Читать книгу Asche zu Asche, Sterne zu Staub - Wiebke Schmidt-Reyer - Страница 15
Оглавление6Schon nach kurzer Zeit fand sie in einen wenig ereignisreichen, aber nicht unangenehmen Trott. Zweimal pro Woche, jeweils dienstags und freitags, fuhr Kenny in die Stadt, um Besorgungen zu machen und die Post abzuholen. Zwischen Dienstagnachmittag und Mittwochmorgen, wenn sie ihren Termin mit Erskine hatte, musste sie die Bankauszüge und die andere Post sichten, die Bücher nachtragen und die wichtigen Informationen für Erskine zusammenfassen. Bis Donnerstagabend musste sie die Briefe geschrieben haben, die er ihr mittwochs in Auftrag gab, damit Kenny sie am Freitag zur Post bringen konnte. Dazwischen hatte sie viel Zeit, in der sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Sie ging auf ausgedehnte rambles, wie Mister Bateson es genannt hatte, nahm ihr Fernglas mit und notierte akribisch, wann sie wo welche Vögel gesehen hatte. Sie nahm Mister Erskines Einladung an, sich in der Bibliothek zu bedienen, und las viele seiner kostbaren Bücher. Sie schrieb lange Briefe an ihre Eltern, an Smarri, an Mathilda, Tamsin, Edith und gelegentlich an Hontamilia in London. Einmal schrieb sie an Miss McInnes und bedankte sich noch einmal, dass sie ihr die Möglichkeit gegeben hatte, nach Grey Heron Hall zu kommen. Aber der Brief kam zurück mit dem Vermerk Empfänger unbekannt verzogen, was ihr merkwürdig erschien, einerseits, weil sie nie damit gerechnet hätte, dass Miss McInnes Fenmoore verlassen würde, andererseits, weil man ihr den Brief doch sicher dorthin, wo sie jetzt war, nachgeschickt hätte. Gelegentlich, wenn Paddy Mister Erskines Pferde bewegte, nahm er sie auf einen Ausritt mit. Aber die drei Pferde waren auch schon alt und waren es zufrieden, die meiste Zeit auf ihrer großen Wiese rumzustehen und das gelbliche, spärliche Gras zu knabbern. Abends führte Paddy sie in den Stall, der eigentlich für achtzehn Pferde ausgelegt war und mit nur dreien zu groß und verlassen wirkte, aber irgendwie auch heimelig, wie ein Hotel am Ende der Saison, wenn nur noch ein paar Stammgäste verblieben sind, die schon fast zum Inventar gehören.
Charly besuchte die Pferde gerne im Stall. Der Duft des Heus, das sie bedachtsam und mit viel Ernsthaftigkeit malmten, erinnerte sie an die hochsommerlichen Tage der Heumahd zu Hause. Sie liebte es, ihre Ohren zu beobachten, die ständig in Bewegung waren, ihrem zufriedenen Schnauben zu lauschen und dem sanften Swischswisch ihrer Schweife, wenn sie die Fliegen verjagten. Die Pferde ließen sich gerne von ihr striegeln und standen dann selbstvergessen, blinzelnd und mit friedlich hängenden Köpfen still, ohne dass sie sie hätte anbinden müssen. Danach saß sie oft noch lange auf den Strohballen, die in einer verlassenen Box gestapelt waren, pulte die Haare aus den Bürsten, bis sie wie neu waren, oder polierte das Sattelzeug, das Paddy ohnehin makellos sauber hielt. So vergingen manchmal ganze Tage, ohne dass sie wirklich zu sagen gewusst hätte, was sie eigentlich getan hatte, aber ohne dass sie unzufrieden gewesen wäre.
