Читать книгу Asche zu Asche, Sterne zu Staub - Wiebke Schmidt-Reyer - Страница 8

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2Augustes arglose und ahnungslose Kindheit endete, da war sie dreizehn, als Severin heiratete und Mary Agnes ihre Jüngste unmöglich auch von der Hochzeit des eigenen Bruders fernhalten konnte, zumal die Braut darauf bestand, ihre junge Schwägerin zur Brautjungfer zu nehmen. Severins Braut Marianne war eine lebenslustige, herzliche und herzensgute Person und allseits beliebt. In vielerlei Hinsicht hätte sie ihrer zukünftigen Schwiegermutter höchst willkommen sein müssen, denn sie war eine Städterin, einer kunstinteressierten Familie entstammend und verhieß damit so etwas wie Weltläufigkeit, was in diesem alpenländischen Weiler sonst niemand besaß. Doch Mariannes Familie war mittellos, und ihr Ansehen und ihre Bedeutung waren rein geistiger Natur. Nicht nur, dass sie Severins Wohlstand nichts hinzuzufügen hatten, sie konnten sich auch nicht die Hochzeitsfeier leisten, die von Tradition wegen dem ältesten Sohn zustand und von den Eltern der Braut zu bezahlen war.

Mary Agnes haderte lange und bitterlich mit Severin, um diese Mésalliance mit einer gebildeten, aber armen Gutbürgerlichen abzuwenden und ihn zu einer gewinnbringenden, gesellschaftlich respektablen Eheschließung mit der Tochter eines benachbarten Bauern zu drängen, die das Fortbestehen des Hofes sicherstellen und seine Bedeutsamkeit mehren würde. Zu ihrer großen Enttäuschung erhielt sie dabei keinerlei Unterstützung von Johann, der die Brautwahl seines Sohnes überraschend wohlwollend hinnahm. Ob er zu desinteressiert, zu schweigsam oder vielleicht zu klug war, um Mary Agnes darauf hinzuweisen, dass sie sich ebenso den Wünschen ihrer Familie widersetzt und ihre eigene Wahl getroffen hatte, darüber wagte nie jemand zu urteilen. So schwieg Johann, Mary Agnes redete, und Severin setzte seinen Willen durch und heiratete Marianne.

Auguste hingegen hätte sich keine bessere Schwägerin vorstellen können. Auf Anhieb war sie von Marianne fasziniert; noch nie hatte sie jemanden wie sie gesehen. Nicht nur, dass sie sich kleidete wie in den Illustrierten – Auguste hatte immer gedacht, dass sich überhaupt niemand auf der Welt kleidete wie in den Illustrierten –, auch ihr Spitzname, allein schon die Tatsache, dass sie einen Spitznamen hatte, versetzte Auguste in basses Erstaunen. Marianne nannte sich Smarri und überließ die Menschen gerne ihren Spekulationen darüber, woher dieser seltsame, mal männlich, mal normannisch anmutende Name wohl kam. Die Wahrheit war, dass Marianne als Kind – wie alle kleinen Mariannen – s Mariandl genannt worden und Schwierigkeiten gehabt hatte, dieses komplexe Wortgebilde auszusprechen, sodass sie einfach nach den ersten zwei Silben aufhörte, wenn sie von sich selbst sprach.

Auguste hatte noch nie eine erwachsene Frau mit einem Spitznamen getroffen. Kinder hatten niedliche oder lustige Kosenamen; Männer nannten einander beim Nachnamen oder fanden irgendwelche Namen füreinander, die sich aus ihrem Wohnort, einer Eigenart oder einer lange zurückliegenden Peinlichkeit ableiteten. Dass Marianne sich Smarri nannte, verlieh ihr in Augustes Augen etwas Geheimnisvolles, fast schon Übernatürliches, so, als hätte sie zusätzlich zu der Person, als die sie auf die Welt gekommen und die auf den Namen Marianne getauft worden war, eine zweite Persönlichkeit geschaffen, über die sie ganz alleine bestimmen konnte und die Dinge tun konnte, die Marianne nicht tun konnte. Auguste hatte noch nicht einmal einen Kosenamen. Mary Agnes hatte die Namen ihrer Kinder mit Bedacht gewählt und immer peinlich darauf geachtet, sie ganz auszusprechen und nicht durch Abkürzungen zu verschandeln. Severin hatte nie Sevi oder Sevo sein dürfen, Leonie nie Lelo, Lonchen oder Leni, und ganz besonders gewehrt hatte sich Mary Agnes gegen das naheliegende Gusti. Auguste lag nachts oft wach und sinnierte darüber nach, wie es wohl wäre, selbst einen Spitznamen zu haben, wie dieser lauten würde und was zu tun er ihr erlauben würde. Nicht im Traum hätte sie während dieser schlaflosen Nächte daran zu denken gewagt, wie schnell ihr Wunsch schon bald in Erfüllung gehen würde.

