Читать книгу KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit - Wieland Barthelmess - Страница 5

Zum Mittelberg

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„Aufstehen, ihr Schlafmützen!“ Mutter klatschte mehrfach in die Hände und augenblicklich huschten und plapperten die Kinder durcheinander. Nur Perachta war es offensichtlich noch zu früh am Morgen – die Sonne war noch längst nicht aufgegangen -, so dass ihre Augen immer wieder zufielen und sie mehrfach wieder einschlief. Zärtlich nahm Mutter sie auf den Arm und setzte das schläfrige Kind zu den anderen an den Tisch. Für jeden hatte sie heute eine Schüssel mit herrlich warmem Haferbrei vorbereitet. Und in der Mitte jeder üppig mit grauem Brei gefüllten Schüssel schwamm ein kleiner goldener See aus Honig, auf dem eine eingelegte Walnuss prangte. Was für ein köstlicher Tagesanfang!

Musste die Mutter ihre Kinder während des Frühstücks ansonsten nur allzu oft antreiben, damit sie endlich aufäßen und schließlich ihr Tagewerk beginnen konnten, so hörte sie sich an jenem Morgen des Öfteren zur Ruhe mahnen. „Schling nicht so!“, sagte sie zu Njörd, warf aber auch ihren anderen Kindern einen entsprechenden Blick zu. Jord, als die Älteste, hatte sich - ob ihrer sich selbst zugesprochenen Vorbildfunktion - über ihr eigenes fahriges Verhalten derart erschreckt, dass sie sich prompt verschluckte und erbärmlich husten musste. Und schon trommelte Njörd seiner geplagten Schwester mit aller Kraft auf den Rücken. Augenblicklich kamen ihr die anderen Mädchen zur Hilfe und bändigten den unerwünschten Lebensretter, der, kaum war er mit vereinten Kräften wieder an seinen Platz gesetzt worden, seine Schüssel an die Lippen setzte und sich den Brei mit drei zu einer Schaufel geformten Fingern in den Mund schob. Fast wäre die hastig einverleibte Speise wieder in der Schüssel gelandet, als Mutters Hand klatschend auf Njörds Hinterkopf traf. „Du altes Ferkel“, schimpfte sie, gab ihm aber sogleich einen schmatzenden Kuss auf die Wange, da sie ein missgelauntes oder beleidigtes Kind an einem solchen Tag so überhaupt nicht brauchen konnte.

Vater, der soeben erst eingetreten war ‑ er war noch mit der Beladung des Karrens beschäftigt ‑ tat wie immer so, als hätte er von alledem nichts gesehen oder gehört. Eben so, als ob ihn all das Gezeter und Gequengel überhaupt nichts angingen. Und doch wussten die Kinder, dass sie es nicht allzu weit treiben durften. Denn sollte Vaters zur Schau gestellter Gleichmut erst einmal ein Ende gefunden haben, konnte es mit der aufgedrehten Ausgelassenheit ganz schnell vorbei sein. Was für ein schrecklicher Gedanke, wegen irgendeiner Unbotmäßigkeit hinter der Karre her trotten zu müssen und – für alle sichtbar! ‑ als Letzter im Dorf einzutreffen. Augenblicklich zeigten sich die Kinder von ihrer artigsten Seite.

„Nun denn…“, sagte Vater wie zu sich selbst und schnürte den Gürtel um sein schönes Fellwams, das er über dem blauen Feiertagskittel trug. Sofort verstanden dies alle als unmissverständliches Zeichen zum Aufbruch. Was zunächst wie ein heilloses Durcheinander aussah, da jedes der Kinder plötzlich ohne auch nur ein Wort zu verlieren hierhin rannte und dorthin, stellte sich schnell als klug überlegte Abreisevorbereitung heraus. Khor zog seinen neuen Kittel an, der fast genauso aussah wie der des Vaters: Blau und am runden Kragen sowie an der Außenseite der Ärmel mit einem schmalen Streifen heiliger Ornamente bestickt. „Ja“, murmelte Khor stolz, als er mit den Fingern über die Stickerei strich. „Richtig bestickt!“

Gewöhnlich trug man Alltags nur ein schlichtes blaues Hemd. Der Feiertagskittel jedoch, war an Kragen und Ärmeln mit einer üblicherweise hellblau und weiß bestickten Leiste geschmückt. Meistens tauschte man diese, üblicherweise von alten Weibern gefertigten Leisten auf dem Markt ein und die Schwestern nähten sie dann schließlich auf den Kittel. Hier aber, an diesem, seinem Feiertagskittel, hatte die Mutter bald ein Jahr lang gearbeitet und ihn selbst bestickt. Jedes einzelne der mehrfarbigen Ornamente berichtete ihm von dem Tag, an dem es entstanden war, von der Stimmung die damals im Hause geherrscht hatte, von mancher Niedergeschlagenheit, aber auch von viel Freude und Glück. Und Mutter war hartnäckig. Jeden Abend hatte sie sich den Kittel zumindest für ein paar Stiche vorgenommen. Geheimnisvolle Zeichen waren darunter, die Khor nicht recht zu deuten wusste, ähnlich jenen auf Vaters Kittel. Der hatte Mutter unendlich viel Zeit gekostet, so prächtig war er. Fast jeder im Dorf drehte sich seither nach dem stolzen Vater um. Nicht wegen des wertvollen Materials etwa. Nein, es gab bei ihnen keine Bernsteine, Glasperlen oder türkisfarbene Fayencen. Sondern man tat es allein, weil man staunte, welch schier unendliche Arbeit sich seine Frau damit gemacht haben musste.

„Mein schöner, lieber Sohn“, lächelte ihn Mutter an und strich Khor liebevoll über den Kopf. Freilich auch, um bei dieser Gelegenheit seine verstrubbelte Mähne ein wenig zu bändigen.

„Ich danke Dir sehr, Mutter. Wirklich sehr, für den schönen neuen Kittel …“, nickte Khor.