Bald begann Charly zu ahnen, dass Mister Erskines wahres Vermögen nicht auf den Konten ruhte, in die sie Einblick hatte. Ihren Lohn bekam sie freitags nachmittags von Mrs Titcum ausbezahlt, und sie vermutete, dass Kenny die gesamte Lohnsumme bei seinen Fahrten in die Stadt abhob und Mrs Titcum übergab. Die Löhne standen nicht in den Büchern, die Charly führte. Es dauerte mehrere Wochen, bis sie überhaupt daran dachte, dass sie Kenny ja mal fragen könnte, ob sie mal mitfahren dürfte in die Stadt, und dann vergingen noch ein paar Wochen mehr, bis sie den Mut aufbrachte, ihn tatsächlich zu fragen. Nie schien einer der anderen Angestellten mit Kenny mitzufahren, und als sie Celeste fragte, ob sie nicht mal zusammen fahren wollten, antwortete diese mehrfach ausweichend und sagte einmal kategorisch ab, bis Charly aufhörte zu fragen.
Sie wusste schon gar nicht mehr zu sagen, wie lange sie bereits auf Grey Heron Hall war, als sie eines Tages all ihren Mut zusammen nahm und Kenny ansprach. „Sagen Sie, Kenny, ich habe mir überlegt, ob es wohl möglich wäre, wenn Sie mal in die Stadt fahren, also, ob Sie mich da mal mitnehmen könnten. Nur wenn es Ihnen recht ist, natürlich. Ich könnte Ihnen auch bei den Besorgungen helfen. Und ich würde mich gerne mal ein bisschen umschauen.“
Kenny lächelte höflich. „Natürlich, gerne“, sagte er. „Sie können jederzeit mitkommen“, und Charly war erleichtert, dass er sie nicht abwimmelte und freute sich auf den bevorstehenden Ausflug in die Stadt, deren Namen sie immer noch nicht kannte.
Das war an einem Samstag gewesen. Als er am Dienstag fuhr, machte er sich bereits früh morgens auf den Weg, noch bevor Charly aufgestanden war. Am Donnerstagabend fragte Paddy, ob sie am Freitag mit ihm ausreiten würde, es versprach ein herrlicher Tag zu werden. Sie sagte zu und nahm sich vor, am folgenden Dienstag mit Kenny in die Stadt zu fahren. Am Montagabend fühlte Celeste sich nicht wohl und bat Charly, ihr am Dienstag beim Saubermachen und ihren sonstigen Arbeiten zur Hand zu gehen, sie fühle sich zu schwach. Und so war immer wieder etwas, das ihren Ausflug in die Stadt verhinderte. Da Kenny nie von sich aus fragte, wann sie denn nun mal mitkommen wollte, befürchtete sie, er denke mittlerweile, sie habe das Interesse verloren, und es wurde ihr zunehmend unangenehm, ihn noch einmal darauf anzusprechen. Stattdessen gab auch sie, wie die anderen, Kenny eine Einkaufsliste und Geld mit, wenn sie irgendetwas brauchte, und er erfüllte alle Aufträge sorgsam und zu jedermanns Zufriedenheit, sodass offenbar nie jemand das Bedürfnis hatte, seine Besorgungen selbst zu erledigen.
In ihren Briefen nach Hause und an ihre Freundinnen von Fenmoore beschrieb Charly die Atmosphäre auf Grey Heron Hall als überaus friedfertig. Alle waren sehr freundlich zueinander und halfen einander aus, wenn es nötig war. Mister Erskine behandelte sie alle gleich und schätzte jeden in seinem Aufgabenbereich, sodass es keinen Anlass gab, sich herauszustellen, um seine Gunst zu buhlen oder eifersüchtig aufeinander zu sein. Schon nach wenigen Wochen aber wurde Charly klar, dass der Haushalt deutlich überbesetzt war. In einem Brief an Smarri schrieb sie:
Manchmal frage ich mich, wozu er all diese Angestellten braucht. Mal angefangen bei mir selbst: Das, was ich mache, ist wirklich überschaubar und schnell erledigt. Das könnte Kenny, der Fahrer, auch noch machen (er hat eine sehr gute Schulbildung, er kann das sicher genau so gut wie ich). Kenny hat auch viel Freizeit. Zweimal pro Woche macht er die Besorgungen in der Stadt, aber ansonsten hat er nicht viel zu tun. Jede Woche poliert er Mister Erskines zwei Autos, und manchmal schraubt er an ihnen rum. Aber ganz ehrlich habe ich das Gefühl, dass er sie poliert und in Stand hält wie Paddy das Sattelzeug: Es ist ohnehin alles schon makellos, er hält nur diesen Zustand ständig aufrecht.
