Читать книгу Asche zu Asche, Sterne zu Staub - Wiebke Schmidt-Reyer - Страница 10

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Jetzt ist Auguste selbst zu den Toten gegangen, und wir haben uns hier versammelt, hier auf dem großen Hof und in dem kleinen verbauten Steinhaus, in dem sie die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Wir, das sind meine Geschwister Max und Lily und unsere Mutter Sophie, Lukas und die Blaue Paula mit ihren sieben Kindern, den vielen Schwiegertöchtern, dem einen Schwiegersohn und den unzähligen Enkelkindern. Lilys Mann Iain ist hier und Mia und Christopher aus Afrika. Mark Anthony ist zu Hause geblieben, weil seine Frau vor wenigen Tagen ein Kind bekommen hat. Es ist unvollständig ohne ihn, aber Christopher ist schön genug für sie beide. Vincent ist da, der Sohn von Leonie, für dessen Verwandtschaftsverhältnis zu uns wir kein Wort haben, aber jetzt ist es auch egal, denn er sieht alt und verschwindend aus und ist mit Sicherheit der nächste, der geht. Zwei Frauen tauchen auf und sagen, sie seien die Enkelinnen von Severin und Marianne und damit Augustes Großnichten. Niemand kennt die beiden Frauen, aber wir glauben ihnen und heißen sie willkommen, weil zwei mehr oder weniger keinen Unterschied macht.

Seit knapp einer Woche nun feiern wir Familientreffen, lachen und schwatzen und tauschen Erinnerungen aus, lernen einander neu oder überhaupt erst kennen. Es ist ein Wiedersehen, kein Abschied, und wer Auguste kannte, wird wissen, dass sie nur so und nicht anders hat sterben wollen. Wir schlafen alle auf dem Hof, auch die, die nahe genug wohnen, um abends nach Hause fahren zu können. Die Erwachsenen sind aufs Haupthaus und die Gästezimmer in den Wirtschaftshäusern verteilt, die Kinder schlafen alle auf dem Dachboden, so, wie wir es früher getan haben. Essen müssen wir in zwei Schichten, weil keiner der Tische so viele Personen fasst, und erstmals in ihrem Leben herrscht zwischen Sophie und der Blauen Paula Frieden, wenn sie gemeinsam und abwechselnd in der Küche stehen, um die Familie von morgens bis abends zu bekochen. Die Frauen fragen Max nach seiner Erdumrundung, und was sie eigentlich wissen wollen, ist, ob er dort nicht endlich die Frau seiner Träume gefunden hat, denn sie wollen und können nicht einsehen, dass dieser geschmeidige, gestählte Körper, diese seidigen schwarzen Locken und das tief gebräunte Gesicht mit den klaren grauen Augen nicht endlich jemandem Freude bereiten sollen. Es dürfte auch ein Mann sein, dann wären sie weniger eifersüchtig, aber vergeudet werden darf seine Schönheit nicht. Max beantwortet ihre Fragen mit viel Charme und Witz, gibt sich geheimnisvoll und lächelt sein Lächeln, für das sie alle sterben möchten, aber er gibt nicht preis, was sie wissen wollen. Mich fragt niemand nach einem Partner oder Heiratsplänen, wahrscheinlich weil es ihnen peinlich wäre, nach dem falschen Mann zu fragen; sie haben den Überblick verloren. Lily macht es ihnen einfacher. Ihren Iain haben alle sofort ins Herz geschlossen. Sie sind stolz, eine so bekannte Persönlichkeit in ihrer Mitte zu haben, und beglückwünschen ihn immer wieder zu seinem Erfolg. Wenn das Gespräch darauf kommt, zwinkern wir Cousins und Cousinen einander zu und knuffen Lily, die das nicht sehen kann, in die Seite, aber wir verraten uns nicht und lassen Iain in Ahnungslosigkeit.

Wenn es uns zwischendurch mal gelingt, uns zusammenzusetzen, besprechen wir die Dinge, die besprochen werden müssen: Die Vorbereitung der Beerdigung und die Verteilung von Augustes Eigentum. Es gibt viel zu verteilen. Auguste hat viele Jahre lang den Luxus genossen, als alleinstehende Frau ein ganzes Haus zu ihrer Verfügung zu haben, dessen Einrichtung sie mit niemandem teilen musste. Ihre zahlreichen Freundinnen und auch flüchtige Bekannte haben diese Gelegenheit genutzt, alles Mögliche bei ihr abzuladen: kurzfristig ausgelagerte Möbelstücke, die abzuholen vergessen wurde; leidenschaftliche Liebesbriefe aus außerehelichen Affären, die zu Hause aufzubewahren zu riskant gewesen wäre; alle Arten von Besitztümern, die zwar Scheidungen überdauert, aber nicht den Weg in eine neue Beziehung gefunden haben; Liebgewonnenes, aber nicht Lebensnotwendiges, das bei Auswanderungen hätte nachgeholt werden sollen und dann doch nicht mehr wichtig war; exotische Zimmerpflanzen mit Ansprüchen, die kaum eine moderne Wohnung zu befriedigen vermag, die aber irgendwie in Augustes teils überheizten, teils unterkühlten, teils modrigen Räumen ihr Zuhause gefunden haben. Hier wuchern und gedeihen die merkwürdigsten Gewächse aus den entlegensten Winkeln der Welt, darunter einige, die hierzulande niemand zu benennen vermag, und einige, die wahrscheinlich erst hier entstanden sind. Falls es ein Testament gibt, das den Verbleib all dieser Dinge regelt, weiß niemand etwas davon, und sollte es noch auftauchen, wird die Familie es gewiss ignorieren.

Asche zu Asche, Sterne zu Staub

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