„Komm!“, hakte sie sich bei ihm unter. „Sonst sind wir beide es nachher noch, die hinter der Karre herlaufen müssen. – Und vergiss nicht, dir noch dein Fell überzuziehen.“ Und weil sie Khors aufbegehrende Miene vorausgesehen hatte, setzte sie sogleich hinzu: „Noch blühen die Schneeglöckchen nicht. Also dürfen auch die stärksten Männer noch Felle tragen.“

So setzte sich der bunte Zug schließlich in Bewegung. Vater rechts, Mutter links von der Deichsel. An ihrer Seite Khor und an Vaters Jord. Sunna und Narti marschierten rechts neben dem Wagen und die wie immer sich wegen dieser Paarung beschwerende Ertha war mit Njörd, dem Anlass ihrer Klagen, auf der linken Seite unterwegs. Mutter bereitete sich schon darauf vor, dass sie wohl so manches Mal ihr Geschirr würde ablegen und dazwischen gehen müssen. Denn die um ein Jahr ältere Ertha war ein kräftiges Kind und ihrem Bruder Njörd körperlich deutlich überlegen. Darüber hinaus war sie aber auch eines jener Mädchen, die sich nichts, aber auch gar nichts – und erst recht nicht von Jungs - gefallen ließen.

Mitten auf dem Wagen, Vater hatte die Holzkohle so geschickt aufgestapelt, dass eine kleine Vertiefung entstanden war, die sich als Sitz anbot, thronte Perachta. Die Plane, die er über die Holzkohle gebreitet hatte, war nichts anderes, als ein riesiger Flickenteppich aus zahllosen, jeden noch so kleinen Fitzel nutzenden Stoffresten längst abgetragener Hemden, zerschlissener Hosen und ausgedienter Kittel. Doch sie gab einen beeindruckend bunt gescheckten Hintergrund für die Jüngste ab. In ihren Wollmantel gehüllt, konnte man kaum mehr von ihr sehen als ihre freche Stupsnase, die bereits nach kurzer Wegstrecke rot wie der Schnabel eines Teichhuhns leuchtete. In sich gekehrt und geradezu Ehrfurcht gebietend wie eine der weisen Frauen, die abgeschieden in den Wäldern hausten, saß sie unbeeindruckt vom Gerumpel und Geschaukel des Gefährts auf ihrem Thron und spähte in die Ferne.

Schnell waren sie am Ufer der Uneströdu angelangt und mussten von nun an immer nur auf demselben Pfad bleiben, der dem Lauf des Flusses folgend seit Hunderten von Jahren von unendlich vielen Füßen, Hufen und Rädern ausgetreten und ausgewalzt worden war. Er würde sie geradewegs zum Mittelberg bringen. Mittlerweile hatte die Sonne bereits seit geraumer Zeit versucht, die Nebel zu vertreiben. Andernorts mochte es ihr gelungen sein, doch in der feuchten Flussniederung hielten sich die Schwaden fast bis zum Mittag. Bald schon, so dachte Khor, würde er hier wieder Frösche fangen und fette, feuchte Schnecken aus denen Mutter köstliche Speisen zu bereiten wusste.

„Mann!“ rief die auf ihrem erhöhten Ausguck thronende Perachta plötzlich und deutete mit äußerster Anspannung zu der vor ihnen liegenden großen Flussbiege. „Mann – einer!“, meinte sie noch einmal, hielt kurz inne und ließ sich dann entspannt in ihren Thron zurücksinken, um weiterhin auf dem Fuß ihrer Stoffpuppe herumzukauen. Ohne auch nur einen Schritt langsamer zu gehen, setzte die Köhlerfamilie ihren Weg in Richtung der bevorstehenden Begegnung fort.

Khor spürte, wie seine Hände feucht wurden. War es doch jedes Mal eine aufregende Angelegenheit, wenn man einem Fremden begegnete. Ist es Freund oder Feind? Khor war zwar noch niemals jemandem begegnet, der sich ihm gegenüber feindlich gezeigt hatte, aber dennoch waren die Erzählungen voll von fremden, wilden Männern, die sogar vor Raub und Totschlag nicht zurückschreckten. Also hatten die Eltern ihren Kindern beigebracht, stets auf der Hut zu sein, da man letztendlich nie wissen konnte, was der andere im Schilde führte. Dennoch galt es selbstverständlich, die Pflichten der Gastfreundschaft zu erfüllen und jene der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden. Außerdem war eine derart abseits lebende Familie für jedes fremde Gesicht dankbar, das sie zu sehen bekam. Khor wurde schon ganz aufgeregt, wenn er an all die Geschichten und Neuigkeiten dachte, die der Fremde sicherlich zu erzählen hatte. Und so war er fast ein wenig enttäuscht, als Vater unvermittelt die Rechte hob und winkte.

„Es ist Högr, der Salzbauer“, sagte Vater. „Wir werden bei ihm eine kurze Rast einlegen.“

Högr und seine Familie waren als die am nächsten bei Ihnen siedelnden Menschen so etwas wie Nachbarn. Wie oft hatte Khor schon diesen Weg zurückgelegt, um bei Högr Salz für die Familie einzutauschen. Ein wenig ärgerte er sich nun über seine Einfalt, hatte er doch tatsächlich einen Atemzug lang geglaubt, schon hier, an der großen Biegung der Uneströdu, an der die geheimnisvolle Salzquelle zu Tage trat, die Högr bewirtschaftete, bereits dem ersten Fremden zu begegnen. Freundlich wie immer begrüßte der Salzbauer die Köhlerfamilie.

„Ihr seid schon auf dem Weg zum Lenzfest?! Ich werde leider noch mindestens zwei Tage brauchen, um noch genügend Salz zu sieden. Es würde sonst gerade einmal für die fälligen Abgaben reichen und es bliebe nichts übrig, um noch ein paar sehr notwendige Dinge einzutauschen.“ Und tonlos fügte er hinzu: „Meine Frau liegt danieder.“ Khor meinte die blanke Furcht in Högrs Augen erkannt zu haben, als dieser den letzten Satz ausgesprochen hatte. „Ich bin hier, um Moos zu holen für sie. Wegen des Fiebers.“

„Die Geburt?“, fragte Mutter und zog Högr zwischen sich und Khor, straffte ihr Geschirr, was alle anderen ihr gleich taten und schon setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

„Ja“, nickte Högr. „Das Kind ist noch am selben Abend gestorben und liegt nun bei den anderen hinter der Hütte. Hilderuna hatte kaum Wochenfluss und ahnte wohl schon, was auf sie zukommen würde. Schon einmal, bei unserem zweiten Sohn, war sie ins Kindbettfieber gefallen. Aber das ist lange her und sie war damals noch eine junge, kräftige Frau. Dreizehn Kinder und mindestens ebenso viele Totgeburten fordern eben ihren Tribut.“

„Urd hat Hilderunas Schicksal längst schon vorbestimmt“, sagte Mutter beherrscht. „Sie wird weiterleben, wenn Urds Plan es so vorsieht. – Und sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist“.