Und Paddy: Seine Aufgabe ist, morgens die Pferde auf die Weide zu führen und abends wieder in den Stall. Dazwischen muss er die drei Boxen ausmisten. Das kann man in einer halben Stunde erledigen, aber er gibt sich so viel Mühe und schüttelt das Stroh so liebevoll auf, dass er über eine Stunde dafür braucht. Danach fegt er mindestens dreimal die Stallgasse, bis wirklich kein Hälmchen mehr rumliegt, und dann misst er für jedes Pferd aufs Gramm genau die Futterration ab und mischt alles zusammen, bis der halbe Vormittag rum ist. Er liebt die Pferde und kümmert sich rührend um sie, aber eigentlich könnte Simon das auch machen.
Simon kann sich noch am besten beschäftigen: Es gibt immer irgendwo ein Hälmchen zu zupfen oder eine welke Blüte abzuschneiden oder einen Busch zu stutzen. Aber der Boden hier ist so sumpfig, und ewig heult der Wind, und nie scheint die Sonne, dass hier wirklich nur die robustesten Pflanzen wachsen, und wenn sie mal da sind, brauchen sie nicht viel Pflege. Dann kann man sie nur noch entfernen, wenn sie wieder tot sind.
Und dann ist da noch Mister Titcum, von dem ich wirklich nicht weiß, was er eigentlich macht. Gelegentlich sehe ich ihn Holz hacken, und manchmal hilft er Simon beim Schneiden der Hecken, oder er schleppt irgendwas mit Paddy oder Kenny durch die Gegend, aber ich glaube, er ist nur hier, weil er mit Mrs Titcum verheiratet ist. Aber ganz ehrlich weiß ich auch nicht, was Mrs Titcums Aufgaben genau sind. Kochen tut sie ja nicht, das macht Babette, und die Zimmer macht Celeste. Mrs Titcum ist der Haushaltsvorstand, hat sie mir gesagt, aber was genau sie da den ganzen Tag so tut, weiß ich nicht.
Du siehst, wir sind hier alle nicht gerade überarbeitet, und ich wundere mich nicht nur, dass Mister Erskine all diese Leute beschäftigt und bezahlt, wo er sicher auch mit weniger Personal auskommen würde (wobei es ihm glaube ich nicht auf das Geld ankommt, er ist wirklich sehr reich), sondern dass sie alle auch hierbleiben. Es ist wirklich sehr entspannend, und alle sind sehr nett zueinander, aber ich glaube, nach einigen Jahren wird es sehr langweilig, tagaus, tagein, Woche für Woche, das ganze Jahr hindurch immer nur das gleiche zu machen und nie Abwechslung zu haben. Besonders für Babette ist es sicher oft sehr langweilig. Sie kann ja noch nicht mal richtig mit uns sprechen. Abends sitzt sie immer mit uns zusammen und macht irgendeine Handarbeit, aber den Gesprächen kann sie kaum folgen. Gerade jetzt, wo ich das so schreibe, wundere ich mich, dass sie noch nicht versucht hat, Englisch zu lernen. Zeit hat sie ja wirklich genug, und es würden ihr auch gewiss alle helfen. Vielleicht sollte ich ihr mal anbieten, es ihr beizubringen. Ja, das könnte ich tun.
Ein paar Wochen später schrieb Charly:
Weißt Du noch, wie ich neulich mal überlegt hatte, Babette zu fragen, ob sie nicht Englisch lernen möchte? Ich wollte nicht aufdringlich sein oder irgendeinen Patzer machen, deswegen habe ich erst mal Celeste gefragt, was sie von der Idee hält. Sie hat gesagt, das müsste ich mit Mrs Titcum besprechen, was ich sehr merkwürdig fand, weil ich doch eigentlich nur von ihr wissen wollte, ob sie glaube, dass Babette sich freuen würde. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Mrs Titcum da um Erlaubnis bitten muss. Und weil ich nicht weiß, was ich davon halten soll, habe ich Mrs Titcum bisher noch nicht gefragt. Ich weiß auch nicht, ob ich sie wirklich fragen soll. Das muss ich doch nicht, oder? Ich wollte ja nur Babette ein nett gemeintes Angebot machen, weil ich denke, dass sie sich vielleicht arg langweilt, wenn sie nie mit jemandem sprechen kann.