Der Tag der Hochzeit war ein Samstag im Juli. Bereits mit den ersten Sonnenstrahlen fiel eine bleierne Hitze auf das Land, und ein elektrisches Knistern in der Luft verhieß ein heftiges Sommergewitter. Jeder Bauer und Landbesitzer hätte an diesem Tag heuen müssen, aber keinem der Geladenen wäre es in den Sinn gekommen, die Feier zu verpassen. Zu ungeheuerlich, zu vielversprechend war allein die Tatsache einer Hochzeitseinladung während der Heuernte und für einen Wochentag, den der Pfarrer mit Argwohn betrachtete, riskierte doch der Großteil der Gemeinde am Tag danach zu spät zur Messe zu erscheinen. Wer so etwas tat, besaß entweder großen Mut oder große Unwissenheit, und in beiden Fällen versprach es eine Feier zu werden, die man sich um nichts auf der Welt entgehen lassen durfte.

Schon vom frühen Morgen an brodelte es in der Küche in Töpfen und Kesseln. Ein unwiderstehliches Duftgemisch nach Gebackenem, Gebratenem und Gebrauten legte sich über den Hof und drang noch in seine letzten Winkel vor. Darunter mischten sich Gerüche von Leckereien, die niemand kannte und die jeder sofort kosten wollte. Der Duft zog weiter über die Felder und Wiesen auf die umliegenden Höfe und ins Dorf, bis er den gesamten Landkreis so sehr in Bann gezogen hatte, dass die Vögel das Singen vergaßen, die Kühe das Grasen und die Schmetterlinge sich sachte irgendwo niederließen, um sich mit sanften Flügelschlägen in den erstaunlichen Wohlgeruch einzuhüllen. Wer der Verlockung folgte und neugierig die große Tenne auf dem Hof der Ierschbachs betrat, wurde mit großem Hallo begrüßt. Die jungen Frauen an den Töpfen und hinterm Tresen bewirteten jeden Gast mit Kaffee und Gebäck, Käse und Wurst. Sie alle waren groß, stark und weizenblond wie nordische Göttinnen. Ihre langen Zöpfe wirbelten im Takt ihrer Arbeit, und sie bewegten sich flink und fröhlich, als wäre die Hitze vom Herd in der unmenschlichen Julihitze nicht mehr, als irgendjemand ertragen konnte. Niemand wusste, wer sie waren und woher sie kamen. Sie aber fragten keinen nach seinem Namen und kannten doch jeden, sodass niemand sich die Blöße gab, sie nach Namen und Herkunft zu fragen; man schämte sich, sie offenbar gekannt und es vergessen zu haben.

Gegen Mittag war die Tenne voll. Niemand hätte zu sagen gewusst, wie viele Menschen sich in und vor der Scheune drängten. Jede Sitzgelegenheit war belegt, und wurde ein Stuhl frei, standen sofort zwei Personen an, um ihn sich zu teilen. Familien organisierten sich, standen abwechselnd um Essen an und hielten sich die Plätze frei. Wer alleine gekommen war, setzte sich einfach irgendwo dazu. Wer vorne in der Schlange stand, nahm Bestellungen von hinten entgegen und forderte Gegenleistungen ein. Hatte man zu Beginn die Nichteingeladenen noch an ihrem leicht schuldbewussten Gesichtsausdruck erkannt, verwischten sich die Unterschiede bald. Niemanden kümmerte es, wer eingeladen war und wen die Neugierde geschickt hatte. Die blonde Heerschar teilte jedem Essen und Getränke aus, und egal, wie groß die Menge war, die sich am Tresen drängte, es war immer von allem da, und jeder bekam reichlich.