Högr nickte stumm und wischte mit dem Handrücken schnell die Tropfen beiseite, die Angst und Leid aus seinen Augen getrieben hatten.

Obgleich der Umweg eigentlich nicht vorgesehen war, zogen sie selbstverständlich mit Högr, um nach der Kranken zu sehen. Schweigend und beklommen betraten alle die Hütte des Salzbauern. Khor zuckte unwillkürlich zurück als er eintrat. Ein unangenehm süßlicher Geruch erfüllte den überhitzten Raum. Es war der Hauch des Vergehens, der Auflösung und des Sterbens, den er zu riechen meinte. Umringt von ihren schweigenden, zum Teil still weinenden Kindern lag Hilderuna in ihrem Bett. Zitternd vor Fieber, mit hochrotem Kopf und weit aufgerissenen Augen lag sie da. Mutter war sofort zu ihr geeilt, strich ihr liebevoll über den Kopf - schon allein, um festzustellen wie heiß er denn sei – und hielt anschließend mit beiden Händen ihre glühende Rechte.

„Sie sind da“, phantasierte Hilderuna. „Sie sind gekommen, um mich zu holen!“

„Sei ganz ruhig, Hilderuna.“ Mutter nahm den stets an ihrem Gürtel baumelnden, geheimnisvollen Beutel ab und kramte darin, wie immer darauf achtend, dass niemand so recht einen Blick auf dessen Inhalt erhaschen konnte. Ein fein gewebtes, hauchdünnes und offenbar vollkommen neues Leinentüchlein kam zum Vorschein, in das sie winzige, blau-schwarze Körner streute sowie ein seltsames Pulver. Über diesem Inhalt faltete sie den Stoff nach oben, verdrehte ihn, so dass eine kleine Kugel entstand und band diese flink mit einem Stück Bast ab. Sie steckte die Kugel kurz in den Mund und durchnässte sie so gut es ging mit ihrem Speichel. Nach einiger Zeit, während der sie die feuchte Kugel auf Hilderunas Brust gelegt hatte, steckte sie die Medizin in den Mund der Kranken. „Und nun lutschst du das. Und ihr“, wandte sie sich an alle übrigen Anwesenden, „ihr lasst Hilderuna in Ruhe. Sie muss jetzt schlafen.“

Kurze Zeit darauf hatte dann schließlich auch Mutter die traurige Kate verlassen und legte wortlos ihr Ziehgeschirr wieder an.

„Sagt im Dorf Bescheid, dass ich erst in zwei oder drei Tagen komme“, bat Högr als alle es Mutter gleich taten und sich wieder vor den Karren spannten. „Nein, die Kinder bleiben alle hier und werden dieses Jahr nicht mit ins Dorf kommen“, beantwortete er die stumm fragenden Blicke der Freunde. Helgara, seine Älteste, schluchzte leise und konnte ihre Tränen nicht verbergen. „Ja“, seufzte Högr und umarmte seine weinende Tochter umständlich, „wir hatten eigentlich schönere Pläne für dieses Lenzfest. Aber Urd hat wohl andere Dinge mit uns vor.“ Gewollt heiter und ungelenk schüttelte er seine Tochter. „Dann bleibst Du eben noch ein bisschen bei mir und wir werden dann alle zusammen zum nächsten Herbstfest ins Dorf gehen.“

„Das, was ich deiner Frau gegeben habe“, sagte Mutter nüchtern, „wird ihr Fieber nicht senken können. Aber es wird ihre Schmerzen lindern. Und es wird sie ruhig schlafen lassen.“

Schweigend hatten alle längst wieder neben, vor und auf dem Karren ihre Plätze eingenommen. Khor war froh, dass man sich wieder auf den Weg machte, um endlich der Beklommenheit dieses Ortes zu entkommen. Er vergaß sogar seinen knurrenden Magen darüber. Noch lange konnte er Högr und seine Tochter ihnen nachblicken sehen. Er fühlte sich erbärmlich, weil er das Gefühl hatte, dass man diese armen Menschen sich selbst überlies, obwohl man ihnen hätte helfen müssen.

„Anderes war nicht mehr zu tun“, schien Mutter seine Gedanken zu erraten. „Den Morgen wird Hilderuna nicht mehr sehen.“

Khor hatte das Gefühl, als ob sein Blut augenblicklich gegen Eiswasser vertauscht worden sei. „Und dennoch lassen wir Högr allein?!“

„Was willst Du tun für ihn?“, kam Mutters kühle Antwort. „Willst Du ihm ein vierzehntes Kind sein? Meinst Du, das ist es, was er jetzt braucht? Willst Du ihn trösten? Das wird seine Helgara sicherlich besser können. Und seine Hilderuna wird er schließlich noch alleine unter die Erde bringen können. Niemand von uns kann ihm wirklich helfen. Wir könnten nur betreten daneben stehen und hilflos zuschauen wie Högr sein Schicksal meistert. Außerdem können wir es uns keinesfalls leisten, das Lenzfest zu versäumen, denn auch für einen jeden von uns hat Urd ihre eigenen Pläne. Ich werde ihr gleich morgen opfern, damit sie uns wohlgesonnen bleibt und anschließend Mutter Erde darum bitten, dass sie Hilderuna gütig aufnehmen möge.“

Khor wusste, dass seine Mutter trotz des alten Glaubens, dem sie anhing, im Grunde eine vernünftige und sehr überlegte Frau war. Aber diese vermeintliche Gefühllosigkeit, die nun aus ihr sprach, hatte Khor noch nie verspürt. Und dennoch ahnte er hinter all dieser Kälte ihre glühende Liebe der Familie gegenüber. Für ihren Mann, für ihre Kinder würde Mutter alles tun. Sogar eine Freundin alleine sterben lassen.

Bald hatte man die große Biege flussabwärts hinter sich gebracht, als die Sonne den Kampf gegen die Nebelgeister gewonnen und sie restlos vertrieben hatte. Vater und Khor hatten längst schon die Wämser abgelegt und Mutter sowie einige der Mädchen ihre Mäntel, als Mutter meinte, dass der Boden sehr viel besser sei als erwartet und man deswegen schon gut vorangekommen sei. Nachdem man ein halbwegs gemütliches und windgeschütztes Plätzchen am leise vor sich hinmurmelnden Fluss gefunden hatte, verteilte sie getrocknetes Fleisch, holte zur Freude und Überraschung aller schweres, schwarzes Brot aus einem Korb und hatte sogar einen Krug mit gewässertem Brombeersaft dabei.