Aber ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob Babettes Leben so viel interessanter würde, wenn sie mit uns reden würde. Zwar sitzen wir jeden Abend in dem kleinen Salon zusammen, der quasi der Aufenthaltsraum der Angestellten ist, aber viel Interessantes wird da nicht gesprochen. Paddy erzählt von den Pferden, und er tut das mit sehr viel Liebe, aber im Stall passiert auch nichts Neues. Simon hat in der Regel gar nichts beizutragen, Mrs Titcum und Celeste reden über irgendwelche Dinge, die geputzt oder geflickt werden müssen, und Mister Titcum schweigt ohnehin immer nur und raucht seine Pfeife. Wenn Kenny in der Stadt war, frage ich ihn immer aus, ob er irgendwas Interessantes gesehen hat, aber er ist immer sehr kurz angebunden, und meistens sagt er nur, der Krieg habe alles verändert. Über den Krieg möchte niemand sprechen. Dann schweigen immer alle nur, und irgendwann fängt Paddy wieder an, von den Pferden zu reden. Meistens lese ich abends einfach ein Buch oder schreibe Briefe.
Diese gewisse Gereiztheit über das Leben auf Grey Heron Hall brachte Charly nur in ihren Briefen an Smarri und Mathilda zum Ausdruck. An Mathilda schrieb sie:
Ich bezweifle, dass das Mädchen vor mir wirklich gegangen ist, um zu heiraten. Wo will sie denn hier einen Mann kennen gelernt haben? Es sei denn, sie ist gegangen, um einen Mann kennen zu lernen! Wenn ich so darüber nachdenke, ist dies die einzig mögliche Variante, in der die Geschichte stimmen kann.
Ihren Eltern gegenüber schrieb sie nur von der Freundlichkeit aller Angestellten, von den vielen Büchern in Mister Erskines Bibliothek, welche sie davon schon gelesen hatte und welche ihr besonders viel Freude bereitet hatten, von den Spaziergängen und Ausritten, die sie unternahm, und welche Vögel und anderen Tiere sie dabei gesehen hatte. Wenn ihr der Stoff ausging, schrieb sie über das Wetter und vergnügte sich damit, die zunehmend düstere Herbststimmung in malerische Worte zu verpacken.
Und dann passierte doch noch etwas Neues und Aufregendes: Eines Tages, als Charly in ihrem Büro über den Rechnungsbüchern saß, fuhr ein Auto vor. Sie hörte es an dem Geräusch der Räder auf dem Kies der Auffahrt, und da es weder ein Dienstag noch ein Freitag war, konnte es nicht Kenny sein. Sie stand vom Tisch auf und trat ans Fenster, gerade noch rechtzeitig, um einen unbekannten Mann aus einem imposanten, auf Hochglanz polierten Auto steigen zu sehen. Von oben war kaum mehr von ihm zu sehen als sein Hut. Er schien groß zu sein und legte die Strecke zwischen seinem Wagen und der Eingangstür mit wenigen energischen Schritten zurück. Charly hörte die Tür sich öffnen und wieder schließen und dann gedämpfte Stimmen, eine dunkle, männliche und die von Mrs Titcum, die noch höher klang als sonst. Ein Besucher auf Grey Heron Hall war so neu und unerwartet, dass Charly ihr Büro verließ und die große Treppe hinunterging – um sich in der Küche einen Tee zu holen, wenn jemand sie gefragt hätte. Aber als sie in der Eingangshalle ankam, war diese schon wieder leer, und sie sah gerade noch, wie Mrs Titcum am Ende des Ganges irgendwohin davontrabte.
