ok Jungs, wir treffen uns dann um halb zehn im Soho-Club“, höre ich Fabian rufen, bevor wir in ihrem großzügigen Schlafzimmer verschwinden.
Marly wühlt in einem der Kartons und wirbelt dabei ein paar Kleider auf den Boden, die ich noch nie zuvor bei ihr gesehen habe.
„Ich wusste gar nicht, dass du so viele Kleider besitzt.“
„Einige von denen sind auch brandneu. Guck mal, das hier könnte dir stehen.“ Sie hat ein silbernes Cocktailkleid aus dem Karton gefischt, das elegant wirkt.
„Gib mal her.“ Ich ziehe meine Jeans aus und schlüpfe in die ungewohnte Garderobe. Es passt, ich sehe aus wie eine feine Dame, denke ich, als ich mich in dem angelehnten Spiegel betrachte. Nur die störrischen roten Locken geben meiner Erscheinung einen wilden Touch.
„Perfekt“, quietscht Marly. Ich lächle. Ich wusste gar nicht, was so ein Kleid aus mir machen kann.
„Hier, zieh mal die Schuhe an.“ Marly reicht mir dazu passende silberne elegante Pumps mit einem leichten Absatz. Ich kann einigermaßen mit ihnen laufen und bin froh darüber.
Marly selber ist jetzt ganz in Schwarz gekleidet. Ihr Kleid hat einen tiefen Ausschnitt und ihre Schuhe sind um einiges höher als meine.
„Wow, Marly, bist du hübsch“, entwischt es mir.
„Danke“. Sie ist ein wenig rot im Gesicht geworden. Aber auch dieser Teint steht ihr.
„Seid ihr soweit?“, ruft es von unten.
„Gleich, nur noch kurz schminken.“
„Ich glaube das reicht so, Marly“. Mir ist diese Veränderung schon genug, da muss sich nicht auch noch mein Gesicht anpinseln.
„Keine Angst, ganz dezent.“ Marly schleift mich in das obere Badezimmer. Ihre Schminkutensilien haben schon ihren Platz in dem großen Badezimmerschrank gefunden. Man muss eben Prioritäten setzen.
Meine Überraschung über Marlys Makeup-Künste ist groß. Der Blick in den Spiegel, nachdem sie Hand an mein Gesicht gelegt hat, lässt mich in die Augen einer hübschen, eleganten jungen Frau blicken.
„Oh, ich wusste gar nicht, was so ein bisschen Makeup aus einem Menschen machen kann.“
„Es unterstreicht nur unsere natürliche Schönheit!“, antwortet Marly. Natürlich, na ja, so komme ich mir momentan nicht wirklich vor. Eher verkleidet. Aber ich finde Gefallen an dieser Verkleidung und spüre eine angenehme Vorfreude auf die für mich ungewöhnliche Abendveranstaltung.
„Ok, dann lass uns mal den Abend in Angriff nehmen!“, sage ich.
Wir gehen die Treppe hinunter, ich ein wenig langsamer als sie, da ich mich erst an das Laufen in den ungewohnten Schuhen gewöhnen muss.
Wir lassen uns mit einem Taxi in die Überseestadt karren. In einem Kleid ist Fahrradfahren wahrscheinlich nicht die beste Option. Gerade bei den draußen herrschenden unterkühlten Temperaturen.
Der Soho-Club befindet sich im fünften Stock. Natürlich besitzt das Gebäude einen Fahrstuhl. Als wir ankommen, sind wir Zeugen einer hitzigen Diskussion eines türkisch aussehenden jungen Mannes und den zwei Türstehern, beide bullige Typen, der eine glatzköpfig, der andere mit kurz rasierten Haaren. Klischeetürsteher, denke ich.
„Das hat nichts mit Rassismus zu tun, ich habe dir doch gesagt, wir haben hier Einlassstopp, der Laden platzt aus allen Nähten!“, äußert sich der Glatzköpfige.
„Ich kann hier keinen übervollen Laden erkennen! Ihr hört von meinem Anwalt!“ Der junge Mann ballt seine Hand zu einer Faust und bewegt sich wutentbrannt in Richtung Fahrstuhl. Die Türsteher schauen ihm mit eiserner Miene hinterher.
„Ah, Herr Cordes, schön Sie zu sehen. Und was haben Sie heute für bezaubernde Begleitungen mitgebracht!“ Der rasierte Typ hat uns erspäht und lässt uns eine Exklusivbehandlung zuteil kommen.
Fabian zieht seine Mundwinkel zu einer Art Lachen zusammen. „Ja, heute sind es gleich zwei bezaubernde Ladies.“
Pah, von so einem Kotzbrocken als bezaubernde Lady betitelt zu werden, hebt nicht gerade meine Laune. Was für ein elitäres Gehabe. Ich wünsche mich in meinem Wohlfühloutfit ins Viertel, mit einer Marly, die sich nichts aus Oberklassengehabe macht und mit mir um die Häuser zieht.