Schnell war die Stimmung der Rastenden gestiegen, es wurde viel geschwatzt und bald schon wieder gescherzt und gelacht. Njörd brüllte wie ein Wahnsinniger einsilbige Phantasieworte, weil das Echo, das schließlich er verursacht hatte und das der Wald vielfach zurückwarf, ihn so sehr beeindruckte. Zwischendurch benutzte er seinen Wanderstock, um mit zusammengebissenen Zähnen auf imaginäre Feinde einzudreschen.

„Heiho!“, tönte plötzlich eine fremde Stimme aus dem Wald zurück, so dass alle aufsprangen. Njörd verstummte augenblicklich und lief mit angstverzerrtem Gesicht so schnell er nur irgend konnte zum Karren zurück.

Eine Gruppe von Menschen löste sich aus dem Forst und kam direkt auf die Rastenden zu. Vollkommen in Felle gekleidet, trug jeder von ihnen große Bündel auf dem Rücken. Ein Mann, zwei Frauen und vier oder fünf Kinder, die unter ihrer Last beinahe zusammenzubrechen drohten. Es war einer der Pelztierjäger mit seiner Familie, die auf dem Weg zum Lenzfest waren.

„Bror und Fricka! Ich freue mich, Euch zu sehen“, rief der Fallensteller, dessen ungekürztes Haupt- und Barthaar kaum etwas von seinem Gesicht erkennen ließ. Seine Haare hatten nahezu dieselbe Farbe wie die Kleidung aus Fuchsfell, die er trug, so dass er wie ein roter Dämon angestapft kam, gefolgt von seiner wohlgenährten, ebenso gekleideten Frau und ihren Kindern.

Khor erinnerte sich. Schon gelegentlich hatte er „den Roten“, wie nicht nur die Kinder ihn nannten, auf den Marktfesten mit seinem Vater sprechen sehen. Freilich ohne selbst je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Denn ohne von einem Erwachsenen in ein Gespräch eingeführt worden zu sein oder von ihrem Gegenüber direkt angesprochen zu werden, hatten Kinder zu schweigen und sich nicht in die Unterhaltung der Großen einzumischen.

„Hmmmmm“, schnalzte der Rote mit der Zunge und musterte Jord und Khor fast anmaßend. „Eure Ältesten sind ja schon richtig erwachsen geworden. Ganz so wie meine beiden.“ Und ohne Jord auch nur für einen Wimpernschlag aus den Augen zu lassen, nickte er in die Richtung seiner hinter ihm und seiner Frau stehenden Kinder. Was Khor zunächst als weitere Frau erkannt zu haben glaubte, stellte sich als die älteste Tochter des Roten heraus. Kaum älter als er machte sie allerdings einen überaus reifen und sehr weiblichen Eindruck auf ihn. Was Khors Gesicht offenbar auch allzu bereitwillig verriet und was der Rote mit einem Grunzen der Genugtuung zur Kenntnis nahm. Neben ihr zeigte sich der jüngere Bruder, ein lächerliches Etwas, wie Khor meinte: Rotschöpfig wie der ganze Clan ‑ mit einem verkrüppeltem Fuß und einem eigentümlich verdrehten Arm ‑ prangte auf dem schmächtigen Körper ein ungeheuer großer Kopf mit stechend grauen Augen und einer garstigen Adlernase.

„Na“, dachte Khor bei sich, „für so ein Gespenst wird der Rote eines Tages auch noch jede Menge Mitgift geben müssen – und das, obwohl er ein Sohn ist und eigentlich etwas einbringen sollte.“ Leicht irritiert stellte er fest, dass ihm plötzlich dieser widerlich süßliche Geruch in die Nase stieg, wie er von Menschen ausging, die sich lange nicht gewaschen hatten. Mutter schien es auch zu bemerken, denn ihre Nasenflügel blähten sich zu wahren Pferdenüstern, während ihr spöttisch-mitleidiger Blick die Neuankömmlinge musterte.

„Nun, wir sollten wieder aufbrechen“, sagte sie aufmunternd zu ihren Kindern und tupfte geziert mit dem Zeigefinger an ihre Nase. Khor kannte diese Geste nur allzu gut, die innerhalb der Familie eindeutig anzeigte, dass ein Bad angezeigt wäre. Sogleich packten alle zusammen und begaben sich zu den ihnen an der Karre zugewiesenen Plätzen. „Für Plaudereien haben wir leider keine Zeit.“

„Wir folgen Euch dann einfach“, grinste der Rote und glotzte unverhohlen auf Jords Hinterteil als sie sich nach ihrem Geschirr bückte. Und schon setzte sich der nun erheblich vergrößerte Zug wieder in Bewegung.

„Dass uns prompt diese Hinterwälder über den Weg laufen mussten!“ Mutter zerrte widerwillig an ihrem Geschirr, so als ob sie der nun hinter ihnen hertrottenden, stark nach Mensch riechenden Horde davonlaufen wollte. „Diese Leute haben einfach kein Menschentum. Wie sollten sie auch?! Hausen das ganze Jahr über in ihrer Jurte und bekommen keine anderen Gesichter zu sehen, als die der von ihnen gemeuchelten Tiere.“ Und schon stellte Khor sich eine unendliche Anzahl massakrierter Füchse mit heraushängenden Zungen und glasigen Augen vor, stattliche Bären mit eingeschlagenen Schädeln und blutüberströmte schwarz-weiße Dachse.

„Na, na“, mahnte Vater um Mäßigung.

„Aber waschen hätten sie sich doch wenigstens vor dem Lenzfest mal können“, schimpfte Mutter, während Vater der lieben Ruhe, teils aber auch der eindeutig nicht gerade wohlriechenden Wahrheit willen, schließlich seinen Beifall nickte.