Charly ging in die Küche, wo Babette am Herd stand und in einem großen Topf rührte. Auf ihren Wangen zeichneten sich rote Flecken ab, wie Charly es noch nie bei ihr gesehen hatte. Sie nahm sich einen Tee, setzte sich an den großen Tisch und begann eine einseitige Konversation mit Babette. „Hat Mister Erskine Besuch?“ Sie deutete mit dem Finger in Richtung der Eingangshalle, um zu verstehen zu geben, dass dort jemand gewesen war.
Babette nickte aufgeregt. Offenbar hatte sie verstanden. Sie rührte noch ein paar Mal in dem Topf herum, strich dann die Hände an der Schürze ab und wiegte den Kopf hin und her, als könne sie dadurch ihre Gedanken sortieren. Dann sagte sie mit ihrem starken Akzent Ljucarrdief. Sie sagte es, als spräche sie vom Papst höchstpersönlich.
Charly sagte dieses Wortgebilde nichts, und so deutete sie auf den Topf auf dem Herd und fragte: „Bleibt er zum Essen?“
Wiederum nickte Babette, und Charly begann sich zu fragen, ob Babette nicht vielleicht viel mehr verstand, als sie ihr bisher zugetraut hatte. Während sie überlegte, wie sie noch mehr Informationen aus Babette herausbekommen könnte, flatterte Celeste in die Küche herein. Sie bewegte sich erheblich schneller als sonst. „Babette, Tee!“, befahl sie in ungewöhnlich scharfem Tonfall, aber statt Celeste mit einem gekränkten Blick zu strafen, beeilte sich Babette, ihr ein schon vorbereitetes Tablett mit einer Teekanne, zwei Tassen und einigen Keksen und Kuchenstücken in die Hand zu drücken, mit dem Celeste eben so eilig, wie sie gekommen war, die Küche wieder verließ.
Mehr noch als der Besucher an sich begann Charly das ungewöhnliche Verhalten ihrer Kolleginnen zu interessieren. Als sie wieder mit Babette allein war, fragte sie: „Wer ist dieser Gast?“
Babette strich sich wieder die Hände an der Schürze ab, wiegte den Kopf hin und her und sagte dann: „Von Bank.“
„Von der Bank?“ gab Charly verblüfft zurück. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, mit was für Besuch sie gerechnet hätte, wenn sie denn überhaupt je mit Besuch gerechnet hätte, aber nicht mit jemandem von der Bank. Sofort stürzten in ihrem Kopf die Fragen durcheinander. War Erskine gar nicht so reich, wie sie dachte? Sie hatte immer angenommen, er habe noch andere Konten als die, die sie verwaltete. Aber vielleicht stimmte das ja gar nicht. War er bankrott? Kam jemand von der Bank, um ihm seine missliche Lage darzulegen? Erklärte das vielleicht Babettes Aufregung und Celestes strengen Tonfall? Aber woher sollten die beiden das wissen? Hatte nicht, wenn überhaupt jemand, sie, Charly, Einblick in Mister Erskines Konten? Oder wussten es sogar alle außer ihr? Sie schob diese Gedanken beiseite und begann neu nachzudenken. Es musste ja nicht bedeuten, dass Erskine Geldprobleme hatte. Wäre es nicht sogar normal, dass eine Bank einem unermesslich reichen Kunden einen persönlichen Berater nach Hause schickte, insbesondere wenn dieser Kunde alt und gebrechlich war? Vielleicht hatte Erskine darum gebeten, weil er Geldgeschäfte zu besprechen hatte, die er weder ihr noch Kenny übertragen konnte.
In ihre Überlegungen hinein platzte Mrs Titcum, ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf einen Stuhl fallen und bekam von Babette unaufgefordert eine Tasse Tee hingestellt. Auch das war neu. Normalerweise bediente sich jeder selbst. Nach einigen hastigen Schlucken rief Mrs Titcum in Babettes Richtung: „Ist alles fertig?“ Babette deutete stumm auf den großen Topf auf dem Herd. Mrs Titcum nickte zufrieden und trank, nun etwas ruhiger, ihren Tee.