Als nach mehreren Stunden ein allgemeines Gefühl der Sättigung und der Höhepunkt der sommerlichen Hitze die Gesellschaft einzuschläfern drohten, riefen die Kirchenglocken zur Trauung. Dösig und verstört besann sich die Menge des eigentlichen Grunds der Feier – der Eheschließung –, der vor lauter Essen ganz in Vergessenheit geraten war. Ein wenig ratlos begann man, nach jemandem Ausschau zu halten, der einem sagen konnte, wohin man sich zur Trauung begeben sollte. Das Glockengeläut kam aus nächster Nähe, aber eine Kirche oder Kapelle gab es auf dem Hof nicht. Als das Stimmengewirr am lautesten und die Ratlosigkeit am größten waren, rief ein kleiner Putte, so drall, lichtblond und stark, dass er nur mit den nordischen Göttinnen gekommen sein konnte, mit klarer Stimme seht, der Bischof! und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Hügel. Und tatsächlich stieg von der Hügelkuppe herab eine rot gewandete Gestalt mit Stab und Mitra, gefolgt vom Pfarrer und einer Prozession von Diakonen, Ministranten und Postulanten. Dahinter folgten die Chöre zweier Kirchen und eine Phalanx von Fahnenträgern, dahinter wiederum die Blaskapelle und dann die schönsten und stärksten Stiere des Landkreises, geführt von den kräftigen jungen Männern, denen sie gehörten. Hinter den Stieren ging der Jodelchor, dahinter die Schützengesellschaft, und dann folgten die Falkner, ihre Tiere, denen sie die Augen verbunden hatten, damit sie nicht an die Jagd dachten, auf dem Arm tragend. Auf die Falkner folgten die Gespannfahrer mit ihren von eleganten Hackneys gezogenen Einspännern, ihren Landauern, in denen die örtlichen Würdenträger saßen und winkten, und ihren Brauereiwagen, gezogen von sechs massigen, glänzenden Füchsen. Dahinter gingen die Schuhplattler mit den riesigen Pinseln am Hut und pfiffen und juchzten, und dazu drehten und drehten sich die Dirndl, dass einem nur schon vom Zuschauen schwindelig wurde. Als farbenprächtiger Schlusspunkt gingen zuhinterst die Gaukler, Dirnen und Kesselflicker, die Säufer, Wanderprediger, Dichter, Seiltänzer, Tagelöhner und Landstreicher und alle die, die nicht zum offiziellen Geleit des Bischofs gehörten, aber stets in seinem Gefolge anzutreffen waren.

Diesem Zug aus über fünfhundert Personen und Tieren, der sich allein über fast einen Kilometer hinstreckte, schloss sich die Hochzeitsgesellschaft nun an und folgte dem Bischof zu dem Ort, an dem die Trauung stattfinden würde. Im großen Obstgarten der Ierschbachs kam der Zug zum Stillstand, und die kirchlichen Würdenträger, Sängerinnen und Sänger, die Fahnenträger, Musiker und Jodler, die Stierführer, Schützen, Falkner, Kutscher, Tänzer und das fahrende Volk verteilten sich unter den altehrwürdigen Apfel- und Birnbäumen, zwischen den Kirschen und Aprikosen. Die Gäste gesellten sich zu ihnen, blieben stehen oder setzten sich ins Gras, wie es ihnen beliebte. Die zwei Kirchenchöre, unterstützt von den Jodlern, stimmten ein Gloria an, und durch den Obsthain dröhnte das Orgelspiel, bis auch der letzte Gast andächtig verstummt war. Da holte die Orgel von neuem aus, unterstützt von den Bläsern, und der Bischof höchstpersönlich trat vor in den Schatten unter den Obstbäumen, ehrwürdig und gravitätisch, sodass die ganze Gesellschaft sich unwillkürlich erhob, sich ihm zuwandte und die Köpfe neigte. So sahen sie das Brautpaar erst, als es bereits über den weichen Grasteppich bis ganz nach vorne geschritten war, er schneidig in der prächtigen Uniform eines Regiments vom anderen Ende der Welt, sie barfuß und einer Wolke gleich in weißem Tüll und Taft, gefolgt von Blumenkindern, die, von ihren Eltern zu großer Vorsicht gemahnt, die Schleppe der Braut vor sich hertrugen, als wäre sie ein ekliges Tier. Die Orgel und die Bläser verstummten, und der Obstgarten füllte sich mit bewunderndem Gemurmel und geseufzten Ohs und Ahs zu Ehren des schönen Paars.

Eine prachtvollere, feierlichere und ehrwürdigere Trauung hatte der Landstrich noch nicht gesehen. Wer das Glück hatte, daran teilzunehmen, schätzte sich privilegiert und wiederholte noch jahrelang wieder und wieder die wundersame Geschichte für alle, die es nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, und auch, um sich selbst zu bestätigen, dass es so gewesen war. Am ungläubigsten war Mary Agnes, die es so sehr reute, dass ihr Erstgeborener unter seinem Stand heiratete. Die einzige, die sich über nichts wunderte, war Auguste, die es nicht besser wusste und für die alles, was an diesem Tag geschah, die einzig mögliche Wahrheit war.

Asche zu Asche, Sterne zu Staub

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