Ja, was Unrat, Sauberkeit und Geruch betraf, war mit Mutter nicht zu spaßen, wie Khor aus eigener Erfahrung wusste. Sie stammte aus dem Dorf am Mittelberg und natürlich fühlte sie sich schon allein deswegen den in aller Einsamkeit lebenden wilden Gestalten überlegen. Da sie aber zudem aus einer der ältesten und angesehensten Familien des Dorfes kam, konnte diese ansonsten so herzensgute Frau bei entsprechender Gelegenheit zu einem geradewegs abschreckenden Beispiel an Überheblichkeit werden. Khor hatte sie vor einigen Jahren sogar einmal den Vater beschimpfen hören: Wie sie sich nur habe dazu herablassen können, den Sohn eines Köhlers zu heiraten. Vater hatte damals das Haus verlassen, ohne sich zu verabschieden. Es waren lange Tage des Bangens gewesen, bis er wiederkam und zu guter Letzt wieder alle Streitigkeiten ausgeräumt waren. Khor hatte zwar keine weitere Aussprache mehr mit anhören können, aber am Verhalten der Eltern spürte er nur allzu deutlich, wie es um die Stimmung zwischen den beiden bestellt war. Und als er dann eines Abends aus den Augenwinkeln sah, wie Vater verstohlen Mutters Hand küsste und anschließend vortäuschte, sie tüchtig aufs Hinterteil zu klatschen und Mutter ihm im Spaß mit dem Besen drohte, wusste er, dass nun wieder glücklichere Zeiten anbrechen würden. Ja, nichts hasste Mutter so sehr, als auf ihr Hinterteil gepatscht zu werden. „Bin ich ein Stück Vieh, das man sich gefügig machen will?!“, protestierte sie jedes Mal. Und eine der wenigen richtigen Ohrfeigen hatte sich Khor vor einigen Jahren von ihr eingefangen, als er meinte, sich diese Freiheit herausnehmen zu können. Es wurde kein einziges Wort jemals mehr darüber gesprochen. Zum einen, weil man ehedem nicht viel sprach – jedes Wort muss wiegen, denn jedes hat Gewicht – und zum anderen, weil beide Parteien damals einen stillschweigenden, immerwährenden Vertrag miteinander geschlossen hatten: „Patsche nie auf Mutters Hintern!“

„Aber sicher“, rissen Vaters Worte Khor aus seinen Gedanken, „schließt Euch nur an“. Ohne, dass Khor sie richtig wahrgenommen hatte, war einer der Bauern mit seiner Familie zu ihnen gestoßen, die irgendwo in den unendlichen Wäldern lebten, wo sie ein Stück Land gerodet hatten, um es zu bestellen. Auch sie zogen eine, wenn auch sehr viel kleinere Karre hinter sich her. Zwiebeln konnte Khor unter der Abdeckung erkennen und Säcke mit getrockneten Pilzen. Und roch es nicht auch nach geräucherten Würsten?

Schnell wurde die Köhlerfamilie zu den Anführern einer fast schon stattlichen Karawane, der sich im Laufe des Nachmittags noch weitere Reisende angeschlossen hatten. Wussten doch alle, dass eine größere Gruppe auf Reisen auch einen weitaus besseren Schutz bot. Denn dass in diesen Tagen zahlreiche Menschen auf dem Weg zum Mittelberg waren, oft sogar mit reicher Fracht, wussten auch die Herumtreiber, die Ausgestoßenen und Schurken, die nur auf eine möglichst gefahrlose Gelegenheit warteten, um sich an anderer Leute Arbeit bereichern zu können. Allerdings dürfte die Möglichkeit, sich solcherart die Wanderung mit Gesprächen und Neuigkeiten zu verkürzen, vor allem der Grund gewesen sein, warum man sich gerne anderen anschloss.

Kaum war die Dämmerung hereingebrochen, sah Khor in der Ferne bereits den aus mindestens einem Dutzend Hausdächern aufsteigenden Rauch des Dorfes, der die Hänge des Mittelbergs emporkroch. Dazu gesellten sich die ungezählten Feuerstellen der bereits angereisten Marktbesucher. Mit zunehmender Dunkelheit sah man immer häufiger Kienspäne oder Fackeln aufflammen, die den Wanderern zusätzlich den Weg wiesen. Längst hatte man auch im Dorf ihr Kommen bemerkt. Und selbstverständlich waren es die Kinder, die ihnen, wie allen Neuankömmlingen, als Erste lauthals rufend entgegengekommen waren und nun gaffend am Wegesrand standen. Gleich an der ersten, ein wenig abseits stehenden Hütte des Dorfes steuerte Vater die Karre aus der Bahn, während der nun führerlos gewordene übrige Zug, schweigend den letzten Rest seines Wegs fortsetzte.

Hier lebte der Schmied, dessen Werkstatt man wegen der von ihr ausgehenden Brandgefahr wie üblich nicht im Dorfkern duldete und der sich noch eifrig an der Glut seines Schmiedefeuers zu schaffen machte. Kaum war er der in der Dämmerung auf ihn zurumpelnden Karre gewahr geworden, als er schon den Hammer beiseite legte und mit ausgebreiteten Armen auf die Neuankömmlinge zuging.

„Ihr seid schon da?!“, rief er freudig. „Ich habe euch morgen oder übermorgen erst erwartet. Aber gut, dass ihr schon kommt, denn ich befürchtete bereits, dass meine Holzkohle bis dahin gar nicht mehr reichen könnte.“ Und unerwartet zärtlich schloss der verschwitzte Riese zunächst Mutter, dann Vater und schließlich ein jedes der Kinder in seine Arme. „Meine Base muss wohl auf gutem Fuß mit den Waldgeistern stehen“, meinte er stolz auf Mutter blickend, „denn Jahr um Jahr wird sie schöner. Und eure Kinder erst! Eines wohlgeratener als das andere.“ Selbst Perachta, die sich ansonsten eher zurückhaltend gegenüber Fremden verhielt, ließ sich bereitwillig von dem beeindruckend großen Mann mit den mächtigen Oberarmen herzen. Und dies sogar ohne wegen seines rußgeschwärzten Gesichts zu protestieren. „Dann kommt erst einmal herein und nehmt eine kleine Erfrischung zu euch, bevor ihr euch wieder auf den Weg macht. Und das Geschäftliche können wir auch gleich klären.“ Während die beiden Männer ihren Handel besprachen, lachten und scherzten fünfzehn aufgeregte Kinder sowie zwei nicht minder erhitzte Frauen, die gar nicht recht wussten, wo sie mit ihren Erzählungen anfangen sollten. Die Hütte des Schmieds brummte wie ein aufgebrachter Bienenstock.