Charly platzte fast vor Neugierde und musste nun endlich fragen: „Wer ist dieser Besucher von Mister Erskine?“
Mrs Titcum seufzte tief. „Luke Cardiff“, sagte sie dann.
Luke Cardiff, so hieß Babettes Ljucarrdief also. Charly wartete, ob noch mehr kam. Als das nicht der Fall war, hakte sie nach: „Wer ist er?“
Erneut seufzte Mrs Titcum. Sie schien an diesem Tag viel zu seufzen zu haben. „Er ist von der Bank.“
Wieder blieb sie Charly weitere Informationen schuldig, sodass diese schließlich schüchtern fragte: „Ist das gut oder schlecht?“
Mrs Titcum sah sie überrascht an. „Was meinen Sie mit gut oder schlecht?“
„Naja, ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass Mister Erskines Bankberater hierher kommt?“
Mrs Titcum lachte glucksend. Sie schien Charlys Sorgen erraten zu haben. „Na, Mister Erskine hat mal keine Geldprobleme, falls es das ist, was Sie denken.“
Und warum sind alle so aus dem Häuschen, nur weil der Mensch von der Bank kommt? hätte Charly eigentlich gerne gefragt, aber sie befürchtete, dass ihr das nicht die eigentliche Antwort geben würde. Stattdessen sagte sie: „Ich habe ihn noch nie hier gesehen. Kommt er oft?“
„Nein, nicht oft.“ Mrs Titcum seufzte wieder. Es klang bedauernd. Babette am Herd schüttelte den Kopf. Auch das wirkte bedauernd.
In diesem Moment betrat Simon die Küche. „Wann gibt’s Mittagessen?“ fragte er mit einem Blick auf die Uhr. Das war merkwürdig. Mittagessen gab es immer um halb eins. Wer nicht da war, dem wurde etwas warmgehalten, aber das änderte nichts an den festgesetzten Essenszeiten. Aber Mrs Titcum antwortete: „Ich denke gegen halb zwei oder zwei.“
„Wir essen heute später?“ fragte Charly überrascht.
„Mister Erskine und Mister Cardiff werden essen, wenn sie mit ihren Geschäften fertig sind. Wir essen dann danach.“
Darauf konnte sich Charly keinerlei Reim machen, aber sie fragte nicht weiter nach, denn sie hatte das Gefühl, dass aus Mrs Titcum keine zufriedenstellende Antwort herauszuholen war. Simon verschwand wieder, und er musste Kenny und Paddy Bescheid gesagt haben, denn zur gewöhnlichen Essenszeit um halb eins erschien niemand in der Küche, dafür kam ab eins einer nach dem anderen herein und beschäftigte sich angelegentlich in der Küche. Um eins trug Celeste für Mister Erskine und seinen Gast auf, und Mrs Titcum lief ständig hin und her und kontrollierte jeden Teller, der die Küche verließ. Um sich zu beschäftigen, deckte Charly den Tisch für die Angestellten, und als Celeste und Mrs Titcum endlich beide zurück waren, stellte Babette den großen Topf auf den Tisch, und alle setzten sich zum Essen. Es entstand ein Gespräch, das hauptsächlich Paddy und Celeste bestritten und das Charly etwas fahrig und gekünstelt vorkam. Immer wieder gab es Pausen, während derer alle auf etwas zu warten schienen.
Als es an der Küchentür klopfte, fuhren alle Köpfe herum, und Charly bemerkte, dass sich Celeste rasch mit der Hand an den Kopf fuhr und den Sitz ihrer Haube überprüfte, dass Paddy sich aufrichtete und die Schultern straffte und Babette mit zwei, drei schnellen Bewegungen ihre Schürze glattstrich. Das alles passierte innerhalb der wenigen Sekunden, die Mrs Titcum brauchte, um sich räuspern und herein! zu rufen. Die Küchentür öffnete sich, und jemand steckte den Kopf durch den Spalt. Es musste dieser Luke Cardiff sein, denn Charly hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Im selben Augenblick verstand sie, warum er den gesamten Haushalt in helle Aufregung versetzte. Noch bevor sie sein Gesicht in allen Einzelheiten erfassen konnte, wusste sie, dass er der schönste Mann war, den die Welt je gesehen hatte.