Ich scanne die Partymeute nach bekannten Menschen, doch es wundert mich nicht, dass mir keines der zum Teil grotesk geschminkten Gesichter bekannt vorkommt. Der Club ist nicht wirklich überfüllt, entgegen der Behauptung des Türstehers. Das Interieur ist elegant gehalten, das lilafarbene Licht gibt der Atmosphäre etwas Verzaubertes. Aus der Anlage dröhnt billiger Elektropop.
Fabians guter Kumpel Johannes winkt uns herüber. Er sitzt mit einer Gruppe junger Männer und zwei Mädels an der Theke. Ich erkenne drei der weiteren Umzugshelfer, die zwei anderen Typen und die Mädels sind mir unbekannt. Fabian begrüßt sie alle überschwänglich mit einer Umarmung und die Frauen mit einem Bussi links und rechts. Als Johannes mir eine Umarmung anbietet, springe ich über meinen Schatten und lasse ihn gewähren.
„Wow, was für eine Lady! Gut siehst du aus!“
„Danke, du auch.“
Komplimente bekommen und verteilen ist nicht unbedingt mein Metier.
„Was willst du trinken?“
„Champagner“, sage ich scherzhaft. Johannes winkt sofort einen der Barkeeper heran. „Champagner für die Dame, bitte!“
Ich habe vergessen, dass ich mich hier in anderen Kreisen bewege als sonst.
Das Glas wird vor mir auf der Theke platziert und ich bin froh darüber, mich ab und zu mit dem Nibbeln an dem Champagnerglas zu beschäftigen. Ich komme mir vor wie eine unschuldige Schönheit vom Lande, die zum ersten Mal das Nachtleben schnuppert.
„Warst du schon einmal hier?“
„Nee, noch nie.“
„Na dann wird es ja mal Zeit.“
Das bezweifle ich.
„Mir gefällt das Lila.“ Mann, was für ein bescheuerter Satz, der da aus mir herauskriecht.
„Und die Aussicht erst, hast du sie schon genossen?“
Ich schüttle mädchenhaft den Kopf.
„Dann holen wir das noch nach!“
Ich nicke und nehme einen großen Schluck aus dem schmalen Glas.
„Mann, du hast aber nen Zug drauf. Willst du noch einen?“
Wieder nicke ich. Mein Kopf prickelt, wie der Champagner. Ich fange an, zu der blöden Musik mit dem Fuß zu wippen und beobachte gedankenverloren die Menschen um mich herum. Einige flirten, andere bewegen sich elegant zur Musik. Und wiederum andere weniger elegant. Tanzstile können schon merkwürdig aussehen, denke ich.
Als ich erneut mein leeres Glas auf der Theke abstelle, wendet sich Johannes mir wieder zu.
„Komm, wir gucken uns mal das Panorama an.“
„Aber doch nicht völlig auf dem Trockenen!“, beschwere ich mich.
„Nein, natürlich nicht, Nachschub kommt sofort!“ Es dauert keine zwei Minuten, da habe ich ein neues prickelnd gefülltes Glas vor mir stehen. Ich rutsche etwas schwankend von meinem Barhocker.
„Na dann mal los!“
Als wir uns auf die große Fensterscheibe zubewegen, legt er sanft seinen rechten Arm auf meine Schulter. Ich bin schon ziemlich beschwipst, merke ich, ich habe Schwierigkeiten, gerade zu laufen ohne zu stolpern. Mir scheint es, als habe auch der Club sich etwas mehr gefüllt. Als wir uns durch die Ansammlungen von Menschen schlängeln, komme ich mir vor wie in einem Tetris-Spiel. Letztendlich positionieren wir uns vor der Glasscheibe. Die Lichter der Überseestadt leuchten und erobern sich die Nacht zurück. Die Kälte der Außenwelt scheint so weit entfernt, hier in diesem von der Körperhitze der Partymeute erwärmten Raum.
„Es ist wunderschön“, staune ich. „Guck dir all die Lichter an.“ Scheiße, ich bin ganz schön besoffen, da kommt nur duseliges Klein-Mädchen-Gesäusel aus meinem Mund.
„Ja, ich mag diese Aussicht sehr. Aber vor allem die Aussicht, die sich direkt vor mir befindet.“ Johannes grinst breit. Seine Augen lächeln mit. Das gefällt mir. Und ich genieße, angeflirtet zu werden. Das passiert nicht alle Tage.
Ich grinse nur blöd. Bis über beide Ohren. Mir fällt partout kein guter Satz ein, der als Erwiderung dienen könnte.