„Nein, die eingetauschten Dinge nehme ich erst auf dem Rückweg mit“, entschied Vater als man sich über den Gegenwert seiner Holzkohle geeinigt hatte. „Ich brauche die Sachen alle selbst und will sie nicht weitervertauschen.“

Und da beide Seiten der Ansicht waren, ein gutes und ehrenhaftes Geschäft unter Verwandten getätigt zu haben, wurde dessen Abschluss mit einem Becher Met gefeiert, während die Kinder an ihrem wohltuend heißen und großzügig mit Honig gesüßten Waldminzetee nippten. Khor liebte solche Treffen mit Verwandten. Was hatte man sich nicht alles zu erzählen?! Der Klatsch der letzten Monate kam ebenso zur Sprache wie die Bastelanleitung für ein neues Spielzeug. Freilich drehten sich die Erzählungen der Kinder um ganz andere Dinge, als jene der Erwachsenen. Wobei diese allerdings darauf bestanden, das der Gesprächsstoff der Männer grundsätzlich ein gänzlich anderer sei, als jener der Frauen. Indes war Khor immer der Meinung gewesen, wenn er denn einmal die Gespräche miteinander vergleichen konnte, dass sie tatsächlich alle mehr oder weniger doch von denselben Dingen handelten, nur eben, dass sie mit anderen Worten und selbstverständlich ganz anderen Schwerpunkten vorgetragen wurden.

Er konnte regelrecht Vaters Bedauern in der Stimme hören, als der zum Aufbruch mahnte. Die Großeltern wussten sicher schon längst, dass sie bereits im Dorf waren und eine weitere Herauszögerung ihres Eintreffens wäre wenig ehrerbietig gegenüber den alten Leuten gewesen. Also brach man widerstrebend auf, nicht ohne einander zu versprechen, die Unterhaltung an einem der kommenden Tage fortzuführen und zu vertiefen.

Wie leicht der Karren sich nun ziehen ließ - obgleich es stramm bergauf ging. Vater hatte bestimmt die Hälfte der Kohle beim Schmied gelassen und nichts weiter aufgeladen. Also nutzte Njörd die Gelegenheit und hechtete in einem günstigen Augenblick auf den Wagen, wo er mit hochrotem Kopf und schwer atmend auf dem Rücken liegen blieb. Unbemerkt hatte er von Tante Nartis Met stibitzt. Und da es ihm so leicht gefallen war, hatte er es gleich mehrfach wiederholt. Bis ihn seine Schwester Ertha auf frischer Tat dabei ertappt hatte und er sie nur mit Mühe und Not davon abhalten konnte, lautstark auf den Frevel hinzuweisen. Erthas erster Versuch, das Vergehen des Bruders ruchbar zu machen, wurde nämlich von Mutter, die überhaupt nichts von dem Geplärr ihrer Tochter verstanden hatte, noch halbwegs freundlich beendet ‑ „Nun schrei doch nicht so, Kind!“ ‑, während der zweite eine flinke Kopfnuss zur Folge hatte. „Du sollst doch nicht immer dazwischenquatschen!“ Mutters ungeteilte Aufmerksamkeit galt nur Tante Nartis Erzählungen. Also entschloss sich Ertha, ihr kleines Geheimnis für sich zu behalten. Irgendwann würde sie es schon noch gewinnbringend eintauschen können, überlegte sie und sprang kurzerhand ebenfalls auf den Wagen. „Du bist ein ganz schlimmer Bub, Njörd“, dozierte sie. „Wer weiß, wo du eines Tages noch enden wirst“, setzte sie altklug hinzu und ordnete voller Hingabe die Falten ihres Mantels, während Njörd mit rotem Kopf bereits tief schlummerte. Vater hatte die beiden blinden Passagiere längst bemerkt, ließ sie aber gewähren, da sie ja den ganzen langen Tag über so tapfer gelaufen waren. Seine Fricka, das wusste er, würde dies aus Gründen der Gleichheit unter den Geschwistern keinesfalls dulden. Sie gab sich wirklich redlich Mühe, keines der Kinder zu bevorzugen.

Mutter hatte von alledem nichts bemerkt, war sie doch viel zu sehr damit beschäftigt, bekannte Gesichter zu entdecken, als sie durch das Lager der zum Lenzfest angereisten Menschen zogen, das sich bereits in einem Halbkreis um das an den Hängen des Mittelbergs liegenden Dorfes gebildet hatte. Man merkte der Dorfstraße an, dass viele Menschen und Wagen sie in den letzten Tagen benutzt hatten, so aufgeweicht und durchfurcht wie sie war. Vater fluchte sogar markerschütternd, als er an einer der größeren Pfützen ausrutschte und hinzufallen drohte.

„Die Kinder sind da!“, rettete Großmutters Rufen die gute Laune, die gerade umzukippen drohte. „Die Kinder sind endlich da!“

Klein und rund stand sie in der Tür ihres Hauses und ruderte mit den Armen wie eine ertrinkende Ente. Kaum dass sie ihren Satz zu Ende gebracht hatte, trat Großvater heraus, gefolgt von seinem ältesten Sohn und dessen sechsköpfiger Familie sowie sämtlichen Knechten und Mägden des Haushalts.