„Oh verzeihen Sie“, sagte der Mann, der Luke Cardiff sein musste. „Ich wusste nicht, dass Sie beim Essen sind.“
In diesem Moment durchschaute Charly das Spiel noch nicht, aber später verstand sie, dass die Belegschaft von Grey Heron Hall immer genau dann beim Essen war, wenn Luke Cardiff sich verabschieden wollte, und was sie damit bezweckten.
„Ich wollte mich nur schnell verabschieden“, fügte er hinzu.
Mrs Titcum sprang sofort auf. „Möchten Sie sich nicht noch einen Moment setzen, Mister Cardiff?“ Sie machte eine einladende Handbewegung zum Tisch.
Als Celeste ebenfalls aufsprang und noch ein Gedeck aus dem Schrank nahm, sah Charly, dass sich diese Szene nicht zum ersten Mal abspielte. Jede Bewegung war exakt einstudiert, jeder kannte seine Rolle, auch Paddy, der seinen Stuhl zur Seite rutschte, damit Mister Titcum noch einen der Stühle, die sich an der Wand aufreihten, dazustellen konnte.
Luke Cardiff betrat die Küche, lachte und warf in gespielter Hilflosigkeit die Hände in die Luft. „Na, wenn Sie so fragen, meine liebe Mrs Titcum, dann kann ich ja gar nicht nein sagen.“
Er setzte sich neben Paddy, wo Babette ihm bereits einen Teller und Besteck hingelegt hatte. Als habe auch er seine Rolle schon viele Male gespielt, sagte er höflich: „Aber wirklich nur einen Löffel, Celeste“, als diese begann, ihm Suppe zu schöpfen. „Ich habe bereits mit Mister Erskine gegessen. Und es war wieder ganz wunderbar, wie immer, Babette. Ihre Küche ist immer ein Gedicht.“
Babette senkte schamhaft die Augen und kicherte. Charly hätte sich nicht gewundert, wenn sie noch einen Knicks gemacht hätte. Luke Cardiff begann mit großem Appetit seine Suppe zu löffeln. Nun hatte Charly Zeit, ihn genauer zu betrachten. Am auffälligsten waren sein flachsblondes Haar und seine Augen, die mit eigenartiger Strahlkraft regelrecht aus seinem Gesicht herausleuchteten. Erst später, als sie mehr Zeit und Muße hatte, ihn eingehend zu betrachten, bemerkte sie, dass sie unterschiedliche Farben hatten, das eine strahlend blau, das andere sanftmütig braun. Er hatte eine frische Haut und rosige Wangen, als sei er gerade von einem Spaziergang an der frischen Luft hereingekommen, was seinem sehr erwachsenen Gesicht einen jungenhaften Ausdruck verlieh und es schwermachte, sein Alter zu schätzen. Vielleicht war er dreißig, vielleicht jünger. Als er hereingekommen war, hatte Charly gesehen, dass er groß und schlank war, und er bewegte sich mit der geschmeidigen Kraft eines gut trainierten Pferdes. Sein Anzug saß wie angegossen; bestimmt war er maßgefertigt. Seine Hände waren schmal, mit langen, schlanken Fingern und gepflegten Nägeln. Man konnte gar nicht anders, als ihn unverwandt anzusehen. Ein Bild von einem Mann war die einzige Beschreibung, die auf ihn zutraf, und Charly verstand, warum sein Besuch ihre Kolleginnen kichern und an sich herumzupfen machte. Er war zweifelsohne der attraktivste, charismatischste und begehrenswerteste Mann, den sie je gesehen hatte.