„Ich hätte noch gerne so ein Getränk in mein Glas.“ Ich strecke ihm mein leeres Champagnerglas entgegen. Er nimmt es, ohne sein Lächeln zu unterbrechen.
„Kommt sofort, die Dame.“
Ich sehe ihn geschmeidig seinen Weg zu der Theke bahnen. Ich lächle in mich hinein. Ich fühle mich wie die Königin der Nacht. Nichts kann mir etwas anhaben, ich befinde mich auf einer Wolke, auf der die Welt dort unten nicht herankommt, selbst wenn sie es versuchen sollte.
Doch dann merke ich, dass mein Körper mit auf dieser Wolke schwebt, und seine eigenen Ansprüche an mein benebeltes Gehirn meldet. Ich muss mal pissen. Dringend. „Muss das sein…“, murmle ich zu mir selbst, aber ich setze mich langsam in Bewegung, um dem kleinen Problem Herrin zu werden. Konzentration ist nötig, um nicht in Schlangenlinien zu laufen. Die Menschen bauen sich vor mir auf, sodass sie bedrohlich wirken und ich immer wieder in meinem Weg abgeschnitten werden.
„Fuck“, fluche ich leise vor mich hin. Ich habe es fast geschafft, da sehe ich, dass sich an der Theke ein Rudel gebildet hat. Ich blinzle, und erkenne Fabian in dessen Mittelpunkt, der die Anderen dank seiner Körpergröße überragt.
Marly zerrt an seinem Hemd und ruft: „Lass gut sein, Fabi, das ist es nicht wert!“ Ich stolpere auf sie zu und bahne mir nun sehr viel aggressiver meinen Weg.
„Was ist hier los?“ Marly wendet den Blick zu mir und in diesem kleinen Augenblick der Unachtsamkeit entgleitet ihr der Zipfel von Fabians Hemd, der seinen freien Arm dazu nutzt, um dem Typen neben ihm eine in die Fresse zu schlagen. Dieser geht in einer Art Fußballdramatik zu Boden, sein Arm schützend vor seinem Gesicht.
„Fabian!“, schreit Marly empört.
„Ey, Alter, was stimmt nicht mit dir?!“, schreie ich Fabian an. Aber der nimmt weder mich noch Marly wahr, denn die Prügelei ist nun in vollem Gang. Ich ziehe Marly aus der Menge, welche sich erst zaghaft wehrt, dann jedoch meine Hilfe zulässt.
„Marly, was geht hier ab?“ Ich umklammere mit meinen Händen ihre Schulter, sodass sie sich auf mich konzentrieren muss.
Marly zögert, dann stottert sie los. „Ich weiß auch nicht, der Typ hat Fabi blöd angemacht.“
„Wie, blöd angemacht?“
„Keine Ahnung. Der hat irgendwas zu ihm gesagt.“
„Und da kloppt er dann los?“ Ich bin fassungslos. Da schwebte ich im siebten Himmel und dann werde ich wieder so hart auf den nackten Boden der Tatsachen geworfen, dass mir übel wird.
„Na ja, nicht sofort. Sie haben sich vorher ein Wortduell geliefert. Und wurden dann immer lauter.“ Marly wirkt unsicher. Ihre Augen blicken resigniert auf den Boden.
„Marly, der Typ spinnt. Der ist voll gewaltbereit. Scheißegal was der andere Typ zu ihm gesagt hat, das ist einfach ein beklopptes Verhalten!“ Ich merke, dass dieser Satz im wahrsten Sinne des Wortes zutrifft, als ich die kloppende Meute beobachte.
Die Türsteher sind mittlerweile zur Hilfe geeilt und ziehen die Kontrahenten auseinander. Ich erblicke Johannes aus dem Augenwinkel, der mit all seiner Kraft den vor Wut schäumenden Fabian zurückhält.
„Ich geh da jetzt hin“, murmelt Marly und dreht sich von mir ab.
„Du spinnst ja!“
Als ich Marly durch die entsetzten Gaffer hindurch in Richtung Tumult verschwinden sehe, eile ich schnurstracks zur Garderobe. Es reicht mir. Ich habe genug gesehen. Nichts wie weg hier!
Ich komme schnell dran, der Ansturm an Partygästen ist vorbei und für die meisten ist es noch zu früh, um wieder zu gehen. Aber ich bin froh, diesen Ort zu verlassen. Ich möchte nur noch in mein warmes Bett, mit einer Wärmflasche an den Füßen.
Unten kommt mir die eiskalte Luft entgegen und lässt meinen Atem gefrieren. Meine volle Blase erinnert mich wieder an ein dringendes Bedürfnis. Ich zögere keinen Augenblick und steige in das erste Taxi ein. „Bringen Sie mich nach Hause, so schnell es geht“, sage ich mit einem bestimmten Unterton, der keinen Zweifel offen lässt. Außer vielleicht, wo genau Zuhause sein soll.