Bis spät in die Nacht tönte an diesem Abend munteres Schwatzen und Lachen aus dem Langhaus der Großeltern, das eines der größten im Ort war. Das an allen Ecken und Kanten abgerundete Reetdach, dessen Form an einen auf zwei Reihen von je sechs Stangen aufgespießten, ungebackenen riesigen Brotfladen erinnerte, endete knapp vier Ellen über dem Boden, wo es sich auf eine mit Gras ausgefüllte doppelte Reisigwand stützte, die sowohl innen als auch außen mit Lehm verputzt war. Khor liebte es, über den erstaunlich glatten Lehmverputz zu streichen, konnte man doch fast meinen, dass es die Haut eines riesigen gemütlichen Lebewesen war, das die Bewohner bereitwillig in sich aufnahm und sorgsam wärmte und behütete. Die vorwiegend dunkelrote Bemalung des Verputzes, der zum Teil mit überaus raffiniert miteinander verwobenen Ornamenten in helleren Rot- und Gelbtönen geschmückt war, wurde in den zwölf Stützpfeilern und mindestens doppelt so vielen Querbalken fortgeführt und verstärkte die Wirkung, als ob man sich im Bauch eines riesigen Tieres befand. Und die überreich verwendeten, prächtigen Stoffe taten das Ihre dazu. Zudem schufen sie diese eigentümlich vertrauliche Raumstimmung, indem sie den Tönen alles Laute und Grelle nahmen. Zwei der Pfeiler – sie markierten den persönlichen Bereich der Großeltern ‑ waren im Laufe der Generationen zu reich verzierten Schmucksäulen herausgearbeitet worden. Stundenlang konnte sich Khor mit ihnen beschäftigen. Gab es doch dort, in dieser geschnitzten, bemalten und intarsierten grenzenlosen Welt so viel nie zuvor Gesehenes zu entdecken. Geschnitzte Drachen drohten einem möglichen Eindringling, stilisierte Falken stellten sich als Stützen für die Querbalken zur Verfügung, dort jagten Krieger einen Eber und hier lag ein Paar eng umschlungen in seinem Bett. Anlässlich jedes Besuchs bei den Großeltern hatte Khor eine neue Einzelheit entdeckt, die er bislang im Gewirr der Ornamente übersehen hatte. Irgendein Unzufriedener hatte vor langer, langer Zeit am untersten Ende einer der Säulen sogar die hockende Rückenfigur eines sich gerade Erleichternden hineingeschnitzt. Sein Hinterteil glänzte schon ganz blank, da man seit Generationen glaubte, dass es Glück brachte, wenn man es streichelte. Natürlich waren die Kinder bei ihrem Eintreffen – selbstverständlich erst nach der geziemenden Begrüßung der Großeltern und aller anderen Mitbewohner des Hauses ‑ sofort dorthin gerannt, um das Unaussprechliche wieder einmal mit eigenen Augen zu bestaunen. Sie kicherten albern wie jedes Mal und freuten sich insbesondere über den detailliert ausgeführten kleinen Haufen unter dem Hinterteil ihres Ahnen.

An den Außenwänden, dort, wo sie das Dach stützten und ein Erwachsener sowieso nur noch knien konnte, waren die Schlafstellen, die man mit an den Stützbalken befestigten Stoffbahnen voneinander abgeteilt hatte, so dass jeweils im linken sowie im rechten Teil des Hauses eine regelrechte Flucht von Räumen aus Stoffwänden entstanden war. Wie reich waren diese eigens zu diesem Zwecke hergestellten Vorhänge bestickt! Khor war sich sicher, dass dort echte Goldfäden eingewebt waren, traute sich aber nie recht, danach zu fragen, um nicht als habgierig zu erscheinen. Aber auch ohne Goldfäden waren sie derart prächtig und üppig geschmückt, dass Khor mit seinen Augen stundenlang über sie wandern konnte und immer wieder neue Wunder entdeckte. Die beiden jeweils auf halber Höhe des Daches verlaufenden Holzpfeilerreihen teilten das Haus in seiner ganzen Länge in drei Schiffe auf: Während das Linke sowie das Rechte jeweils den Schlafnischen vorbehalten waren, blieb die Mitte des Hauses ‑ genauso wie der Dorfanger inmitten einer Ansiedlung ‑ allen Bewohnern frei zugänglich. Zudem waren die beiden mittleren Nischen nicht vom Mittelschiff abgeteilt worden, so dass genau dort, im Zentrum des Hauses, wo auch die Feuerstelle war, sich der Familientreffpunkt befand.

Noch lange war man in dieser Nacht am Feuer gesessen und hatte einander alte und neue Geschichten erzählt. Njörd war der Erste, der zur Verwunderung der Eltern fest eingeschlafen war, wussten sie doch nichts von seinem geheimen Metgenuss. Vorsichtig wurde er vom Vater in die den Besuchern bereitgestellte Schlafnische getragen, die jener der Großeltern gegenüberlag. Üblicherweise wurde sie von Frickas Bruder und seiner Familie bewohnt. Zu Ehren des Besuches hatte man sie jedoch bereitwilligst geräumt. Es waren nämlich die jeweils hintersten Nischen, die wegen ihrer Nachbarschaft zum rückwärtigen Teil des Hauses, wo das Vieh untergebracht war, in den noch immer kalten Nächten am meisten Wärme versprachen. Dass die Großeltern dort wohnten, war selbstverständlich, denn althergebracht schlief jeder Hausherr neben seiner Stallung. War ihm doch daran gelegen, auch des Nachts in der Nähe seines wertvollsten Besitzes, nämlich des Viehs, zu sein. Großvater behauptete immer, dass er zudem am Schlaf der Haustiere feststellen konnte, wie der nächste Tag werden würde. Neben einigen Schafen, die wegen ihrer offensichtlichen Gleichmütigkeit von den Kindern für leidlich blöde und wenig unterhaltsame Geschöpfe gehalten wurden, gab es drei Ziegen, die man tunlichst mied, da man nie wissen konnte, ob sie einen im nächsten Augenblick nicht mit einem schmerzhaften Rempler überraschten. Bei den Auerochsen musste man sich ebenfalls vorsehen, zu groß war ihre Kraft, als dass ein selbst unbeabsichtigter Knuff gänzlich ohne Verletzung ausgegangen wäre. Die Schweine allerdings, obwohl es die Erwachsenen gar nicht gerne sahen, waren die liebsten Spielgefährten der Kinder. Spätestens wenn die Kinder es so weit trieben, dass die Tiere anfingen, lauthals zu quieken, gingen die Eltern jedoch dazwischen. „Das gibt nur zähes, festes Fleisch, wenn ihr ihnen so zusetzt!“, kam jedes Mal die Ermahnung, warum dieser Spaß zu unterbleiben hatte. Doch ungeachtet eines drohenden Festtagsbratens mit zähem Fleisch hatte Perachta, ihrem überschießenden zärtlichen Gefühl folgend, tatsächlich eines der Ferkelchen mit sich ans Feuer gezerrt, wo die gesamte Familie schwatzend beisammen saß. Allein weil alle viel zu sehr beschäftigt waren mit dem Austausch der Neuigkeiten, aber auch wegen der Tatsache, dass das Ferkel sich dieser freundschaftlichen Entführung noch nicht einmal andeutungsweise widersetzte, ja, sie sogar wohlig zu genießen schien, war zu verdanken gewesen, dass niemand der Erwachsenen einschritt, um das Tier wieder zu entfernen. Auf ihrem bequemen Sitzpolster aber war Perachta an ihrem Daumen nuckelnd alsbald eingeschlafen, während das Ferkelchen in ihren Armen zufrieden und schließlich Aufsehen sowie Belustigung erregend schnarchte. Perachta war somit die Nächste, die vom Vater ins Bett befördert wurde, selbstverständlich erst, nachdem er das Schwein an den ihm zugedachten Ort verfrachtet hatte.