Charly wäre am liebsten unsichtbar mit ihrer Umgebung verschmolzen und hätte ihn einfach nur angestarrt, aber es dauerte nicht lange, da sah er sie gerade heraus an und sagte: „Sie habe ich hier noch nie gesehen. Sie müssen Miss Ierschbach sein. Mister Erskine hat von Ihnen gesprochen.“ Über den Tisch hinweg streckte er ihr die Hand entgegen, die sie schüchtern ergriff und schüttelte. „Luke Cardiff“, fügte er hinzu. „Ich bin Mister Erskines Vermögensverwalter.“
„Charly Ierschbach“, stellte Charly sich vor.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen“, sagte Luke Cardiff und schenkte ihr ein Lächeln, von dem ihr ganz flau im Magen wurde.
Kaum hatte er ihre Hand losgelassen, wandte er sich wieder seiner Suppe zu und begann ein Gespräch mit Kenny über Autos. Offenbar war das Auto, das er fuhr, das neueste Modell, und Kenny interessierte sich sehr dafür. Stillschweigend wie immer, aber durchaus angeregt tat Babette ihm einen Gang nach dem anderen auf. Zwar protestierte er jedes Mal, dass er doch schon gegessen habe und das nun wirklich zu viel sei, aber auch das schien zum Spiel zu gehören. Er leerte jeden Teller, den sie ihm hinstellte, mit gesundem Appetit. Charly wusste zwar nicht, ob er wirklich so viel Hunger hatte oder nur aus Höflichkeit aß, aber sie verstand, dass man ihn fütterte, damit er länger sitzen blieb und sie unterhielt. Und er unterhielt sie vortrefflich. Sein Lachen füllte den Raum wie gleißendes Sonnenlicht, das noch bis in die dunkelste Ecke drang und alles warm und hell erscheinen ließ. Er sprach mit jedem. Er fragte nach ihrer Arbeit, als sei sie besonders interessant. Er erinnerte sich an Dinge, die sie ihm irgendwann einmal erzählt hatten. Er fragte nach persönlichen Angelegenheiten, über die sie sonst nie sprachen. Charly erfuhr, dass Simon eine Schwester hatte, deren Mann schon lange sehr krank und bettlägerig war, und sie schämte sich, dass sie sich nie die Zeit genommen hatte, Simon oder sonst irgendjemanden nach seiner Familie und persönlichen Umständen zu fragen. Die Stimmung am Tisch war gelöst, nahezu ausgelassen. Jeder nahm am Gespräch teil, sogar Mister Titcum, der sonst nie etwas sagte, und immer wieder gab es etwas zu lachen.
Mit Tee und Gebäck gelang es Babette, Luke Cardiff weit über eine Stunde am Küchentisch festzuhalten, ehe er verkündete, nun aber wirklich gehen zu müssen. Er erhob sich, schüttelte reihum allen die Hand, bedankte sich noch einmal bei Babette für das köstliche Essen und wurde dann von Kenny, der sich unbedingt noch einmal das Auto anschauen wollte, nach draußen begleitet. Als er die Küche verlassen hatte, wandten sich alle wieder ihren Aufgaben zu. Celeste ging Babette beim Abwasch zur Hand, Mrs Titcum entschwand irgendwo hin, Mister Titcum und Simon gingen Holz hacken und schleppten es in die Küche, und Paddy ging zurück zu seinen Pferden. Charly blieb noch einen Moment sitzen, sie hätte gerne noch weitere Fragen nach Luke Cardiff gestellt, aber sie merkte, dass niemand reden wollte. Alle hingen ihren Gedanken nach, aber alle trugen ein feines, glückliches Lächeln auf den Lippen, wie sie es noch nie bei ihren Kollegen gesehen hatte. Also erhob sich auch Charly und ging zurück in ihr Arbeitszimmer, aber sie schaffte es nicht, ihre Aufmerksamkeit auf die Zahlenkolonnen zu richten. Da nahm sie ihr Briefpapier hervor und schrieb einen langen Brief an Smarri, in dem sie jede Einzelheit über Luke Cardiffs Besuch festhielt. Sie schickte den Brief nie ab, sondern legte ihn in ihr Tagebuch, wo sie ihn jederzeit wieder würde hervornehmen und lesen können, wenn ihr danach war.