Eines nach dem anderen waren die Kinder eingeschlafen, selbst die Knechte und Mägde hatten sich schon zurückgezogen ‑ warteten doch eine Reihe von so langen wie anstrengenden Tagen auf sie ‑, so dass nur noch die Großeltern, der Hoferbe und seine Frau, Fricka und ihr Mann sowie deren beiden Ältesten, Khor und Jord, am langsam verlöschenden Feuer saßen. Großmutter summte ein uraltes Lied, das in seiner altertümlichen Sprache von dem fernen Sehnsuchtsort Urukuru erzählte, aus dem die Vorfahren einst hierher gekommen waren und das Wissen um den Ackerbau mitgebracht hatten. Jenes Urukuru lag unerreichbar fern, irgendwo zwischen zwei großen Flüssen, die das Land reich und fruchtbar machten. An diesem Ort gab es keine dunkle, kalte Jahreszeit, jeden Tag schien die Sonne - und Schnee sowie Eis waren gänzlich unbekannt. Niemand musste sich dort krumm schuften, so fruchtbar war die Erde und die Wälder waren übervoll mit Hirschen und Wildschweinen, so dass es ein Leichtes war, jeden Tag ein Festmahl aufzutischen. Trotz allen Reichtums aber, so schloss das Lied selbst für den sehnsuchtsvollsten, ja, vielleicht sogar neidischen Zuhörer versöhnlich, mussten auch die Bewohner Urukurus eines Tages sterben, so dass selbst sie, die Glücklichsten unter der Sonne, den Weg allen Fleisches gingen.

Großvater kündigte an, dass er den Besuchern gleich morgen sein Haus für die Ewigkeit zeigen wolle, das zu bauen er schon drunten in der weiten Flussebene angefangen hatte und das ihm und seiner Frau, ausgestattet mit allen Dingen des täglichen Lebens, eines Tages als Heimstatt für ihren Aufenthalt in der Anderwelt dienen würde. Khor hatte schon zahlreiche dieser Hügelgräber gesehen, die für alle Zeiten von der Bedeutung ihrer Erbauer berichteten. Aber natürlich wusste er auch, dass sein Vater diesem alten Glauben nichts abgewinnen konnte. Auch Vaters Vorfahren hatten sich vor Generationen in diesem Landstrich niedergelassen und den Glauben an die Sonne als einzig wahre Gottheit mitgebracht. Um in die Anderwelt zu gelangen, ließen sie sich nicht mit ihrem Hausrat oder gar ihren Leibeigenen in einem riesigen Grabhügel bestatten, sondern taten genau das Gegenteil: Sie ließen ihre Körper verbrennen, um sich von allem Dinglichen dieses Lebens zu befreien und um die Sonne mit der Hitze ihres den Flammen übereigneten Körpers zu nähren. Vor vielen, vielen Jahren hatte es noch blutige Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der beiden Glaubensrichtungen gegeben. Im Lauf der Zeit jedoch hatte man gelernt, friedlich mit- und nebeneinander zu leben, so dass es manchmal sogar – wie in Khors Familie ‑ vorkam, dass es selbst innerhalb einer Sippe die unterschiedlichsten Anschauungen gab.

Vater hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er die uralte Sitte, auch die Diener und Leibeigenen sowie einen Großteil des Viehs mit in den Tod zu nehmen, schlichtweg für barbarisch hielt. Glücklicherweise hielten aber auch die Großeltern nichts davon und beschränkten sich darauf, Bier, Met und Lebensmittel in lediglich symbolischen Mengen für ihren Aufenthalt in der Anderwelt bereitzuhalten. Gemeinsam war allen Glaubensrichtungen jedoch die Zuversicht auf ein Weiterleben nach dem Tode. Sei es mit den in den Hügelgräbern bestatteten und so in die Anderwelt hinübergeretteten Körpern oder eben als körperlose Geistwesen, die durch das Feuer von allen irdischen Beschwernissen befreit, endlos in Raum und Zeit in ihrer endgültigen Daseinsform existierten. Vater hatte Khor einmal den Körper eines erschlagenen Fremden gezeigt, dem man im Wald aufgelauert, ihn beraubt und schließlich ermordet hatte. „Meinst Du wirklich“, hatte er ihn damals gefragt, „dass dieser stinkende Klumpen Fleisch und Knochen im Schattenreich weiterleben wird?“ Und voller Mitgefühl hatte er dem Erschlagenen einen letzten Dienst der Mitmenschlichkeit erwiesen, indem er ihn auf einem eilig errichteten Scheiterhaufen verbrannt hatte.

Khor lag noch lange wach und dachte über vieles nach: War doch das Ende seiner Großeltern genauso abzusehen, wie das seiner Eltern - aber auch das seine. Er grübelte darüber, dass das irdische Dasein viel zu kurz war, um all die Dinge zu erforschen, die ihn doch so brennend interessierten. Seit er klein war, träumte er davon, eines Tages Urukuru zu finden und die Sage zur Gewissheit werden lassen. Und wenn er einmal seine eigene Familie hätte, wollte er in einem ebenso schönen Haus leben wie die Großeltern. Er würde dafür sorgen, so hatte er sich fest vorgenommen, dass seine Eltern sowie Geschwister ihr irdisches Leben ohne Mühen und Plagen genießen können. Morgen aber würde er mit den Eltern zunächst die übrigen Verwandten besuchen und sich dann erst einmal gründlich im Dorf sowie im Pilgerlager umsehen. Es würden bestimmt auch wieder jede Menge Gaukler und Schausteller gekommen sein. Ja, und vielleicht würde er ein wenig mehr davon in Erfahrung bringen können, was die Priester ihn denn wahrscheinlich alles fragen werden, wenn er ihnen schließlich vorgestellt werden würde. „Aber bis dahin“, grunzte er entspannt, „werden noch ein paar Tage vergehen …“ und zog das wohlig warme und weiche Schlaffell bis unter die Nasenspitze, das so eigentümlich wie wohlig nach Großmutter roch.

KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit

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